Donnerstag, Januar 9

Jede Woche demonstrieren die Kiewer gegen das Vergessen. Zehntausende ihrer Brüder, Männer und Freunde sind an der Front gefallen. Die genauen Zahlen sind umstritten und politisch explosiv.

Selbst im Krieg wird in der Ukraine demonstriert – laut und bunt. An diesem Tag haben sich Hunderte von Angehörigen vermisster Soldaten an einer Kiewer Hauptachse versammelt. Die Handvoll Beamter, die mit «Dialogpolizei» angeschrieben sind, hält sich im Hintergrund. Die Demonstranten schwenken die Flaggen der Einheiten ihrer Söhne, Ehemänner und Freunde. Andere tragen handgemalte Schilder: «Bringt sie nach Hause», «Free Azov» oder «Russische Gefangenschaft ist Folter», steht darauf. Sie fordern die Autofahrer auf zu hupen. Fast alle drücken solidarisch auf ihr Horn.

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Es ist eine nur lose organisierte Gruppe, die fast jede Woche irgendwo in Kiew am Strassenrand steht. Die Aktivisten kämpfen dagegen, dass die Kriegsgefangenen und die auf den Schlachtfeldern Vermissten vergessen werden. Sie wollen, dass die ukrainische Regierung mehr tut, um sie freizubekommen. Damit legen sie den Finger auf die schmerzhafteste Wunde: den Preis des Krieges, dem in fast drei Jahren Zehntausende von Soldaten zum Opfer fielen.

Die Ungewissheit der Angehörigen

Das Schwierigste ist dabei die Ungewissheit. Msago Ustjuschanin ist ganz in Weiss gekleidet und hält das Bild ihres Sohnes vor sich. Die Militärbehörden fanden ihn im Oktober 2023 in der Datscha, wo er sich wohl vor der Rekrutierung versteckt hatte. «Er war kein Soldatentyp, eher ein Künstler», sagt seine Mutter. Rasch kam der damals 38-Jährige an die Front südlich von Charkiw und in die 95. Luftlandebrigade. «Von seinem ersten Einsatz kehrte er nie zurück», sagt Ustjuschanin. Ihre Anrufe beantwortete er nicht mehr.

Seither versucht die Krankenpflegerin herauszufinden, was passiert ist. Doch vom Brigadekommandanten hörte sie nur, dass ihr Sohn in einem Gebiet vermisst werde, das nun die Russen kontrollierten. «Er versprach eine Untersuchung. Aber es gab keine», sagt die Kiewerin. In ihrer Verzweiflung wandte sie sich über den Messenger-Dienst Telegram an russische Soldatenmütter auf der anderen Seite des Frontabschnitts. «Sie haben mir sogar geantwortet. Aber auch sie fanden ihn nicht.»

Laut Ustjuschanin sind in ihrer Gruppe 500 Angehörige von Vermissten der 95. Luftlandebrigade lose organisiert. Darin dienen mehrere tausend Mann. Der prestigeträchtige Verband kämpft zuvorderst an einem der härtesten Abschnitte und gehört zu den drei Brigaden mit den höchsten Verlusten in der ganzen Armee. Er ist nicht der einzige, der darüber kaum Angaben macht. Das geschieht aus Angst, dass Fehler der Kommandanten bekanntwürden. Aber die Informationen existieren oft schlicht auch nicht: Die unübersichtliche Front verschiebt sich ständig, die ausgedünnten Einheiten kämpfen im Dauerstress.

Weil das Thema politisch heikel ist, gibt es aber auch von der Regierung in Kiew kaum verlässliche Statistiken. Laut Kiewer Angaben beläuft sich die Zahl der Vermissten auf knapp 54 000. Die Behörden unterscheiden darin nicht zwischen Soldaten und Zivilisten. Die Angaben dürften zudem lückenhaft sein, da die russischen Behörden in den besetzten Gebieten kaum Informationen mit den Ukrainern teilen.

Unbekannte Zahl von Kriegsgefangenen und Toten

Auch Moskaus Listen der Kriegsgefangenen sind intransparent, da internationale Organisationen nur sehr begrenzten Zugang zu den Lagern haben. Dort ist laut der Uno Folter an der Tagesordnung. Russland behauptet, gesamthaft über 6500 ukrainische Kriegsgefangene festzuhalten. Das wären etwa viermal so viele wie Kiew. Ob alle Ukrainer offiziell registriert sind oder weiterhin als Vermisste gelten, bleibt unklar.

