Micheil Kawelaschwili ist überzeugt, dass die von der Opposition nicht anerkannte Regierung das Land vor dem Schlimmsten bewahrt hat. Für die politische Krise macht er äussere Einflüsse verantwortlich. Er sieht Georgien weiter auf EU-Kurs.
Herr Präsident, Sie haben Ihr Amt mitten in einer schwierigen politischen Lage angetreten. Sie und die Regierung stehen von aussen und im Innern unter Druck. Welche Akzente wollen Sie in dieser Situation setzen?
Wir sind eine parlamentarische Republik. Gemäss der Verfassung ist die Rolle des Staatspräsidenten überparteilich. Meine Vorgängerin (Salome Surabischwili, Anm. d. Red.) setzte sich leider darüber hinweg und weckte damit Erwartungen in der Gesellschaft. Das war nicht korrekt. Ich möchte ein Präsident für alle Bürger sein. Meine wichtigste Motivation ist es, das Amt in den verfassungsmässigen Rahmen zurückzuführen. Und was die Krise anbelangt: Diese politische Lage ist nicht neu. Seit ich in der Politik bin, gibt es das.
Sie können aber die Spannungen in der Gesellschaft nicht leugnen. Es gibt ja sogar Ängste in der Bevölkerung, dass sie zu einem Bürgerkrieg führen könnten.
Ja, ohne Zweifel haben wir die Erfahrungen des Bürgerkriegs zu Beginn der neunziger Jahre gemacht. Meine und die ältere Generation erinnern sich sehr gut daran. Auch damals gab es auswärtige Kräfte, die uns nicht gewogen waren, und wir konnten den Bürgerkrieg nicht verhindern. Die Regierung berücksichtigt das. Sie verhält sich ziemlich vernünftig. Diese Krise ist künstlich zustande gekommen.
Was meinen Sie mit «künstlich»?
Demokratische Transformationsländer kommen immer wieder in solche Situationen. Aber zu einem Bürgerkrieg könnte es nur kommen, wenn er von aussen inspiriert wäre. In unserem Fall wurde die Lage durch den russisch-ukrainischen Krieg verschärft.
Das müssen Sie genauer erklären.
Kaum hatte der Krieg begonnen, verlangten Vertreter ausländischer Regierungen, dass wir uns an dem Krieg gegen Russland beteiligen. Hochrangige ukrainische Beamte forderten uns auf, Freiwillige zu entsenden. Auch an den Wirtschaftssanktionen gegen Russland sollten wir uns beteiligen, ja sogar Waffen sollten wir liefern, auch wenn das lächerlich klingt. Da wir mehrmals in militärischen Auseinandersetzungen mit Russland gestanden hatten, letztmals 2008, ein Teil unseres Landes russisch besetzt ist und wir es mit einer Atommacht zu tun haben, lehnten wir das ab. Wir sind weder Mitglied der EU noch der Nato. Eine Beteiligung am Krieg hätte uns Schaden zugefügt. Daraufhin wurde Druck auf uns ausgeübt.
Inwiefern?
Zunächst betraf es den EU-Kandidaten-Status. Innerhalb des EU-Kandidaten-Trios Ukraine, Moldau und Georgien hatten wir die für den Kandidatenstatus notwendigen Hausaufgaben am besten erledigt. Trotzdem hat Georgien den Status erst nicht bekommen. Das war völlig unverständlich.
Sie haben auch früher, als Abgeordneter, die USA und die EU harsch kritisiert.
Ich gründete nach diesen Vorfällen mit anderen Abgeordneten eine eigene Gruppierung namens Volkskraft. Unser Ziel war es, die georgischen Bürger ehrlich über diese Druckversuche zu informieren. Es gab auch damals Proteste gegen die Regierung. Aber die Hauptfrage ist doch: Was wäre mit Georgien geschehen, hätten wir den Forderungen nachgegeben? Wir sehen es in der Ukraine, die von vielen Ländern unterstützt wird und trotzdem das grosse Russland nicht aufhalten kann. Unser Schritt war mutig. Er bedeutete die Rettung Georgiens. Es gibt keine Alternative zum Frieden. Das ist jetzt gut zu sehen nach dem Wahlsieg von Donald Trump. Er und sein Aussenminister Marco Rubio sagen genau das, was wir schon immer gesagt haben. Dass wir antiamerikanisch oder antiwestlich gehandelt haben sollen, ist Desinformation.
Sie sprechen jetzt von äusseren Einflüssen. Aber es war der Eindruck entstanden, die Regierung klammere sich an die Macht und gehe bewusst gegen ihre Gegner und zum Teil auch gegen die Presse vor. Schadet das nicht der Glaubwürdigkeit Georgiens?
