Mittwoch, November 27

Es sind nicht allein die Rohstoffe Erdöl und Erdgas, die Russland am Laufen halten. Eine ebenso wichtige Rolle spielt der Wodka. Was vor 500 Jahren unter den Zaren begann und mit Gorbatschow eine kurze Unterbrechung erfuhr, hat bis heute nicht aufgehört.

Grundsätzlich haben Spirituosen als Genussmittel und Droge nichts mit Erdöl zu tun. Es sei denn, Alkohol könnte als subventionierter Biosprit Benzin ersetzen und das Autofahren klimafreundlicher machen. Doch in Russland als Rohstoffstaat hatte Wodka stets viel mehr mit Erdöl gemeinsam, als man denken könnte. Denn ebendieser Wodka, also der verdünnte Alkohol, wurde bereits vor fast 500 Jahren der erste und unersetzliche «Rohstoff», der den staatlichen Fiskus mit üppigen Einnahmen füllte und die Autokratie mit ihrem Unterdrückungsapparat und ihren militärischen Unternehmungen am Laufenden hielt.

Seit Einführung staatlicher Schenken (Kabaken) in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, wo man lediglich trinken konnte, nicht aber essen durfte, förderte die Krone die Alkoholabhängigkeit ihrer Untertanen, die als Geldpumpe funktionieren sollte. Nicht allein der Fiskus profitierte davon. Die Zarin Katharina die Grosse, in deren Regierungszeit der Wodka-Handel fast die Hälfte der Staatseinnahmen ausmachte, war sich auch der politischen Vorzüge der Trunksucht bewusst. «Ein betrunkenes Volk ist einfacher zu regieren», frohlockte die Anhängerin französischer Aufklärer. Nicht zuletzt mit enormen Wodka-Einnahmen gelang es dem aufstrebenden Imperium, das Osmanische Reich zu besiegen, Kolonien am Schwarzen und am Asowschen Meer zu gründen und dort verschiedene Ethnien anzusiedeln: Deutsche, Griechen, Juden.

Staatlicher Trinkzwang

Bereits nach der Begründung der Romanow-Dynastie Anfang des 17. Jahrhunderts war eine Art Planwirtschaft eingeführt worden, die stets wachsende Vorgaben für die Wodka-Einnahmen machte und diese mit Korruption der Beamten und Gewalt an Konsumenten verknüpfte. «Alle Opfer des Trinkgeschäfts wurden zum ‹prawesch› – der Prügelstrafe – zusammengetrieben», schrieb der erste Historiker der Trunksucht, der Volkskundler Iwan Pryschow, in seiner «Geschichte der Kabaken im Zusammenhang mit der Geschichte des russischen Volkes» (1868). «Am Prügelplatz standen Kabakenvorsteher (. . .) und jene von ihnen Ausgewählten, aus denen dann die Gewinnausfälle herausgeprügelt wurden. Auch die Kabaken-Opfer waren da, die Trunkenbolde. (. . .) Zum ‹prawesch› wurden alle, sowohl Weltliche als auch Geistliche, getrieben, ganze Dörfer, von denen man gnadenlos Geld einstrich.»

Die infolge des staatlichen Trinkzwangs entstandene Massentrunksucht förderte Gewalt, Willkür und Armut. Damit prägte sie auch Mentalität und Alltagskultur der Bevölkerung. Der Wodka habe den Menschen zum «Vieh und Tier» gemacht, notierte Dostojewski in seinem Tagebuch von 1873.

Selbst wenn man «Zeit kaufen» und ein «selbständiges Volksleben im Schnellzugtempo herstellen» könnte, blieb für Dostojewski die Frage, woher die Mittel dafür kommen sollten. Denn «fast die Hälfte unseres jetzigen Budgets bezahlen wir mit der Schnapssteuer, sprich mit der Versoffenheit und der Verderbtheit des Volkes, also mit der ganzen Zukunft des Volkes».

Da die Trunksucht das menschliche Potenzial untergrabe, könne sie dem Grossmachtanspruch des Zarenreichs und dessen nachholender Modernisierung zum Verhängnis werden. In einigen Jahrzehnten, prophezeite der Schriftsteller, werde es nur noch «solidarische Bettler geben, die sich in ganzen Gemeinden in die Knechtschaft verkaufen». Indes hinderte die Verzweiflung an dem «der Finsternis und der Unzucht ergebenen [russischen] Barbaren» Dostojewski nicht, diesen zum Erlöser der Welt zu verklären.