Ein verwundeter Unteroffizier mit dem Pseudonym «Schkolnik» (Schüler) demonstriert deshalb an der Browari-Strasse für seine Freunde in Gefangenschaft. Die meisten verteidigten am Anfang des Krieges die Fabrik Asowstal in Mariupol. 2400 von ihnen mussten sich im Mai 2022 ergeben. Von jenen, die zurückkehrten, hat er schreckliche Geschichten gehört.

Der 21-Jährige, der seit Monaten an Krücken geht, glaubt, dass es wichtig ist, den Druck auf der Strasse aufrechtzuerhalten. «Die Politiker machen viel zu wenig», sagt er. «Sie schauen nur für sich und führen den Krieg deshalb weiter.» Vertrauen in Selenski und die Regierung hat er keines, das politische System der Ukraine lehnt er ab. Die auf seine Hand tätowierte Zahl 1488 macht ihn als Vertreter einer auch im Westen bekannten rechtsextremen Bewegung erkennbar.

«Schkolnik» glaubt, dass Russland nur zur Herausgabe der Ukrainer gezwungen werden könne, wenn seine Kameraden an der Front so viele Gefangene machten wie möglich. Der Vorstoss in Kursk sei dafür sehr wichtig gewesen. Dennoch ist der im Donbass bei einem Sturmangriff verletzte Unteroffizier eher pessimistisch über die militärischen Perspektiven. «Die Leute, die uns die Militärführung zur Verstärkung schickt, sind körperlich und mental nicht bereit.» Und von jenen, die motiviert und erfahren seien, habe sein Land viel zu viele verloren.

Die Gesamtzahl der ukrainischen Soldaten, die in den fast drei Jahren des Krieges gegen Russland gefallen sind, bleibt stark umstritten. Lange gab es aus Kiew dazu gar keine Angaben. Dann sprach Selenski im Frühjahr von 31 000 Toten. Vor einigen Wochen erhöhte er die Opferzahl auf 43 000. Auf russischer Seite seien 200 000 Mann umgekommen.

Während letztere Zahl westlichen Schätzungen entspricht, dürfte erstere untertrieben sein. Das ukrainische Portal Ualosses hat zwischen dem 24. Februar 2022 und Anfang Januar 63 500 tote Soldaten dokumentiert. Die Angaben basieren auf Nachrufen sowie Meldungen von Medien und lokalen Behörden. Vermisste sind nicht eingerechnet. Deshalb geht der «Economist» von 60 000 bis 100 000 Gefallenen aus. Etwa einer von 20 Männern zwischen 18 und 50 sei entweder tot oder zu schwer verwundet, um weiterzukämpfen, schreibt das Medium.

Überall frische Soldatengräber

Der gigantische Blutzoll, den die Ukraine für ihre Verteidigung bezahlt, ist auf dem Waldfriedhof von Kiew zu sehen, einem der grössten im Land. In seinem hinteren Teil ist ein ganz neuer Trakt mit Soldatengräbern entstanden. Hunderte von Flaggen wehen im Wind – in den ukrainischen Nationalfarben, oft mit den Motiven der Einheiten. Das erinnert an die Demonstration an der Hauptstrasse. Nur ist die Stimmung noch gedämpfter.

Vor einem frischen Grab haben sich mehrere Dutzend Männer in Uniform aufgestellt. Sie skandieren patriotische Losungen, um einem Gefallenen namens Nikita die letzte Ehre zu erweisen. Der 20-jährige Zugführer der Dritten Sturmbrigade kam an der Front um, als ein anderer Soldat eine Mine auslöste. Diese tötete mehrere Ukrainer.

Eine Blaskapelle spielt die Nationalhymne, die Ehrengarde senkt den Sarg in die Erde. Darauf ist das Emblem der Dritten Sturmbrigade eingebrannt. «Anest», der sich als Nikitas bester Freund vorstellt, steht etwas abseits. «Er war einer der Besten», sagt der Mann, der in der gleichen Brigade dient. «Aber er kämpfte nicht für die Fahne oder Selenski. Er kämpfte, um die zu töten, die in unser Land gekommen waren.»

Er sagt, er werde Nikita würdigen und dann zurück an die Front gehen, um weiterzukämpfen. «Ich muss, weil der Krieg weitergeht und wir viel zu wenige Leute haben.» Bitter beklagt sich der 34-Jährige, dass der Kampf längst vorbei wäre, wenn die Ukrainer das bekämen, was sie brauchten: Material, Panzer, tüchtige Leute. «Aber so haben wir den Krieg schon verloren – weil die Besten tot sind.»

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