Donnerstag, Februar 6

Brewster Kahle, Gründer des Internet-Archive, warnt vor der wachsenden Kontrolle über Informationen durch Konzerne und Regierungen. Er spricht über Zensur, die Auswirkungen von KI auf die Medien und die Notwendigkeit, dass Bibliotheken weiterhin Wissen zugänglich machen.

Sie haben das Internet-Archive 1996 gegründet, nur wenige Jahre nach der Erfindung des World Wide Web. Ihr digitales Archiv wird oft als das digitale Gedächtnis des Internets und, in gewisser Weise, der Menschheit beschrieben. Wie oft stehen Sie vor der Herausforderung, archivierte Inhalte entfernen zu müssen?

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Täglich.

Und woher kommen diese Anfragen?

Lassen Sie mich das in einen grösseren Zusammenhang stellen. Das Internet-Archive ist eine gemeinnützige Forschungsbibliothek mit der Mission, universellen Zugang zu Wissen bereitzustellen. Bibliotheken haben traditionell publizierte Werke aufbewahrt, damit sie für zukünftige Generationen verfügbar bleiben. Als wir das Internet-Archive gründeten, erkannten wir, dass das Web anders strukturiert ist als traditionelle Veröffentlichungen. Früher wurden Bücher und Zeitungen gedruckt und an Bibliotheken verkauft, die sie bewahren konnten. Bücher haben einen Anfang und ein Ende. Und wenn sie gedruckt sind, ändern sie sich nicht mehr. Beim Web hingegen gibt es oft nur ein Exemplar einer Webseite, das sich jederzeit ändern oder verschwinden kann – im Durchschnitt tun sie das heute alle hundert Tage.

Brewster Kahle, Internetpionier

Brewster Kahle ist ein amerikanischer Informatiker, Unternehmer und Aktivist für freien Zugang zu Wissen. Der 65-Jährige gründete 1996 das Internet-Archive, das als Forschungsbibliothek im Internet dient. Im Archiv befinden sich zudem rund vier Millionen gescannte Bücher. Zuvor war er bei Thinking Machines tätig und entwickelte Suchtechnologien, darunter Alexa-Internet, das später an Amazon verkauft wurde. Kahle setzt sich für den universellen Zugang zu Wissen, den Erhalt digitaler Inhalte und die Rolle von Bibliotheken im digitalen Zeitalter ein. Er lebt in San Francisco und engagiert sich für zahlreiche gemeinnützige Projekte. Der Austausch mit Kahle fand bei einem Kaminfeuergespräch an der ersten NZZ-Academy in Bad Ragaz statt.

Wie kann man etwas archivieren, das sich ständig ändert?

Um diese flüchtige Natur des Internets zu bewahren, begannen wir, Webseiten in regelmässigen Abständen zu archivieren. Heute erfassen wir täglich etwa eine Milliarde URL. Im Internet-Archive können sie sich durch den Änderungsverlauf von beinahe jeder grösseren und relevanten Webseite durchklicken. Das ist unsere Wayback-Machine. Damit haben wir zum Beispiel das Nachschlagewerk Wikipedia viel nützlicher gemacht, indem wir die Links auf 20 Millionen gelöschte Webseiten wiederhergestellt haben. Aber natürlich ist nicht alles im Internet für die Ewigkeit gedacht. Jeden Tag erhalten wir Anfragen von Personen, die möchten, dass bestimmte Inhalte entfernt werden.

Und was tun Sie dann?

Viele Menschen veröffentlichen informelle Blogs, die sich beispielsweise mit vergangenen Beziehungen befassen, und sie möchten nicht, dass diese weiterhin öffentlich zugänglich sind. Wir respektieren ihren Wunsch und entfernen den Blog aus der Wayback-Machine.

Löschen Sie immer gemäss allen Anfragen?

Es gibt Ausnahmen. Wenn öffentliche Personen versuchen, ihre eigenen früheren Aussagen oder Veröffentlichungen zu löschen, leisten wir Widerstand. Aber zunehmend kommen die Löschanfragen von kommerziellen Unternehmen, insbesondere von Nachrichtenorganisationen.

Warum?

Kontrolle. Es geht ihnen nicht primär um finanzielle Verluste – niemand nutzt das Internet-Archive anstelle eines Zeitungsabonnements. Dennoch möchten viele grosse Medienhäuser verhindern, dass archivierte Versionen ihrer Artikel von einer Bibliothek aufbewahrt und zugänglich gemacht werden.

Verständlich. Zunehmend verdienen Medienhäuser ihr Geld nicht mit Werbung, sondern indem sie ihre Inhalte direkt an Leserinnen und Leser verkaufen.

