Donnerstag, Mai 29

Die italienische Schriftstellerin Dacia Maraini war 1943 mit ihren Eltern in ein japanisches Internierungslager deportiert worden. Im Gespräch mit Roman Bucheli erzählt sie von der grausamen Haft, als sie fast verhungerten und eine mutige Tat ihres Vaters sie rettete.

Alles an ihr ist blau: die meerblaue Bluse, der nachtblaue Hosenanzug und die himmelblaue Brille mit blau getönten Gläsern. Dahinter hellwache Augen. Die zierliche 89-Jährige kommt mit entschiedenem Schritt auf den Besucher zu, sie reicht die rechte Hand, die mit einer Manschette geschützt ist. Nichts Schlimmes, sagt Dacia Maraini auf die besorgte Frage. Sie sei gestürzt, aber zum Glück seien alle Knochen heil geblieben. So vieles sei schon in die Brüche gegangen, fügt sie hinzu. Vermutlich sei es eine Folge der Unterernährung im Krieg. Dacia Maraini ist die Grand Old Lady der italienischen Literatur, ihr Werk wurde mit allen bedeutenden Preisen ausgezeichnet. Sie war lange die Weggefährtin von Alberto Moravia und eng befreundet mit Pier Paolo Pasolini, mit dem sie lange Reisen nach Asien und Afrika unternahm. Gerade sind auf Deutsch ihre Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg erschienen, als sie mit ihren Eltern in Japan in Gefangenschaft war.

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Frau Maraini, Sie waren noch nicht ganz 9 Jahre alt, als am 8. Mai 1945 in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Für Sie dauerte das Martyrium danach noch weiter an.

Meine ganze Familie war 1943 in Japan in ein Konzentrationslager für Antifaschisten deportiert worden. Die Befreiung kam für uns erst nach dem Abwurf der Atombomben in Nagasaki und Hiroshima im August 1945. Wir waren massiv unterernährt und überlebten nur knapp.

Ihre Familie fand sich bei Kriegsausbruch in Japan wie in einer Falle wieder. Wie war es dazu gekommen?

Mein Vater war Anthropologe und hatte sich erfolgreich für ein Forschungsstipendium in Japan beworben. 1938 ging er mit meiner Mutter und mir nach Sapporo, um dort die Lebensweise eines alten Naturvolkes zu studieren.

Hat Ihr Vater Italien auch aus politischen Gründen verlassen?

Mein Vater war ein Gegner der Faschisten, vor allem aus ethischen Gründen, weil er den Rassismus ablehnte.

Sie waren zwei Jahre alt, als Sie in Japan ankamen. Haben Sie Erinnerungen an die ersten Jahre in Sapporo?

Die Gastfreundschaft der Japaner war sehr gross. Ich kam bald mit anderen Kindern in Kontakt und lernte von ihnen Japanisch. Doch bei Kriegsausbruch und vollends nach dem Kriegseintritt Japans sassen wir fest. An unserem Leben änderte sich zunächst wenig. Wir zogen nach Kyoto, wo mein Vater eine Stelle an der Universität bekam.

1943 änderte sich die Situation schlagartig. Die ganze Familie wurde in ein Lager deportiert. Was war geschehen?

In diesem Jahr unterzeichnete Japan einen Pakt mit Hitler und Mussolini. Die faschistische Regierung Italiens forderte danach alle im Ausland lebenden Italiener auf, ein Treuebekenntnis abzulegen. Meine ahnungslosen Eltern wurden von den japanischen Behörden vorgeladen. Mein Vater lehnte es ab, eine solche Erklärung zu unterzeichnen, ebenso tat das meine Mutter, die getrennt von ihm mit der gleichen Aufforderung konfrontiert worden war. Darauf wurde die ganze Familie, es waren inzwischen noch zwei Geschwister geboren worden, in ein Gefangenenlager nach Nagoya deportiert. Hier sperrte man uns zwei Jahre lang ein.

Sie waren ein Kind, konnten Sie begreifen, was mit Ihnen geschah?

