Dienstag, August 26

Die Gesellschaft ist polarisiert wie noch nie. Wie kann man da ein gelassenes Leben führen? Indem man sich gut informiert und den Katastrophen ins Auge schaut, sagt der Kulturwissenschafter Helmut Lethen.

In der Wiener Wohnung des Kulturwissenschafters Helmut Lethen gibt es kaum noch freie Ecken. Am Boden stapelt sich Material für das nächste Projekt, dabei ist das jüngste Buch gerade erst erschienen. Es heisst «Stoische Gangarten. Versuche der Lebensführung» und beschreibt elegant und tiefgründig die Kluft zwischen der Welt und dem Menschen, der sich nach Gelassenheit sehnt. 1994 hat Lethen mit «Verhaltenslehren der Kälte» einen kulturphilosophischen Klassiker geschrieben. Es geht darin um Vernunft, Moral und das Bedürfnis des Menschen nach Wärme. Für intellektuelle Reibungsenergie ist im Hause Lethen gesorgt. Der 1939 geborene Altachtundsechziger ist mit der Philosophin Caroline Sommerfeld verheiratet, die zu den theoretischen Stimmen der Neuen Rechten gehört.

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Herr Lethen, Sie haben ein Buch über «stoische Gangarten» geschrieben. Das Buch ist auch deshalb entstanden, weil Sie ein bestimmtes Ereignis aus der Bahn geworfen und Ihnen alle Gelassenheit genommen hat. Sie nennen es ein «Gehirnunglück». Was war da passiert?

Es war im Mai vor drei Jahren. Ich war gerade im Taxi, als mir plötzlich übel wurde. Im Krankenhaus hat man ein sogenanntes subdurales Hämatom festgestellt, eine Gehirnblutung.

Sie hätten sterben können?

Ja. Aber ich hatte Glück, dass man es so früh entdeckt hat, und es hat sich herausgestellt, dass die neuronalen Regionen unbeschädigt waren. Um das subdurale Hämatom zu entfernen, wurde die Schädeldecke aufgesägt.

Wie geht es Ihnen heute?

Das Hirn ist kein Problem, aber dem Herzen geht es schlecht. Im kleinen Stromland des Herzens gibt es grosse Probleme. Die winzigen Arterien sind verstopft. Die Ärzte sind mit ihrem Latein am Ende. Zwischen Laptop, Küche und Bad bin ich topfit, aber zwanzig Meter auf der Strasse sind schwierig.

Ist der Mensch nicht ein ziemlich fragiles Wesen und schon die Idee, er könne gelassen bleiben, eine Hybris?

Ich musste ein Jahr später eine Rückenmarkspunktion über mich ergehen lassen, die entsetzlich weh tat. Zwei Krankenschwestern haben mich festgehalten und gesagt, ich solle unbedingt schreien, was das Zeug halte, das würde den Schmerz erleichtern. Also habe ich geschrien, so laut ich konnte, bis die Punktion beendet war. Die Schwestern wollten dann noch wissen, um was es in meinem nächsten Buch geht. Ich habe gesagt: um stoische Haltung. Da mussten sie herzlich lachen. Erst dieses Schmerztheater und dann die Vermessenheit. Die beiden haben das klug beobachtet.

Würden Sie sich selbst als Stoiker bezeichnen?

Ich bin nicht ein Verfechter dessen, was der Philosoph Joseph Vogl einmal das schwebende Denken genannt hat. Mich fasziniert die Schwerkraft des Daseins. Man kann sagen: Ich halte mich bereit für die durch die Empirie erfahrbaren Absturzmöglichkeiten. Das ist meine stoische Haltung. Als Mensch könne man in ein Naturreich abstürzen, wo es keine Vernunft mehr gebe, sagt schon Kant. Und zum Absturz gehört, dass er plötzlich kommt. Man verliert die Fassung.

Man stellt sich den stoischen Menschen ja eher tiefenentspannt vor. Kann es sein, dass Sie das etwas anders sehen?

Der Stoizismus kommt in verschiedenen Aspekten in meinem Buch vor, aber eines der wichtigsten Zitate dazu kommt von Epiktet: «Der Stoiker hofft nicht.» Jede Hoffnung ist nämlich ein selbstbetrügerischer Pakt mit der Zeit.