Aber sie haben auch Chronistenpflicht. Die Medien bleiben eine entscheidende Säule einer funktionierenden Demokratie. Ich verwende in diesem Zusammenhang gerne den Begriff «öffentliche Intelligenz». Und diese ist zunehmend bedroht, wenn alles hinter Bezahlschranken verschlossen wird. Wie es das Magazin «Current Affairs» formulierte: «Lügen im Internet sind heute kostenlos, aber die Wahrheit steckt hinter einer Bezahlschranke.» Wir brauchen hier ein Gleichgewicht.

Wie gehen Sie mit Löschanfragen von Regierungen um?

Wir prüfen sie sorgfältig. Viele Anfragen stammen von automatisierten Systemen, die massenhaft Löschanfragen versenden, von denen viele fehlerhaft sind. Aber wenn Regierungen verlangen, dass Inhalte basierend auf ihren nationalen Gesetzen entfernt werden, beschränken wir den Zugriff in der jeweiligen Region.

Erhalten Sie Löschforderungen aus autoritären Staaten?

China war der grösste Fall. Die Regierung forderte, dass bestimmte Inhalte nicht nur für chinesische Nutzer unzugänglich sind, sondern weltweit gelöscht werden. Das konnten wir nicht akzeptieren – und infolgedessen wurde das Internet-Archive in China blockiert, ähnlich wie Wikipedia und die «New York Times».

Auch die künstliche Intelligenz (KI) wird immer stärker in Informationsverarbeitung eingebunden. Bietet das Internet-Archive Daten für KI-Unternehmen an?

KI-Unternehmen haben unsere offenen Materialien, wie Regierungsdokumente oder Bücher, die vor 1929 veröffentlicht wurden, intensiv für ihre Modelle genutzt. Allerdings unterliegen die meisten unserer Sammlungen bestimmten Einschränkungen. In den USA herrscht zudem erhebliche rechtliche Unsicherheit, da zahlreiche Klagen gegen KI-Unternehmen anhängig sind.

Wie sieht die Lage in Europa aus?

Die Europäische Union hat klare Vorschriften erlassen, die kulturelle und Forschungseinrichtungen dazu ermutigen, Inhalte für Text- und Datenanalysen zu nutzen. Japan geht noch einen Schritt weiter und erlaubt es Startups, KI-Modelle auf diese Weise zu trainieren. Im Gegensatz dazu wird die rechtliche Unsicherheit in den USA wahrscheinlich dazu führen, dass nur wenige grosse KI-Unternehmen überleben. Das könnte zu einem Problem für die USA werden. Ich sehe den europäischen Ansatz derzeit als besser an.

Wirklich? Das Internet wird heute doch von amerikanischen Firmen dominiert. Wird sich das ändern?

Wir sollten nicht in einer Welt leben, in der nur drei grosse KI-Unternehmen als Suchmaschinen genutzt werden. Wir brauchen Hunderte, wenn nicht Tausende von unabhängigen KI-Modellen und Verlegern, die zur Landschaft beitragen. Wir brauchen ein Spiel mit vielen Gewinnern – nicht nur drei KI-Giganten. Ein Oligopol in Bezug auf menschliches Wissen wäre eine Katastrophe.

Viele Medienhäuser sind besorgt, dass KI-Inhalte zusammengefasst und präsentiert werden, ohne dass auf die Originalquellen verlinkt wird. Ist das eine Gefahr für den Journalismus?

Das ist eine berechtigte Sorge. Ich glaube, dass die Klagen der Verlage zumindest dazu führen, dass Chatbots durch die vielen Klagen davon abgehalten werden, auf die Quellen der Informationen hinzuweisen – das hilft weder den Verlagen noch den Nutzern. Suchmaschinen waren vor zwanzig Jahren umstritten, aber schliesslich wurde zwischen den Medienverlagen und Big-Tech ein Gleichgewicht gefunden. Jetzt ist ein neues Gleichgewicht notwendig, und ich befürchte, dass die rechtliche Strategie zu einigen wenigen Monopolen führen wird und alle anderen verlieren.

Was sollten Verlage also tun?

Überzeugende und glaubwürdige Publikationen entwickeln und verkaufen. Es ist ebenso entscheidend, dass Verlage ihre digitalen Inhalte so anbieten, dass Bibliotheken sie kaufen, bewahren und ausleihen können. Bibliotheken waren schon immer eine bedeutende Einnahmequelle für Verlage und Autoren – diese wird schrumpfen, wenn die Verlage ihren Kurs nicht ändern. Derzeit verkaufen grosse Verlage E-Books nicht wirklich, so wie sie es mit physischen Büchern getan haben – Bibliotheken können sie nur für eine begrenzte Zeit mieten. Das ist ein Problem für die Bewahrung und den Zugang zu Wissen.

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