Die politischen Hintergründe habe ich erst später verstanden. Aber mein Körper wusste, dass er grausam behandelt wurde. Ich hatte Hunger, war krank, litt unter Parasiten, ich konnte nicht mehr schlafen. Ich ass sogar Ameisen und Schlangen.

Haben die Eltern versucht, Ihnen zu erklären, was passiert ist?

Sie versuchten uns abzulenken, und da ich längst hätte in die Schule gehen müssen, unterrichteten mich meine Eltern. Wir setzten uns unter den einzigen Baum im Hof, und mein Vater lehrte mich Mathematik und Philosophie, meine Mutter erzählte mir von Dante und Leopardi.

Konnten Sie schon lesen oder schreiben?

Es gab keine Bücher, wie hätte ich lesen sollen. Meine Eltern erzählten mir, was sie aus den Büchern noch auswendig konnten.

Wie gingen Ihre Eltern mit der Ungewissheit und der Grausamkeit um?

Mein Vater rebellierte gegen die sadistischen Wächter und warf ihnen vor, selbst uns Kinder wie politische Häftlinge zu behandeln. Nach etwas mehr als einem Jahr kam es zu einer furchtbaren Konfrontation mit den japanischen Soldaten. Wir hörten den Vater plötzlich brüllen, sahen Blut und begriffen erst da: Mein Vater hatte sich mit einem Beil den kleinen Finger abgehackt und diesen dem Wächter auf die weisse Uniform geworfen. Dieser zog sein Schwert und schien sich auf meinen Vater stürzen zu wollen. Es gab ein riesiges Geschrei, meine Mutter fiel in Ohnmacht. Mein Vater aber kannte die alten Rituale der Samurai und wusste, dass er mit einer solchen Selbstverstümmelung die Wächter ins Unrecht versetzte. Er kam zwar eine Woche in Einzelhaft, doch dann brachte man uns eine kleine Ziege, die uns von da an etwas Milch gab. Diese Ziege hat uns das Leben gerettet.

Sie erzählen diese Ereignisse in Ihrem vor zwei Jahren in Italien erschienenen Buch, das nun auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde. Warum haben Sie so lange gewartet?

Weil es mich geschmerzt hat. Es ist, wie wenn man alte Wunden wieder öffnet. Das Buch habe ich natürlich vor vielen Jahren begonnen. Aber ich kam nie recht voran damit. Doch in diesen Zeiten, da wieder an vielen Orten Kriege geführt werden, verstand ich es auch als eine Verpflichtung, diese Erinnerungen aufzuzeichnen.

Gab es also neben der psychologischen auch eine politische Notwendigkeit?

Ein solches Zeugnis, so dachte ich, hat grösseres Gewicht als ein abstraktes Bekenntnis gegen den Krieg. Wir sind alle gegen den Krieg. Doch man muss konkrete Geschichten erzählen, um die Menschen aufzurütteln.

Das Buch ist auch ein Zeugnis gegen den Faschismus. Könnte man etwas zugespitzt sagen, dass es Ihre Antwort auf Giorgia Meloni ist?

Indirekt, ja, gewiss. Allerdings muss ich sogleich hinzufügen, wie wichtig es symbolisch ist, dass Italien eine Ministerpräsidentin hat. Denn das bedeutet: Es ist möglich, gegen die Männerbastion anzukommen. Doch ich bin mit vielem überhaupt nicht einverstanden, was Giorgia Meloni politisch vertritt.

Als Feministin müssten Sie doch stolz sein auf sie?

Ich bin ja auch stolz darauf, dass Giorgia Meloni Regierungschefin ist. Ich wünschte mir einfach, sie würde andere politische Positionen vertreten. Zugleich muss man Meloni zugestehen, dass sie lernfähig ist. Als Oppositionspolitikerin stieg sie immer wieder auf die Barrikaden. Der Ton ist sehr viel versöhnlicher geworden, und sie ist intelligent genug, um zu verstehen, dass sie jetzt eine andere Rolle hat. Doch die Leute um sie herum sind ein Problem. Zu viele in ihrer Partei kokettieren noch immer mit faschistischen Ideen und Emblemen.