Zum Beispiel, wenn man sagt: Das wird schon wieder werden?

Ja. Aber Epiktet meint: Wichtiger als zu hoffen, ist es, der Gegenwart die ganze Aufmerksamkeit zu widmen. Ganz genau zu beobachten, was gerade geschieht.

Ihr Buch ist kein Lebensratgeber, sondern es geht eher um die Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und der Welt, auch im Politischen. Macht es nicht zufriedener, sich von den Krisen abzuschotten?

Nein, man soll sich so viele Informationen besorgen wie möglich. Das Fernsehen zum Beispiel, wenn es pluralistisch bespielt wird, ist eine Informationsmaschine und macht es möglich, den Katastrophen ins Auge zu schauen.

Die Gegenwart beobachten, das wollten Sie immer schon. Fehlurteile inklusive. In den sechziger Jahren waren Sie Kader einer maoistisch-kommunistischen Kleinpartei. In Ihren Büchern blicken Sie erstaunlich milde auf diese Zeit zurück.

Ich glaube, was mich damals bewegt hat, war eine Liebe zur Masse. Damals habe ich geglaubt, dass man von ihr lernen kann. Ich war zum Beispiel als junger Rekrut in einer Kompanie mit vielen Bergarbeitern. Die hatten eine ganz andere Art von Vernunft, waren Praktiker und haben jeden Befehl auf seinen praktischen Nutzen hinterfragt. Wir Intellektuellen haben das nicht gemacht. In einer Art Kurzschluss schien mir, dass die Vernunft, im Gegensatz zu den üblichen Annahmen, bei den Massen liegen kann. Ich habe auch viel Brecht gelesen und konnte mit seinem Lob der Massen durchaus etwas anfangen.

Das Buch hat eine Art Leitmotiv, ein Zitat von Georg Büchner aus «Dantons Tod»: «Geht einmal euren Phrasen nach bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden.» Die deutsche RAF hat politische Phrasen zu tödlichen Handlungen gemacht, Büchner spricht von den Folgen der Französischen Revolution. Wie ist es heute?

Es ist ein unglaublich brisantes Thema. Was heisst es denn staatspolitisch, wenn wir heute zum Beispiel wieder von der notwendigen Wehrtüchtigkeit des deutschen Volkes reden? Wo führt diese Parole hin? Die Kriegswichtigkeit ist eine Friedenstugend geworden, und Deutschland muss wieder aufrüsten!

Sie sind ein Kriegskind, Jahrgang 1939, und Ihre ersten prägenden und traumatischen Erlebnisse hängen mit deutschen Luftschutzbunkern zusammen. Wie sieht ein geborener Pazifist wie Sie den heutigen Zustand der Friedensliebe?

Als Intellektueller würde ich heute sagen: Wir dürfen uns nicht weiter in einem Kult der Wehrlosigkeit einkapseln und das auch noch als Tugend verkaufen. Das war ja lange so.

Also wieder raus aus dem Elfenbeinturm und die eigene Rolle infrage stellen?

Ja. Es gibt ein Versagen der Intellektuellen, der Diplomatie und der Politik. In den Talkshows im Fernsehen finde ich jetzt die Generäle immer viel besonnener als die Politiker. Ich bin mit der Militärgeschichte so weit vertraut, dass ich sagen kann: Wir müssen wieder ein faires Bild des deutschen Soldaten entwickeln. Und der Intellektuelle muss sich an den Gedanken der Wehrhaftigkeit annähern, ohne deshalb gleich ein Anhänger des ultrarechten politischen Philosophen Carl Schmitt zu werden.

Interessante Worte aus dem Mund eines ehemaligen Studentenrevolutionärs und Achtundsechzigers, der gerade den Organen des Staats grösstes Misstrauen entgegengebracht und sie bekämpft hat. An welchem Punkt in den letzten Jahren ist denn Ihre Meinung gekippt?