Leider wurden die Bürger in unseren westlichen Partnerländern sehr schlecht informiert. Dabei weiss ich aus meiner Erfahrung in der Schweiz selbst, dass ein Bürger immer auch eine Alternativmeinung braucht und sich nicht nur auf eine Quelle berufen kann. Das gehört zu den europäischen Grundwerten. In unserem Fall sehen wir eine grosse Desinformation und den Versuch, die georgische Regierung zu isolieren und die Realität unter einem ganz anderen Blickwinkel darzustellen.
Nicht alle Medien haben einseitig berichtet. Wie kommen Sie zu diesem Schluss?
Ich beteiligte mich bereits zum neunten Mal an Wahlen. Im Vergleich mit den vorangegangenen waren das wahrscheinlich die besten gewesen. Die Ergebnisse erstaunten den grössten Teil der Bevölkerung nicht. Meine Vorgängerin behauptete aber, der Georgische Traum habe die Wahlen gefälscht und der russische Geheimdienst stecke dahinter. Das alles wurde von den Weltmedien übernommen. So eine Desinformation ist völlig unannehmbar von einer Staatspräsidentin. Die internationalen Medien machten mit meiner Vorgängerin Interviews und verbreiteten ausschliesslich ihren Standpunkt. Niemand bemühte sich darum, den Standpunkt der Regierung einzuholen. Für die Europäer klang das glaubwürdig. Das ist doch eine Beleidigung der europäischen Bürger!
Ihre Vorgängerin beharrt darauf, weiterhin die legitime Präsidentin zu sein.
Unser Blick ins Präsidentenarchiv zeigt leider, dass sie das schon vor den Wahlen geplant hatte. Aber der Staatsanwaltschaft wurden keine Beweise für Wahlfälschungen vorgelegt. Auch die Hauptbewertung im Bericht der OSZE besagt, dass die Wahl demokratisch ablief. Die Bürger konnten sich frei entscheiden. Das ist die Realität. Niemand kann sagen, dass Micheil Kawelaschwili nicht rechtmässig gewählt wurde.
Es gab aber Berichte darüber, dass die Bürger sich eingeschüchtert gefühlt haben.
Es stimmt nicht, dass jemand wie ein Sklave für den Georgischen Traum abstimmt. Die Bürgerinnen und Bürger sind sehr kritisch. Aber auch für sie sind, wie für uns, Frieden, Stabilität und ein zielgerichtetes Tempo auf dem Weg nach Europa sehr wichtig. Dazu gibt es keine Alternative. Gäbe es eine vernünftige Opposition, die den Anforderungen der georgischen Bevölkerung genügt, dann wäre sie konkurrenzfähig und könnte den Georgischen Traum ablösen. Die Kräfte, die behaupten, uns in die EU führen zu wollen, beschädigen ganz im Gegenteil dieses Ziel.
Sie haben die proeuropäische Haltung der Bevölkerung angesprochen. Nun gehen die Leute seit Ende November auf die Strasse, weil sie das Gefühl haben, gerade dieser Weg sei jetzt durch die Regierung verbaut worden. Wie wollen Sie den in der Verfassung festgeschriebenen Weg trotzdem fortführen?
Unsere Handlungen sind sehr überlegt, vernünftig, angemessen und langfristig angelegt. Es sind Abgeordnete des Europaparlaments, einzelne Bürokraten, einzelne Aussenminister, die jegliche demokratischen Werte verletzen. Deren Einmischung, etwa bei Auftritten an Wahlkampfveranstaltungen, ist inakzeptabel. Weil wir wissen, woher das inspiriert ist und wer dahintersteckt, können wir dem entgegentreten. Wir haben die Hoffnung darauf, dass die Realpolitik zurückkehrt, die Objektivität.
Trotzdem sind viele Bürger unzufrieden und demonstrieren jeden Abend.
Natürlich haben wir die Realität in Tbilissi, aber ohne unsere vernünftigen Schritte wäre es viel schlimmer gekommen, wir haben einen Krieg verhindert. Wir stoppten die Gespräche mit der EU, weil wir uns den Forderungen Brüssels nicht beugen wollten. Denn diese sind kein Verhandlungsgegenstand. Wenn konkrete sachliche Fragen aufgeworfen werden, sind wir jederzeit bereit, die Gespräche wiederaufzunehmen. Gerade deshalb sagte ich, dass es künstlich ist. Man will durch die Demonstrationen revolutionäre Prozesse einleiten.
Das heisst, Sie sehen darin nur eine Einmischung von aussen?
