Der Mensch liebt das Risiko, aber eigentlich nur dann, wenn es andere auf sich nehmen.
Nun brettern sie wieder die Pisten hinunter. Die Skirennfahrer sind die Heroen der Gegenwart, unerschrocken. Und zu Hause kleben die Zuschauer an den Bildschirmen, fassungslos angesichts dieser Tollkühnheit. Halb bangt man vor Angst, halb zittert man vor Aufregung. Bis es wieder einmal einen abhebt. Es geht so schnell, dass man gar nicht mitbekommen hat, ob es ihm den Ski verschlagen oder ob ihn eine Bodenwelle abgeworfen hat. Jedenfalls hängt er im Netz, aus dem ihn Helfer mühselig wieder herausschälen.
Man kann gar nicht hinschauen und starrt doch unentwegt auf den Bildschirm, wo sich der Sturz unablässig wiederholt, in Zeitlupe jetzt, auf dass man in allen Einzelheiten sieht, wann der Kopf aufschlägt, wie das Knie sich grotesk verdreht. Man stöhnt und leidet, pietätvoll dreht die Kamera weg von dem Gestürzten, der nun auf dem Boden liegt und umsorgt wird. Da endlich naht Rettung, der Rennfahrer wird geborgen, die Kamera fängt den fortfliegenden Rettungshelikopter ein, bis er am Himmel verschwindet und die Piste wieder freigegeben wird.
Das Rennen geht weiter, und einer mehr liegt im Krankenhaus.
Seit dem Rennwochenende der letzten Dezembertage in Bormio hat das Lazarett der Skirennfahrer beträchtlichen Zuwachs erhalten. Am schlimmsten erwischte es den Franzosen Cyprien Sarrazin. Er erlitt eine Hirnblutung, und sein Teamarzt macht eine düstere Prognose. Es sei ungewiss, ob er wieder Ski fahren werde. Glimpflicher kamen die Schweizer Gino Caviezel und Josua Mettler davon. Sie erlitten mittelschwere Knieverletzungen.
Vor einem Jahr hatte es am Lauberhorn den Abfahrer Aleksander Kilde erwischt. Er sei, so sagte er später den Medien, erst zwei Wochen nach dem Sturz wieder in der Lage gewesen, zehn Minuten aufrecht zu sitzen, ohne in Ohnmacht zu fallen. So werden moderne Heroen geboren. Sie müssen erst stürzen, bevor sie als Helden auferstehen können.
Risiko als Selbstzweck
Sport ist ein Überbietungswettkampf. Das Individuum ringt indessen nicht nur mit seinesgleichen um Sieg oder Niederlage, jeder kämpft auch mit seinen Ängsten, mit der Physik des eigenen Körpers und gegen die Schwerkraft. Es gewinnt nur, wer über die eigenen Grenzen hinausgeht und trotzdem die Kontrolle nicht verliert.
«Non plus ultra», stand in der antiken Welt über der Meerenge von Gibraltar. Weiter kommt keiner, hier hört die Welt auf. Wer die Warnung missachtet, gerät ins Unwägbare. Die Drohung hatte freilich eine paradoxe Wirkung: Statt abzuschrecken, lud sie ein, jene Gegend zu erforschen, die es angeblich nicht gibt. Jede Grenzmarkierung fordert zu ihrer Überschreitung auf.
Der Sport ist dafür das spielerische Abbild: Er übt die Grenzüberschreitung als reinen Selbstzweck. Sie dient hier keinen höheren Absichten, kein ernstzunehmender Gewinn ist damit verbunden. Und auch die Prämie für die Allgemeinheit, das Vergnügen von Kitzel und Angstlust beim Publikum, verpufft auf der Stelle.
Nach den vielen Stürzen in Bormio beschwerte sich der französische Skirennfahrer Blaise Giezendanner über angeblich unzumutbare Bedingungen: «Die Veranstalter setzen unsere Gesundheit aufs Spiel. Es ist nicht normal, dass wir nicht mit hundert Prozent fahren können.» Der Ärger ist nachvollziehbar, er mutet aber zugleich etwas kurios an. Wer mit hundert Sachen einen Berg hinunterfährt, setzt nun einmal seine Gesundheit aufs Spiel. Die Kunst des Skifahrens und des Risikomanagements besteht gerade darin, nicht von Start bis Ziel «mit hundert Prozent» zu fahren, oder, wie es die Sportler gerne sagen: «ans Limit zu gehen».
Nicht weniger zweideutig ist der Entsetzensschrei und die Schreckensstarre des Publikums, wenn wieder einmal einer spektakulär in die Netze fliegt und dann benommen liegenbleibt. Gewiss ist das Mitleiden mit den Athleten, wenn sie schwer stürzen, aufrichtig. Keiner im Publikum will Blut sehen. Es behaupte aber niemand, man würde Abfahrtsrennen nicht auch deshalb schauen, weil stets nur ein Hauch zwischen Sieg und Sturz liegt. Jeder weiss, dass die Rennfahrer Kopf und Kragen riskieren. Und wer so tut, als gehöre nicht gerade dies zum Spektakel und zum eigenen Vergnügen, lügt sich selbst in die Tasche.
