Dienstag, Oktober 1

Eine Türkin mit Schweizer Tochter will in die Schweiz ziehen, erhält aber keine Bewilligung. Zu Unrecht, sagt das höchste Gericht des Landes in einem Grundsatzentscheid.

Eigentlich ist es ganz einfach: Eine Schweizerin, die im Ausland lebt, will in die Schweiz ziehen und sich mit ihrer Familie hier niederlassen. Sie hat dazu als Staatsbürgerin jedes Recht. Die Bundesverfassung garantiert ihr die Niederlassungsfreiheit.

Und doch – und da wird die Sache kompliziert – verunmöglichen ihr die Zürcher Behörden diesen Schritt.

Denn die Schweizerin, um die es geht, ist 15. Sie ist in der Türkei geboren und aufgewachsen, als Tochter eines Schweizers und einer Türkin. Ihre Mutter hat das Sorgerecht über sie, der Vater zahlt soweit bekannt keine Alimente. Und ohne Mutter kann und will die Teenagerin nicht in die Schweiz, wo sie sonst niemanden hat, der sich um sie kümmern kann.

Also beantragt die Mutter eine Einreisebewilligung beim Zürcher Migrationsamt. Sie ist Chemietechnikerin von Beruf, hat in der Schweiz eine Stelle in Aussicht und früher bereits einmal für vier Jahre im Land gelebt, ohne negativ aufzufallen.

Doch die Behörden – das Migrationsamt, die Sicherheitsdirektion und schliesslich auch das Zürcher Verwaltungsgericht – verweigern ihr die Einreise.

Rechenfehler «nicht zu übersehen»

Die Türkin habe, so die Begründung, keinen Anspruch, in der Schweiz zu leben. Es bestehe «ein nicht unerhebliches Risiko», dass Mutter und Tochter in der Sozialhilfe landen würden, heisst es im entsprechenden Urteil des Verwaltungsgericht. Denn: Sie werde bei ihrem Stundenlohn von 25 Franken «gerade 3740 Franken brutto pro Monat» verdienen.

Das Fazit des Urteils: Das öffentliche Interesse an der Verweigerung des Aufenthaltes sei «erheblich». Der Tochter dagegen sei es «trotz deren Schweizer Staatsbürgerschaft zumutbar, in der Türkei zu verbleiben». Ja, es sei mit Blick auf das Kindeswohl gar besser.

An dieser Haltung übt das höchste Gericht des Landes, das Bundesgericht, nun scharfe Kritik. Das geht aus einem am Freitag veröffentlichten Urteil hervor. Dieses ist für die Zürcher Behörden ein peinlicher Rüffel. Es ist aber auch ein Grundsatzentscheid mit Folgen über den Einzelfall hinaus.

Da ist zunächst die Sozialhilfe-Abhängigkeit: Die Annahme, dass diese drohe, sei schlicht «willkürlich», kritisiert das Bundesgericht. Die Zürcher Behörden hätten bei ihren Berechnungen zum Lebensunterhalt der Familie Fehler gemacht, die «nicht zu übersehen» seien.

Die Miete war zu hoch angesetzt, die Familienzulagen wurden vergessen und Verpflegungskosten angenommen, wo keine nötig waren – so dass es am Ende aussah, als könne die Familie vom Lohn der Mutter nicht leben. Könne sie aber durchaus, sagt das Bundesgericht.

Zwei Grundrechte verletzt

Dazu kommen die Grundrechten der Tochter: Als Schweizerin hat sie das Recht, sich hier niederzulassen, wo sie will. Ausserdem gilt für sie das Recht auf Familienleben, das in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert ist. Dazu gehört insbesondere, dass sie mit ihrer Mutter aufwachsen darf.

Aber, argumentiert das Bundesgericht, diese zwei Rechte führten in einem Fall wie diesem zu einem Problem: «Die Tochter kann von ihrer Niederlassungsfreiheit nur dann tatsächlich Gebrauch machen, wenn sie auch die Möglichkeit hat, ihrem Alter entsprechend in der Schweiz zu leben.» Das heisst: mit Mutter.

Und das wiederum heisst: Die Tochter – obwohl Schweizerin – «teilt das ausländerrechtliche Schicksal ihrer sorgeberechtigten Mutter».

Diese Ausgangslage ist häufiger, als es scheinen mag. Sie gilt auch, wenn ein Schweizer Kind in der Schweiz bei einem ausländischen Elternteil lebt und dieser die Aufenthaltsbewilligung verliert. In solchen Fällen, werde das Kind «faktisch gezwungen, auszureisen oder im Ausland zu bleiben», schreibt das Bundesgericht.

Es kritisiert, dass die Zürcher Behörden diese Verkettung von Grundrechten im vorliegenden Fall nicht genug berücksichtigt haben. Es gebe keinen Grund, diese Rechte einzuschränken, insbesondere da die Gefahr einer Abhängigkeit von der Sozialhilfe gering sei. Zudem sei es «im öffentlichen Interesse, wenn die Tochter so bald wie möglich in die Schweiz kommt und sich hier integriert».

Einwanderungspolitik ändert nichts

Deshalb dürfen Mutter und Tochter nun, zwei Jahre nach ihrem ersten Gesuch, in die Schweiz reisen und sich hier niederlassen. Das Zürcher Migrationsamt muss der Mutter eine Aufenthaltsbewilligung erteilen. Dessen Verweigerung war laut Urteil rechtswidrig.

Es ist das erste Mal, dass das Bundesgericht sich mit einem solchen Fall befasst. Entsprechend dürfte das Urteil Signalwirkung haben: Wenn ein Schweizer Kind mit einem ausländischen Elternteil im Ausland lebt, hat es von nun an gute Chancen, mit ihm in die Schweiz ziehen zu dürfen.

Die Grundrechte des Kindes können den Eltern dabei selbst dann eine Aufenthaltsbewilligung bescheren, wenn sie streng nach Ausländerrecht keine bekämen.

Auch das öffentliche Interesse nach einer restriktiven Einwanderungspolitik, so das Bundesgericht, könne diese Rechte nicht einfach so übersteuern.

Urteil 2C_273/2023 vom 30. Mai 2024.

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