Der Georgische Traum hat zum neunten Mal gewonnen. Gleichzeitig zeigen Umfragen, dass achtzig Prozent für die europäische Integration eintreten. Wenn der Georgische Traum eine «russische Regierung» und gegen den europäischen Weg wäre, wie würde das zusammenpassen? Die Mehrheit der georgischen Bürger hat volles Verständnis für die Schritte der Regierung. Es ist nicht die Mehrheit, die auf die Strasse geht. Gut, wir haben das zu berücksichtigen, aber wogegen protestieren diese Leute? Warum wieder Wahlen? Die Wahlen haben schon stattgefunden. Und wenn die Neuwahlen stattfänden: Was wäre, wenn wieder nicht diese Parteien gewännen?
Die USA haben Sanktionen gegen georgische Funktionäre verhängt. Nun hat eine neue Administration in Washington übernommen. Was erhoffen Sie sich von ihr?
Trump und sein Team haben immer wieder gesagt, der Frieden habe Priorität. Auch Werte, die Georgien verteidigt, um die Traditionen aufrechterhalten zu können, stimmen mit den Werten Trumps überein. Das gibt uns die Hoffnung auf einen Neuanfang. Etwas Ähnliches wird auch in der EU stattfinden. Jedes Land soll aus eigenen Interessen heraus handeln können.
Wie soll eine EU aussehen, der Georgien angehören könnte?
Eine sehr gute Frage. Wenn wir eine vernünftige Opposition hätten, hätten wir mit unseren Bürgern genau diese Frage angeschnitten. Meine Erfahrung in der Schweiz zeigt mir, wie solche Themen erörtert werden können. Sobald die künstlichen Einmischungen beendet sind, werden auch wir darüber diskutieren können, was Georgien Europa und was Europa Georgien bringen kann.
Es geht um unsere Heimat, unsere Sprache und den christlichen Glauben. Ein Georgier verbindet die Existenz und den Glauben miteinander; ohne Sprache und Religion hätte Georgien nicht überlebt. Wir sind kein grosses Volk. Vielfalt, Diversität, das ist unser Anspruch. Wir dürfen nicht unsere Unterschiede aufgeben und nur noch Europäer sein.
Die Regierung und auch Sie persönlich werden oft als «prorussisch» bezeichnet. Was bedeutet das für Sie?
Ja, leider hat mich kürzlich auch ein früherer Schweizer Botschafter in Georgien als prorussischen, antiwestlichen Politiker bezeichnet. Dieser Begriff klingt in Georgien sehr schmerzhaft, weil der nördliche Nachbar Teile unseres Landes besetzt hält. Wenn man eine abweichende Meinung hat und die Wahrheit sagt, wird man als «prorussisch» bezeichnet – ohne zu überlegen, dass man von einem Menschen wie von einem Feind spricht. Solche Klischees sollten der Vergangenheit angehören.
Welche Perspektiven sehen Sie für das Verhältnis zu Russland?
Russland hat georgische Gebiete besetzt. Wir haben keine diplomatischen Beziehungen, nur wirtschaftliche. Im Zentrum steht für uns aber die Friedenspolitik Georgiens. Das gilt allen gegenüber. In unseren besetzten Gebieten leben Abchasen und Osseten, unsere Brüder und Schwestern, die jahrhundertelang mit uns zusammenlebten. Wir glauben, dass diese Besetzung vorübergehend ist. Wir hoffen auf die weitere Koexistenz in einem einheitlichen, entwickelten Georgien. Diese Friedenspolitik wollen wir auch für Russland verständlich machen. Wir wollen nicht nur ein Feld der Auseinandersetzung der Grossmächte, sondern dank unserer geografischen Lage eine Brücke sein.
Fussballspieler und Politiker
mac. Tbilissi · Micheil Kawelaschwili ist erst Ende Dezember in den Orbeliani-Palast eingezogen, den Amtssitz des georgischen Präsidenten. Das weisse Gebäude aus dem Ende des 19. Jahrhunderts war für die Dichterin und Gelehrte Elizabeth Orbeliani gebaut worden. Zum Sitz des Präsidenten wurde es 2018. Kawelaschwili, 1972 geboren, hatte als Fussballspieler Karriere gemacht. Jahrelang lebte und arbeitete er in der Schweiz. «Ich kann einen Zürcher von einem Basler oder Luzerner unterscheiden, auch in den charakterlichen Feinheiten», sagt er. Von der Schweiz hält er sehr viel. Ab 2016 war er Abgeordneter der Regierungspartei Georgischer Traum. Überraschend schlug der starke Mann in Tbilissi, der Milliardär Bidsina Iwanischwili, ihn Ende 2024 für das Präsidentenamt vor. Die georgische Opposition erkennt seine Wahl nicht an, weil das Wahlgremium aufgrund der von ihr nicht akzeptierten Parlamentswahlen vom vergangenen Oktober zusammengesetzt war.