Mittwoch, Januar 15

Kaum mehr kulturelle und politische Freiräume, schlechte Jobaussichten und ungleiche Bildungschancen sorgen in China für Frust. Vor allem junge und gut ausgebildete Menschen kehren ihrer Heimat darum den Rücken und beginnen ein neues Leben im Ausland. Eine Reportage.

Bian Yichao kommt in diesen Tagen kaum zum Durchatmen. Als der Immobilienmakler am späten Vormittag kurz bei seiner Frau zu Hause vorbeischaut, hat er gerade wieder einer chinesischen Familie ein Haus gezeigt. «Die wollen zum 1. Oktober von China nach Chiang Mai ziehen», sagt Bian.

Und sie sind nicht die Einzigen. Im Juli hat Bian, der in Chiang Mai für einen Immobilienmakler aus Bangkok arbeitet, zwölf Familien aus China eine neue Bleibe in Thailand vermittelt.

Chiang Mai hat rund 130 000 Einwohner und liegt im Norden Thailands, nicht weit vom einst für seinen Opiumanbau berüchtigten Goldenen Dreieck zwischen Myanmar, Laos und Thailand. Bis zur nächsten grösseren Stadt in China sind es von Chiang Mai etwas mehr als 400 Kilometer Luftlinie.

Thailand hat traditionell eine substanzielle chinesische Minderheit. Schätzungen gehen von rund sieben Millionen chinesischstämmigen Thais aus. Über die Jahrhunderte hat es immer wieder Wellen der Zuwanderung gegeben, letztmals während der Wirren kurz vor der Machtergreifung der Kommunisten 1949.

Sehnsuchtsort, Fluchtpunkt und Sprungbrett

Mit der jüngsten Welle sind allein bis 2020 – neuere Zahlen liegen nicht vor – fast 80 000 Chinesen übergesiedelt. Vor allem Chiang Mai ist für immer mehr Chinesen Sehnsuchtsort, Fluchtpunkt und Sprungbrett. Manche kommen, um für immer zu bleiben. Einige wenige wollen nach einigen Jahren zurück nach China, wieder andere nutzen Thailand als Durchgangsstation auf dem Weg in ein Land im Westen. Sie alle eint eines: Sie haben keine Lust mehr auf China.

Schlechte Jobaussichten, sinkende Saläre, die immer engeren politischen und kulturellen Freiräume und die ungleichen Bildungschancen sorgen bei vielen Chinesen für Frust und Wut. Jetzt hat sich eine regelrechte Umzugskarawane von China nach Nordthailand in Bewegung gesetzt. Niedrige Lebenshaltungskosten, eine liberale Visapolitik und gute Schulen sind nur einige der Gründe, warum sich viele Aussteiger für das südostasiatische Land entscheiden.

Zu den Auswanderern, die die NZZ Ende Juli in Chiang Mai getroffen hat, gehört neben der Familie Bian Yidan, eine ehemalige erfolgreiche PR-Managerin, die sich in Thailand eine Farm aufgebaut hat. Ausserdem der DJ Bam Boo und seine Frau Shevon, die als Yoga-Lehrerin arbeitet, sowie der Internet-Star Sakya und seine Frau.

Die Bians sind vor sieben Jahren, kurz nach der Geburt ihres Sohnes, von Nanjing im Osten Chinas nach Chiang Mai gezogen. Sie wollten ihrem Kind zunächst den Stress des chinesischen Schulsystems ersparen. Doch das war nur einer von mehreren Gründen, warum sich die Familie für einen Umzug nach Thailand entschied.

Die Nachbarn kommen auch aus China

Bian Yichaos Frau Jing Jing sitzt im Wohnzimmer ihrer Villa am Stadtrand von Chiang Mai. In einem Regal liegt Spielzeug, in einer Ecke steht der Schreibtisch ihres Manns. Durch eine grosse Glasscheibe geht der Blick in den Garten. Hinter dem Zaun steht ein kleiner buddhistischer Schrein, am Haus gegenüber sind rote Spruchbänder mit chinesischen Schriftzeichen zu sehen – die Nachbarn der Bians kommen ebenfalls aus China.

Jing Jing kann sich etwa leidenschaftlich über das Sozialversicherungssystem in China aufregen. «Es ist einfach schlecht», schimpft sie, «für die Geburt unseres Sohnes hat die Krankenversicherung nichts gezahlt.» Dabei habe sie jahrelang eingezahlt.

Auch das Berufsleben des Paars war alles andere als befriedigend. In Nanjing haben Jing Jing und ihr Mann für einen lokalen TV-Sender gearbeitet; grossen Spass hat den beiden die Arbeit nicht bereitet. «Wir mussten ständig Überstunden machen», sagt Jing Jing. Doch das Salär sei sehr überschaubar gewesen.