Sozialismus ohne Wodka

Der Wodka als «Naturressource» und unentbehrliche Einnahmequelle hat alle Regimewechsel überdauert. Selbst im späten Sozialismus, als die Exporte fossiler Rohstoffe einen immer grösseren Anteil zum Staatsetat beitrugen, machten Wodka und Likörweine an die dreissig Prozent der Steuereinnahmen aus. Derweil wurde die Krise des Sozialismus durch die Trunksucht der Werktätigen massgeblich verschärft. 1982 ergaben Kontrollen in Moskauer Betrieben, dass sich nur ein Bruchteil der Beschäftigten bis zum gesetzlichen Ende des Werktages am Arbeitsplatz aufhielt. Ein Drittel war krankgeschrieben. Schwänzen hatte eine Senkung der Arbeitsproduktivität zur Folge. Wirtschaftsexperten haben berechnet, dass die Verluste infolge Trunksucht um das Vierfache dessen betrugen, was die Schnapssteuer hergab.

Diese destruktiven Prozesse liessen sich nur aufhalten, glaubte der 1985 zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU gewählte Michail Gorbatschow, wenn der Alkohol aus dem Alltag der Bevölkerung verbannt werden würde. Sein erster Erlass nach der Machtübernahme lautete folglich «Massnahmen zur Überwindung von Trunksucht und Alkoholismus». Er sah eine drastische Reduzierung der Wodka- und Weinproduktion und die Umstellung der Spirituosenbetriebe auf die Herstellung von Säften und Mineralwasser vor.

Die Umsetzung dieser Verordnung führte zur Verringerung des Jahresverbrauchs an reinem Alkohol von 8,4 auf 3,7 Liter pro Kopf. Die Anzahl der Verkehrs- und Arbeitsunfälle sank um ein Drittel, und die Werktätigen erschienen öfter am Arbeitsplatz.

Es dauerte nicht lange, bis die Versorgungslücken durch Schwarzgebranntes, Fusel und Surrogate geschlossen waren. 1987 soll die Bevölkerung eine Milliarde Flakons alkoholhaltiger Parfümerie-Artikel und fast eine Million Liter Glasreinigungsmittel ausgetrunken haben. Im Volk wurde Gorbatschow wegen seines «trockenen Gesetzes» gehasst wie kein anderer Staatsführer vor ihm.

Ausgerechnet während der akuten Wirtschaftskrise, als die Ölpreise Anfang der achtziger Jahre in den Keller rutschten, fehlte dem Fiskus fast ein Drittel seiner bisherigen Einnahmen. Die Sowjetunion konnte ihre Auslandsschulden kaum noch bedienen, und es mangelte an Devisen, um Getreide und Lebensmittel importieren zu können. Zwei Jahre nach der Einführung des «trockenen Gesetzes» beendete Gorbatschow sein «edelmütiges Experiment». Die in Ermangelung von Spirituosen und Gebrauchswaren auf den Sparkonten der Bürger angehäuften 37 Milliarden Rubel wurden nach der Preisfreigabe 1992 durch Inflation vernichtet.

Wodka ohne Sozialismus

Nach dem Übergang zur Marktwirtschaft verzichtete die russische Regierung auf das Staatsmonopol für die Herstellung alkoholischer Getränke. Doch erst ab Ende der neunziger Jahre, als die Ölpreise in die Höhe schnellten und sich ein Mittelstand herauszubilden begann, zeichnete sich eine relative Mässigung, eine «Europäisierung» der Trinkgewohnheiten ab: mehr Bier und Wein, weniger Hochprozentiges. Von 18 Litern reinem Alkohol pro Kopf mitten in der Krise der neunziger Jahre sank dessen Verbrauch Anfang der zehner Jahre beinahe um die Hälfte. Gleichzeitig stieg die Anzahl der Nichttrinker auf 40 Prozent. Laut Meinungsumfragen galt Trunksucht nun nicht mehr als «nationale Tradition». Als Hauptgrund für das exzessive Trinken wurde am häufigsten das Bedürfnis, «Stress und Anspannung abzubauen», genannt.