«Wenn nur nichts Schlimmes geschieht!» So lautet das Stossgebet, das zartbesaitete Gemüter vor ihren Fernsehgeräten himmelwärts schicken, wenn die Rennfahrer die furchterregendsten Passagen bewältigen. Aber das ist doch der springende Punkt: Jederzeit kann sich etwas Schlimmes ereignen. Alle wissen es, der Sportler, die Zuschauer, die Veranstalter. Wozu stünde sonst der Helikopter bereit? Wozu brauchte es sonst die Stossgebete?
Es offenbaren sich widersprüchliche Denkfiguren, wenn Sportler darüber klagen, dass sie nicht mit hundert Prozent fahren können, und wenn Zuschauer flehentlich bitten, es möge alles, aber nur nichts Schlimmes passieren. Der Mensch will das risikolose Risiko. Er möchte etwas wagen, aber es darf ihn nichts kosten. Am Fernsehen delegiert der Zuschauer das Risiko an den Sportler. Sein eigenes Restrisiko besteht allein darin, dass dem Sportler etwas zustösst. Am liebsten möchte er auch dies ausschliessen.
Aber man kann die Rennfahrer nicht als rundum gepolsterte Puppen auf Talfahrt schicken. Auch ein Airbag hilft nicht in jedem Fall, ausserdem können sie sich schon bei Sturzgefahr öffnen, wie es Marco Odermatt in Bormio widerfuhr. Auch schnittfeste Unterwäsche ist nicht nach jedermanns Geschmack. Die Stossgebete vor den Fernsehern werden so schnell nicht überflüssig.
Gefahren an andere delegieren
Der Sport ist ein Spiel, das den Ernst des Lebens auf seine Weise abbildet. Er bringt auch jene Widersprüche spielerisch zum Vorschein, die im Alltag so leicht verdrängt werden können. Der moderne Mensch hat eine enorme Risikoaversion entwickelt. Am liebsten möchte er sich sein Leben lang mit einem Airbag vor allen Gefahren schützen. Versicherungen schliesst er zuhauf ab. Es gibt fast nichts, wogegen man sich nicht versichern kann.
Das nackte Leben ist in Mitteleuropa in einem Ausmass sicher geworden, dass Gefahren künstlich erzeugt oder delegiert werden. Vor dem Fernseher kann das Publikum gefahrlos zuschauen, wie andere ihr Leben oder wenigstens ihre Gesundheit riskieren. Wem solcher Nervenkitzel allein nicht die nötige Aufregung verschafft, fährt mutwillig in einen Lawinenhang hinein oder springt kopfüber von einer Brücke, an den Füssen von einem Gummiseil festgehalten. Aber es ist wie vor dem Fernseher: Man schickt zur Begleitung ein Stossgebet himmelwärts. Es möge nichts passieren, schon gar nichts Schlimmes.
Eine weitere Strategie zur Risikobewältigung besteht darin, das Wagnis unsichtbar zu machen. Und auch da gibt es unterschiedliche Wege der Verschleierung, aber immer sind es Manöver der Selbsttäuschung. Unlängst hatte der Logistikunternehmer und Milliardär Klaus-Michael Kühne in einem Interview mit der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» eingestanden, dass ihn seine Investitionen in den Signa-Konzern von René Benko etwa eine halbe Milliarde Euro gekostet hätten. «Er hat mich um den Finger gewickelt», sagte Kühne. Er hätte auch sagen können, er habe nicht genau genug hingeschaut. Vielleicht auch: nicht genauer hinschauen wollen.
Für alle anderen, die nicht mit Hunderten von Millionen hantieren können und trotzdem gerne den Wohlstand mehren möchten, gibt es eine Abkürzung, die wie ein Zauberwort klingt und erfolgreiche Vermögensanlage auch für Uneingeweihte wie ein Kinderspiel aussehen lässt: ETF. Die Abkürzung suggeriert risikoloses Risiko und steht für «Exchange-Traded Funds». Man könnte es auch «Investieren mit Airbag» nennen. Doch die Abkürzung verschleiert, dass es kein Spiel ist, wenn man etwas aufs Spiel setzt.
Der Airbag-Zeitgenosse hat es zu seiner Lebensmaxime gemacht, dass andere aufs Spiel setzen sollen, was sie wollen. Er begnügt sich mit der Rolle des Zuschauers, wenn waghalsige Athleten den Berg hinunterdonnern oder wenn sich kühle Rechner verspekulieren und ihr Geld aus dem Fenster werfen. Ersteres verschafft ihm Nervenkitzel, Letzteres schadenfreudige Genugtuung. Mehr Aufregung braucht der Scheinheilige nicht.