Jetzt, in Thailand, hat die Familie deutlich mehr Geld zur Verfügung. Für die Villa mit vier Schlafzimmern, die sich die Bians in Chiang Mai gekauft haben, haben sie umgerechnet gerade einmal 74 000 Franken bezahlt, einen Bruchteil dessen, was ein vergleichbares Haus in Peking oder Schanghai kostet.

Der Druck des chinesischen Bildungssystems

Doch der Hauptgrund dafür, dass die Bians ein neues Leben in Thailand begonnen haben, war das bei vielen Eltern umstrittene chinesische Bildungssystem. «Der Druck in China ist zu gross», klagt Jing Jing und rechnet vor: Nur noch die Hälfte aller Schüler an einer Junior High School schafften den Übergang an eine Senior High School, die den Weg zur Aufnahmeprüfung für eine Universität ebnet.

In Chiang Mai besucht der siebenjährige Sohn eine bilinguale Schule. Zu 70 Prozent unterrichten die Lehrer in Englisch, den Rest in Thai. Die Schule eröffnet am Ende auch den Zugang zu einer Universität. Doch für die Bians ist ein Hochschulstudium für den Sohn kein Muss. «Wir mussten noch um beinahe jeden Preis eine Uni besuchen», sagt Jing Jing und verweist auf den Druck der Eltern. «So etwas wollen wir nicht.»

Berührungsängste gegenüber den Thais hat die Familie Bian nicht. Der Sohn spricht inzwischen fliessend Thailändisch, und die Familie hat viele einheimische Freunde und Bekannte.

«Wir haben nur ein Leben»

Zurück nach China wollen die Bians nicht mehr. Jing Jing sagt: «Wir bereuen nur, dass wir nicht früher gekommen sind», und fügt hinzu: «Wir haben nur ein Leben.» Und das will die Familie in Thailand leben.

Doch dass viele der chinesischen Thailand-Auswanderer nicht einmal mehr zu Besuch in ihre alte Heimat reisen, hat auch ganz handfeste Gründe. Oftmals müssen sich die Exil-Chinesen stundenlangen Verhören durch die Polizei stellen, manche von ihnen lassen die Behörden nicht mehr ausreisen.

Wer sich dazu entscheidet, der «chinesischen Nation», der Staats- und Parteichef Xi Jinping eine «grosse Erneuerung» verordnet hat, den Rücken zu kehren, macht sich in den Augen der Regierung verdächtig.

Individualisten, kantige Charaktere, Intellektuelle

Es sind zu einem grossen Teil Individualisten, teilweise kantige Charaktere oder Intellektuelle, die sich für den Wegzug aus China entscheiden. Fast alle von ihnen sind gut ausgebildet. In die von der kommunistischen Ideologie geformte Schablone passen sie nicht.

«In China kommt man gut durchs Leben», sagt Bam Boo, «solange man nicht denkt.» Wenn man allerdings anfange zu denken, werde es sehr schwierig, so der Chinese.

Nach seinem Hochschulabschluss im Fach Ingenieurwesen sah bei Bam Boo zunächst alles nach einer vielversprechenden Karriere aus. Er bekam ein lukratives Jobangebot von Petro China, einem der grossen staatlichen Energiekonzerne. Doch nach einem Jahr schmiss er hin. Bam Boo sagt: «Einfach zu langweilig.»

Der junge Chinese zog nach Wanning, einem kleinen Ort auf Chinas Tropeninsel Hainan. Dort hatte sich über die Jahre eine alternative Aussteigerszene gebildet. Künstler, Surflehrer, DJ und Yoga-Begeisterte lebten und feierten am Strand. Er begann eine zweite Karriere als DJ und begann, Partys am Strand auszurichten – und legte sich den Künstlernamen Bam Boo zu. Hier lernte er auch seine Freundin Shevon kennen.

Festnahmen und Verhöre

Die Szene in Wanning gibt es nicht mehr. Die Polizei schaute immer öfter bei den Freaks am Strand vorbei, verhörte immer mehr der jungen Leute, einige von ihnen landeten im Gefängnis. Bam Boo und seine Freundin packten schliesslich die Koffer.

Seit drei Monaten lebt Bam Boo mit Shevon in den Bergen vor den Toren Chiang Mais. An einem angenehm kühlen Nachmittag sitzt das Paar auf der Veranda seines Hauses. Von hier geht der Blick über ein breites Tal voll sattem Grün. In der Ferne schimmern Berghänge in der Nachmittagssonne. Bam Boo serviert Bier und Erdnüsse. Zwischendurch dreht er an den Reglern seines Mischpults. Aus den Boxen kommen Techno-Klänge.

