Dienstag, März 18

Lionel Voinçon, Vertrauter der Waadtländer Regierungschefin und Stadtrat in Payerne, hat eine angeblich satirische Karnevalsaktion mitorganisiert. Nun wurde er für die nächste Wahl nominiert.

«Wir haben die Kakerlake vergast», pinselte die vermummte Gruppe auf ein Schaufenster in der waadtländischen Kleinstadt Payerne, unweit einer Filiale des Warenhauses Manor. Eine Kakerlake nennt man auf Französisch meist «cafard», aber man kann auch «blatte» sagen, wie es die Gruppe tat. Das klingt wie der Name der jüdischen Filialbesitzer Bladt.

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Auf ein Schaufenster der Familie selbst, die kürzlich den Betrieb ihrer Manor-Filiale aufgegeben hatte, schrieb die Gruppe: «Liquidation totale». Das heisst auf Deutsch eigentlich «Räumungsverkauf», aber meinte hier offensichtlich den Holocaust, zumal die Gruppe hinzufügte: «Sonderangebote von 39 bis 45%».

Die anonymen «Schmierfinken» tragen Masken

Diese Sprüche und weitere rassistische und sexistische Sätze stammen aus der Nacht vom 7. auf den 8. März. Wie jedes Jahr zogen die offiziell sogenannten «Schmierfinken» zum Auftakt des grossen Karnevalwochenendes von Payerne durch die Innenstadt und pinselten von ihnen als «satirisch» bezeichnete Sätze auf insgesamt rund 250 Schaufenster. Die «Schmierfinken» tragen traditionell Masken, um anonym zu bleiben.

Dieses Jahr kam es etwas anders. Mehrere Tage nach dem Vorfall wurde der Name eines Beteiligten bekannt: Lionel Voinçon, einer von fünf Stadträten in Payerne, FDP-Mitglied. Der 31-Jährige war persönlicher Mitarbeiter der Waadtländer FDP-Regierungspräsidentin Christelle Luisier gewesen, bis er im Februar eine Ersatzwahl für die Payerner Regierung gewann. Seitdem galt Voinçon als aussichtsreicher Kandidat für die Wahl für das Stadtpräsidium im April.

Doch sollte die Payerner Allianz aus FDP und SVP Voinçon auch nach seiner Beteiligung an den diskriminierenden Schaufenster-Sprüchen zum Kandidaten machen? Eigentlich wollte die FDP Payerne ihren Kandidaten am vergangenen Donnerstag nominieren. Doch man hörte nichts.

Am Vorabend war Voinçons Beteiligung einer grösseren Öffentlichkeit bekanntgeworden. Der gelernte Jurist liess sich in einer RTS-Sendung interviewen. Danach äusserte er sich auch in den Zeitungen «La Liberté» und «24 Heures» – und zeigte ein eingeschränktes Problembewusstsein.

Er sei überrascht gewesen, dass die Affäre eine politische Wendung genommen habe, sagte Voinçon. Eine linke Waadtländer Kantonsparlamentarierin hatte Fotos der Schaufenster-Sprüche online verbreitet, woraufhin einzelne Parlamentarier im Plenum den Vorfall in Payerne kritisierten. Danach, sagte Voinçon weiter, sei ihm bewusst geworden, dass er und seine Mitstreiter «zu weit gegangen» seien. Sie hätten nicht beabsichtigt, den Betroffenen zu schaden.

Lionel Voinçon las die Sprüche gegen

Die Aktion der «Schmierfinken» in der Nacht auf den 8. März war nicht etwa spontan im Alkoholrausch erfolgt, sondern lange geplant gewesen, wie «24 Heures» herausfand. Voinçon, seit drei Jahren in der Gruppe, feilte mit seinen Mitstreitern wie jedes Jahr mehrere Monate an den Sprüchen.

«Die Texte werden mehrfach überarbeitet», sagte Voinçon, dabei würden sie tendenziell abgeschwächt. Am Ende würden drei bis vier Leute die Texte gegenlesen, erklärte der Präsident des Organisationskomitees des Payerner Karnevals. Dieses Jahr sei kein Text «zensiert» worden.

Voinçon war einer der Schlussleser. Unter seiner Mitverantwortung pinselten die «Schmierfinken» nicht nur antisemitische Sprüche auf Schaufenster. Sondern auch das Wort «Führer» auf eine Pizzeria, eine Anspielung auf angeblich Hunde kochende Asiaten auf ein Thai-Restaurant und eine Andeutung auf die israelischen Pager-Angriffe gegen den Hizbullah auf ein libanesisches Lokal. Sexismus gab es etwa in einem Satz über «Huren» auf einem Hotel.

Die Sprüche blieben offenbar tagelang auf den Schaufenstern. «Vorsicht an jene, die es wagen sollten, sie zu entfernen»: Das schreiben die Veranstalter des Karnevals auf ihrer Website in einer kurzen, allgemeinen Erläuterung zur gut siebzig Jahre währenden «hübschen Tradition» der «Schmierfinken». Diese bestehe darin, «die Ladenbesitzer der Stadt mit pikanten Anekdoten aus dem wahren Leben zu necken».

Payerner ermordeten 1942 einen Juden

Tatsächlich fällt Payerne nicht zum ersten Mal durch Antisemitismus auf. Am bekanntesten ist der Mord von Nazi-Anhängern am Juden Arthur Bloch im April 1942, zum Geburtstag Hitlers. Der in Payerne aufgewachsene Schriftsteller Jacques Chessex, der darüber in seinem 2009 veröffentlichten Roman «Un juif pour l’exemple» schrieb, wurde im selben Jahr am Payerner Karneval verunglimpft: «Hier liegt Chessex begraben», stand auf einem Umzugswagen, das Doppel-s im Stil der Waffen-SS.

Dieses Jahr fuhren auf einem Wagen als orthodoxe Juden verkleidete Personen mit, umgeben von einem goldenen Kerzenleuchter und an Goldmünzen erinnernden Kerzen. Die jüdische Organisation gegen Antisemitismus Cicad kritisierte den Wagen wie auch die antijüdischen Sprüche in einer Mitteilung.

Von Politikern in Payerne und der Waadt insgesamt kam kaum Kritik. Die Stadt bedauerte gegenüber RTS «manche» der Schaufenster-Sprüche. Die Vizestadtpräsidentin Monique Picinali sagte, Satire gehöre zum Karneval und die Teilnahme ihres FDP-Parteifreundes Voinçon sei dessen Privatsache. Am Montag gab die Partei schliesslich doch Voinçons Kandidatur fürs Stadtpräsidium bekannt.

Voinçon selbst beteuerte in Interviews, er habe mit den «Schmierfinken» die Leute nur zum Lachen bringen wollen. Die antisemitischen Sprüche seien «mehr als unangebracht» gewesen, er sei daran nicht beteiligt gewesen. NZZ-Anfragen liess er am Montag unbeantwortet.

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