Der Ukraine-Krieg, der ja in Wahrheit schon mit der Annektierung der Krim 2014 begonnen hat, war entscheidend. So plausibel allenfalls noch die Furcht Putins vor einer Einkesselung Russlands durch die Nato vielleicht sein könnte, gibt es kein Argument, in einen Angriffskrieg zu starten, in dem Hunderttausende Soldaten sterben. Das macht mich fassungslos. Und zwar auch in Achtung für die russischen Soldaten.

Wie würden Sie denn Pazifismus heute definieren?

Ich rede immer vom strukturellen Pazifismus. Das ist ein Begriff, den der Militärhistoriker Sönke Neitzel verwendet, und der Begriff ist geprägt für die Frühgeschichte der Bundeswehr. Da wird für den Bürger in Uniform plädiert. Die ganze heutige Wehrunfähigkeit der Bundeswehr hängt mit diesem defensiven Element aus der Geschichte zusammen.

Würden Sie denn Putins Gelassenheit gegenüber allen Versuchen, den Krieg zu beenden, für eine Art von Stoizismus halten?

Ich würde das historisch beantworten. Im 19. Jahrhundert geschieht etwas Entscheidendes. Beim Stoizismus geht es in diesem Jahrhundert nicht mehr um den Seelenfrieden, sondern um den Berufshabitus einer ungerührten Bürokratie, der Naturwissenschafter und Soldaten. Putin hat den stoischen Berufshabitus eines KGB-Mannes. Es bleibt in diesem Fall, wie man es über Jünger gesagt hat, ein Ganzkörperstahlhelm des Stoikers, aber alle anderen Elemente fallen flach.

Wie erklären Sie sich die Faszination, die von Putin für die Neue Rechte ausgeht?

Das entsetzt mich. Er lässt bei seinen Auftritten Hymnen zu Ehren von Stalin spielen und vernichtet die Erinnerungsarbeit, die mit dem Stalinismus zu tun hat. Es ist ein absolutes Versagen der Neuen Rechten, dass sie das nicht zur Kenntnis nehmen will. Was an Putin gefällt, ist seine Verachtung eines gewissen Pluralismus, aber vor allem ist es ein Kampf gegen die Nato. Was ich festgestellt habe: Die Neue Rechte weiss vom Zustand in Russland verdammt wenig. Würde sie in Russland versuchen, ihre Ideen umzusetzen, würde sie sehr schnell zu spüren bekommen, was eine Diktatur ist.

Von Friedrich Nietzsche kann man auch einiges über den Stoizismus erfahren. Er sagt, der Mensch sei nicht für die absolute Kälte gebaut. Er hält höchstens kurze Kältebäder aus und muss dann wieder ins Warme. Ist Deutschland kälter geworden? Und hängt das mit dem Aufstieg gewisser politischer Kräfte zusammen, wie manche vermuten?

Die Migrationspolitik spielt in Deutschland eine grosse Rolle. Vor der berüchtigten Silvesternacht von Köln hatte die AfD drei Prozent, und dann stieg sie plötzlich auf über zehn. Auch das Lob der Heimatverbundenheit ist sehr wichtig.

Sagen Sie das als Linker?

Ja. Ich glaube, es ist einer der grossen Fehler der Linken gewesen, den Begriff der Heimat negativ zu sehen. Ich finde, dass zum Urvertrauen des Menschen auch die Heimatverbundenheit gehört. Zur Humanität gehört allerdings auch die Integration des Fremden. Wir müssen versuchen, beides miteinander zu kombinieren. Wir müssen in diesen beiden Sphären leben. Die Abschaltung jeweils einer Sphäre hat bisher nur grosses Unglück erzeugt.

In Ihrem Buch fragen Sie: «Wo bleibt die Möglichkeit, ruhigen Bluts die politischen Lager zu inspizieren, beim ‹Feind› Kerne von Wahrheit zu entdecken, uns zum Ausgleich zu ermutigen?» Wie weit, glauben Sie, ist die Polarisierung unter den Menschen fortgeschritten?