«Wir waren auf der Suche nach einem freieren Leben», sagt Bam Boo, «hier haben wir es gefunden.» Dass das junge Paar sich beispielsweise hin und wieder einen Joint gönnt, stört in Thailand niemanden. Die Regierung hat den Cannabiskonsum 2022 legalisiert. In China stehen darauf harte Strafen. Doch auch Thailand könnte den Konsum weicher Drogen im kommenden Jahr wieder verbieten. Das jedenfalls kündigte die Regierung Anfang Jahr an. Bam Boo sieht es gelassen. Vieles nehmen die thailändischen Behörden nicht so genau.

Bam Boo und Shevon, die beide im Ausland studiert haben, sind noch dabei, sich ihr neues Leben in Thailand einzurichten. Viel Geld braucht das Paar erst einmal nicht. Ihr Haus in China haben sie verkauft; für ihre Villa am Berghang in Chiang Mai zahlen die beiden umgerechnet 500 Franken Miete im Monat. Das Studentenvisum, für das Bam Boo und seine Frau sich lediglich für einen Online-Sprachkurs anmelden mussten, kostete umgerechnet 1200 Franken.

Beratung für Neuankömmlinge

Derzeit kümmern sie sich, ähnlich wie Bian Yichao, um Neuankömmlinge aus China. Bam Boo zeigt ihnen die Gegend, hilft bei der Anmietung eines Leihwagens oder berät bei Visaangelegenheiten.

Doch mittelfristig plant das Paar, sich ein eigenes Geschäft aufzubauen. Bam Boo möchte als DJ in der Region Chiang Mai Techno-Partys veranstalten. Shevon will künftig als Yoga-Lehrerin Geld verdienen. Einen ersten Kurs mit 22 Teilnehmern hat sie bereits abgehalten.

Wie viele andere Dinge ist auch die Organisation von Veranstaltungen in Thailand deutlich unkomplizierter als in China. Wer in China etwa eine Party oder einen Lehrgang mit mehr als zehn Teilnehmern abhalten möchte, muss bei den Behörden einen Antrag stellen. Vor allem Partys oder Konzerte verbieten die chinesischen Behörden in jüngster Zeit immer öfter. Bam Boo sagt: «Das nervt.»

Erst gehen die Reichen, dann die Mittelschicht

Weil die chinesische Regierung bereits seit Jahren immer stärker ins Wirtschaftsgeschehen, vor allem bei privaten Unternehmen, eingreift, suchen Chinas Reiche schon seit einiger Zeit ihr Glück im Ausland. Bevorzugte Destinationen sind Singapur und Tokio. Wer kann, nimmt sein Vermögen mit.

Doch jetzt zieht es auch immer mehr Angehörige der Mittelschicht, viele von ihnen mit guter Ausbildung, ins Ausland, vor allem auch nach Thailand. Viele von ihnen wollen dem Hamsterrad mit Sechs-Tage-Woche und Zwölf-Stunden-Schichten entkommen. Andere sind frustriert, weil die schleppende chinesische Konjunktur keine Aussicht auf gute Jobs mehr verspricht. So oder so, langfristig schadet der Braindrain der chinesischen Wirtschaft.

Dem chinesischen Hamsterrad entflohen

Auch Yidan, die vor ihrem Umzug nach Thailand in Schanghai und Peking als Werbe- und PR-Beraterin gearbeitet hat, wollte dem chinesischen Berufsstress mit stagnierenden oder fallenden Salären entfliehen.

Die junge Frau zog 2018 zunächst nach Bangkok. Dort arbeitete sie in der Krypto-Branche. Als 2020 die Covid-Pandemie über das Land hereinbrach, begab sie sich auf eine längere Reise. Zunächst verbrachte sie drei Monate auf der Insel Koh Chang, wo ein relativ liberales Covid-Regime herrschte. Nachdem sie einige weitere Inseln bereist hatte, machte sie sich mit Freunden auf in den Norden.

Bei einer Wanderung im Jahr 2021 durch die Berge in der Nähe von Chiang Mai kam Yidan die Idee mit dem Bauernhof. «Wir hatten uns verlaufen und sassen zwei Tage lang ohne Internet fest», sagt Yidan. Das sei ein Wendepunkt gewesen.

Jetzt sitzt Yidan auf einer Bank vor ihrem selbst entworfenen Haus aus Bambus. Unter dem Tisch watscheln Enten durchs Gras. Ein paar Meter weiter, hinter einem Zaun, suchen ein paar Hühner nach Essbarem. Daneben grasen zwei ausgewachsene Ziegen.