Fratelli d’Italia hat ein Viertel der Stimmen erhalten in den letzten Wahlen. Fehlt es in Italien an historischem Bewusstsein?

Das ist tatsächlich ein Problem. An den Schulen kommt der Faschismus nicht mehr vor. Beim Ersten Weltkrieg hört der Unterricht auf. Da entsteht eine schreckliche Bildungslücke.

Was heute in den Schulen geschieht, ist das eine, das andere ist die Frage, ob Italien genügend getan hat, um die faschistische Vergangenheit aufzuarbeiten?

Das ist ein grosses historisches Versäumnis. In Deutschland zum Beispiel gab es die Nürnberger Prozesse, sie waren fundamental. In Italien hat es nichts Vergleichbares gegeben. Die Politiker hatten Angst vor einem Bürgerkrieg. Viele Faschisten, die verantwortlich waren für schwere Verbrechen, blieben unbehelligt.

Sie kämpften als Feministin für die Rechte der Frauen. Inzwischen gibt es Gleichstellungsgesetze, und Italien hat erstmals eine Ministerpräsidentin. Aber hat sich die Mentalität verändert?

Natürlich ist es einfacher, ein Gesetz zu ändern als die Mentalität der Menschen. Es gibt bei der Rechten Bestrebungen, wieder zum alten Familienbild und zu den alten Rollen zurückzukehren. Aber es ist eine Minderheit, die Mehrheit der Italiener hat begriffen, dass sich die Zeiten geändert haben. Dennoch wird alle zwei bis drei Tage in Italien eine Frau ermordet. Das ist eine Tragödie.

Man muss bloss italienisches Fernsehen schauen, um zu sehen, wie sehr das Land noch immer fixiert ist auf traditionelle Rollenmodelle. Woran liegt das?

Tatsächlich muss eine Frau am Fernsehen nicht nur intelligent sein, sie muss auch gut aussehen. Es hat mit der Sprache der Verführung zu tun. Eine Frau muss verführerisch aussehen und verführen. Busen, Beine, lange Haare und hohe Absätze: Frauen müssen diese Körpersprache am Bildschirm ausspielen wollen und können. Das ist demütigend für die Frauen.

Wieso rebellieren die Frauen nicht? Es sind ja durchaus intelligente Moderatorinnen, die sich auf diese Weise zu Komplizen stereotyper Fixierungen machen.

Man muss sich eine solche Rebellion auch leisten können, denn häufig ist Attraktivität die Voraussetzung dafür, eine Stelle überhaupt zu erhalten. Aber es bleibt eine Demütigung. Ich sehe darin eine Form von Gewalt.

Könnte Giorgia Meloni ein neues Rollenmodell sein?

Erstaunlicherweise tut Giorgia Meloni genau das. Als sie noch Oppositionspolitikerin war, trug sie tief ausgeschnittene Kleider, die Haare waren lang und die Absätze hoch. Jetzt hat sie ihren Stil komplett geändert. Sie kleidet sich sehr viel nüchterner, keine hohen Absätze mehr. Sie wird bemerkt haben, dass sie in ihrer neuen Rolle anders auftreten muss.

Erlauben Sie noch eine persönliche Frage: Wieso sind Sie immer blau gekleidet?

Weil mir die Farbe gefällt. Es ist meine Farbe.

Haben Sie einfach eines Tages beschlossen: ab jetzt nur noch Blau?

Nein, schon als Kind hatte ich eine grosse Vorliebe für Blau. Die Farbe zieht mich an. Als Kind malte ich alles in Blau. Ich weiss nicht, wieso. Ich kann es nicht erklären. Es ist nichts Rationales. Es macht mir einfach Freude. Vielleicht ist es die Farbe des Himmels.

Dacia Maraini: Ein halber Löffel Reis. Kindheit in einem japanischen Internierungslager. Aus dem Italienischen von Ingrid Ickler. Folio-Verlag, Wien 2025. 236 S., Fr. 37.90.

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