Wie es bei den Menschen wirklich ist, weiss ich nicht, aber die Medien teilen sich mehr und mehr in Meinungslager. Das kann damit zu tun haben, dass die Polarisierung in gewissen intellektuellen Schichten eine grössere Rolle spielt als beim Volk. Im Fernsehen gab es kürzlich eine Dokumentarserie über den Aufstieg der AfD, wo eben auch gezeigt wurde, dass eben die Silvesternacht von Köln ein Kipppunkt war. Manche Medien haben eine Woche lang verschwiegen, welche Teile der Migranten da im Negativen aktiv waren. So etwas empfinde ich als fatal. Es ist Teil der Polarisierung und trägt zu weiterer Polarisierung bei.

Apropos Polarisierung. Ihre Frau Caroline Sommerfeld ist bei der Neuen Rechten aktiv und auf vorkonziliare Art katholisch, Sie sind Altachtundsechziger. Wie ist die ehelich-intellektuelle Situation im Augenblick?

Wir führen eine sehr interessante Ehe. Im Augenblick haben wir einen grossen Streitfall, und zwar sind das die paulinischen Briefe. Meine Frau ist für die vorkonziliare Kirche und ich bin eher ein Heinrich-Böll-Katholik. Das ist so ein weichgespülter rheinischer Katholizismus, der wenig Dogmen kennt, sich in der geistigen Architektur der Kirche wohlfühlt, aber die Kirchengeschichte erschreckend findet.

Politisch haben Sie keinen Streitpunkt?

Es bleibt immer interessant zwischen mir als altem Linken und ihr. Sie empört sich zum Beispiel darüber, dass die rechten Parteien Elon Musk hofieren. Für meine Frau ist das ein böser Globalisierer. Wir sind uns beide einig, dass es keine Diktatur der Tech-Milliardäre geben darf. So etwas wäre ein grosses Unglück, und darüber muss ich mit meiner Frau auch nicht streiten.

Politisch haben Sie keinen Streitpunkt? Ist Ihre Frau auch eine Putin-Versteherin, wie viele in der Neuen Rechten?

Sie sieht den Angriffskrieg als Defensivmassnahme zum Schutz von Russland. Ich sage: Das kannst du politisch ja so sehen, aber das rechtfertigt keinen Krieg, in dem auch Hunderttausende der eigenen Soldaten geopfert werden. Da gibt es nicht das geringste Argument dafür. Das ist neben den paulinischen Briefen unser Hauptstreitpunkt. Es ist auch seltsam, wie sich die Dinge in den politischen Lagern gerade umdrehen. Wenn es jetzt heisst, die Deutsche Bundeswehr brauche sechzigtausend Soldaten mehr, dann sehe ich da gute Gründe dafür. Auch für die Wiedereinführung einer allgemeinen Wehrpflicht. Meine Frau würde das ganz entschieden ablehnen, und das ist doch merkwürdig.

Aber sie ist nicht nur deswegen dagegen, weil es um Putin geht?

Nein, nein.

Also ist sie jetzt die Pazifistin nach linkem Muster?

Ihr Hauptargument wäre, dass jede Wehrertüchtigung im Sinne Amerikas ist.

Wann ist der Punkt erreicht, an dem einer vom Tisch aufsteht und sagt: Hier will ich nicht mehr weiterreden?

Es wird immer weniger. Vor zehn Jahren ungefähr waren die Unterschiede in den Positionen noch viel extremer. Irgendwie haben wir einen Modus Vivendi gefunden. Ich sage das auch in meinem neuen Buch: Man muss mit Fremdheiten leben.

Aus Ihnen wird wohl kein intellektueller Wutbürger mehr?

Nein. Ich bin kein Freund starker Meinungen. Wenn man so etwas hat, sollte man es erst einmal eine Zeitlang in Quarantäne stecken, um es später noch einmal zu überprüfen. Ich habe kürzlich entdeckt, wie ich eigentlich arbeite und lebe, und das ist mir bei einem Satz aus Nietzsches «Zarathustra» aufgefallen. Der Satz lautet: «Lasst den Zufall zu mir kommen: unschuldig ist er, wie ein Kindlein!» Ich lasse mich wegspülen von den Zufällen und versuche, das Beste draus zu machen.

Stoischer kann man wohl nicht sein.

Vielleicht. Ein Versuch ist es immerhin.

Helmut Lethen: Stoische Gangarten. Versuche der Lebensführung. Rowohlt-Verlag Berlin, Berlin 2025. 224 S., Fr. 36.90.

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