«Ich hatte am Anfang keine Ahnung von Landwirtschaft», sagt Yidan. Zwar half eine thailändische Nachbarin, doch das meiste hat die junge Chinesin sich selbst beigebracht. Inzwischen baut sie auf ihrer 8000 Quadratmeter grossen «Farm» Reis, Gemüse, Obst und Kräuter an; alles organisch und alles für den Eigenbedarf.

Ihr Geld verdient Yidan mit Reisenden auf der Suche nach Ruhe und Entspannung abseits der Touristenhochburgen im Süden Thailands. Zwei Gäste-Bungalows hat die Chinesin gebaut, demnächst sollen zwei weitere dazukommen.

Auch für Yidan kommt eine Rückkehr nach China nicht infrage. «Thailand wird immer meine Heimat sein», sagt die Chinesin. Der Begriff Heimat, sagt Yidan, habe für sie nichts mit dem Geburtsort zu tun.

Nationalistische Politik contra Individualismus

Yidan, aufgewachsen auf dem Land in der ostchinesischen Provinz Zhejiang («Es war ein Traum»), sieht sich als Weltbürgerin. Vor ihrer Übersiedelung nach Thailand hatte sie bereits mehr als dreissig Länder bereist. Ein Jahr verbrachte sie zum Studium in den USA.

Ihre Erfahrungen im Ausland mit vielen neuen Eindrücken haben dazu geführt, dass Yidan sich in keine Schablone mehr pressen lassen will. «Ich bin Farmerin, aber auch noch PR-Beraterin», sagt die Chinesin, «ich gehöre in keine Kategorie.»

«Es ist ein neues Lebenskonzept», erklärt Yidan, «eines für Menschen mit einer globalen Vision.» Xi Jinpings nach innen gerichteter nationalistischer Politik laufen solche individualistischen Denkschemata diametral entgegen. Da wundert es nicht, dass Yidan mit ihrem Geburtsland nicht mehr viel anfangen kann.

Dabei haben Xis Vorgänger mit ihrer rasanten Modernisierung des Bildungswesens und der radikalen Öffnung nach aussen Karrieren wie jene von Yidan oder Bam Boo erst möglich gemacht. Xis harsches Regime vertreibt diese Individualisten nun aus China.

Der Besuch der Mutter

Yidans Mutter kann mit dem Lebenskonzept ihrer Tochter wenig anfangen. Kürzlich hat sie Yidan an ihrem neuen Wohnort in der Nähe von Chiang Mai besucht. Die Mutter wollte kontrollieren, ob ihre Tochter wirklich arbeitet oder auf der faulen Haut liegt.

Schliesslich machte sie ihrem Unmut Luft. Die Eltern hätten Yidan keine internationale Ausbildung ermöglicht, nur damit sie am Ende Bäuerin werde, habe die Mutter geschimpft. So etwas mache man im Ruhestand. Am Ende half sie ihrer Tochter aber doch bei der Arbeit.

Glücklich waren auch Sakyas Eltern nicht, als er ihnen vor drei Jahren eröffnete, dass er zusammen mit seiner Frau nach Chiang Mai übersiedeln werde. Am Ende mussten sie es akzeptieren.

Sakya, der einen Hochschulabschluss in Wirtschaft, Fachgebiet E-Commerce, hat, ist ein gefeierter Internet-Star. Auf Plattformen wie Douyin, vor allem aber auf Xiaohongshu, dem «kleinen roten Buch», postet der junge Chinese Videos mit von ihm komponierter Musik. Geld verdient er vor allem durch Werbung.

Interesse am Buddhismus

In Thailand erwachte sein Interesse am Buddhismus. Inzwischen flicht Sakya in seine Kompositionen buddhistische Klänge ein.

Ganz leicht fiel ihm der Abschied von China nicht. «Meine Frau und ich haben zwei Monate lang überlegen müssen», sagt Sakya. Am Ende verkaufte das Paar sein Apartment im südchinesischen Shenzhen, das Auto und seine kleine Firma und siedelte nach Thailand über.

Bereut haben sie es nicht. Sakya sagt, sie hätten zunächst überlegt, an einen anderen Ort in China zu ziehen. Nachdem er und seine Frau allerdings verschiedene Dörfer und Städte besucht hatten, verwarfen sie die Idee und entschieden sich für Chiang Mai. Sakya sagt: «Die chinesischen Orte strahlen nichts aus.»

Zurück nach China wollen die beiden nicht mehr. Sakya hat sich sein Urteil gebildet: «Das Land hat nicht denselben Vibe, es ist nicht offen genug.» Dabei hat gerade auch die Offenheit China stark gemacht – bis Xi Jinping die Uhren zurückdrehte.

Exit mobile version