Am wenigsten änderte sich jedoch die «episodische schwere Trunksucht», woran in Russland im Unterschied zu anderen Staaten wie den USA oder Schweden beim gleichen Pro-Kopf-Alkoholkonsum doppelt so viele Trinker leiden. Der unabhängige Demograf Alexei Rakscha hält es für möglich, dass auf direkte Folgen schwerer Trunksucht an die 140 000 Todesfälle zurückzuführen wären. In der offiziellen Statistik wird nur ein Drittel davon berücksichtigt.

Inzwischen hat der verbrecherische russische Krieg gegen die Ukraine der sich abzeichnenden Mässigung und Zivilisierung russischer Trinkkultur, die die Humanisierung der Gesellschaft hätte vorantreiben sollen, den Garaus gemacht. Hier zeigte sich wie im Brennglas, dass die Wechselwirkung von Willkür, Gewalt und Trunksucht alle Reformansätze überstanden zu haben scheint. Denn diese Dreieinigkeit reproduziert sich weiter in der Familie in Form von häuslicher Gewalt, beim Dienst in der Armee, bei der Polizei und in den Justizanstalten.

Bei Abertausenden von Männern gehört die systematische Gewalt zur alltäglichen Erfahrung. Das zeigt sich besonders im Strafvollzug. Man muss sich nur vorzustellen versuchen, wie viele Mitarbeiter mehrerer Straflager wohl an der täglichen Folter von Alexei Nawalny in den vier Jahren seiner Haft teilgenommen haben. Was anderes hätten sie abends zum Stressabbau tun sollen, als Wodka zu trinken?

Beim Wehrdienst erleben die Einberufenen Körperstrafen und gar Folter seitens der «Altdienenden», die ihrerseits nach der Einberufung menschenverachtende Initiationsrituale über sich hatten ergehen lassen müssen. Das Ritual heisst Rekrutenschinderei – «dedowschtschina», die Macht der Grossväter. In den Strafkolonien wiederum herrscht brutalste Gefangenenhierarchie. Früher oder später werden die in den Gewaltinstitutionen erfahrenen Verhaltensmuster in die Gesellschaft hineingetragen.

Todgeweihte Männer

Tatsächlich hat die Invasion der Ukraine die Gewaltsozialisation als Matrix der russischen Gesellschaft offengelegt. Sie zeigt sich nicht nur im nackten Terror gegen die ukrainische Zivilbevölkerung wie in Butscha oder in der Erschiessung von unzähligen Kriegsgefangenen, die durch die Genfer Konvention geschützt wären. Es fehlt nicht an Zeugnissen für den menschenverachtenden, ja barbarischen Umgang der Offiziere mit ihren Untergebenen, aber auch der Soldaten untereinander. Hinzu kommen die sogenannten «Fleisch-Stürme», wenn die Soldaten über die Minenfelder oder direkt ins Feuer des Gegners getrieben werden. Befehlsverweigerern und Deserteuren droht die Foltergrube.

Natürlich sind todgeweihte Männer für Drogen und Alkohol besonders empfänglich. Der Krieg hat die traditionelle Funktion von Schnaps als einem Heilmittel gegen Stress, Angst und Leid gestärkt. Die «der Finsternis und der Unzucht ergebenen Barbaren» feiern mit Alkohol ihr Comingout als richtige Männer – in der Duma wie in den Foltergruben der besetzten ukrainischen Ruinenstädte.

Während der Alkoholverbrauch wieder ansteigt, sinken in Russland die Einnahmen aus dem Ölhandel, mit denen der Krieg finanziert wird. Die Ursachen sind weniger die halbherzigen Sanktionen des Westens als die Erschöpfung der alten Ölreserven in Sibirien. Vor diesem Hintergrund wäre eine Wiederverstaatlichung der Alkoholproduktion nicht unzweckmässig. Und es wäre heute auch gar nicht mehr nötig, die Säufer mit Prügeln in die Schenken zu treiben. Sie finden schon selber den Weg.

Sonja Margolina, 1951 in Moskau geboren, lebt als Publizistin und Buchautorin in Berlin. 2004 erschien der Band «Wodka: Trinken und Macht in Russland».

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