Mit dem Einsatz seiner Soldaten an der Seite Russlands wird das Kim-Regime selbst zum Aggressor. Der ukrainische Präsident Selenski sieht darin einen Schritt in Richtung Weltkrieg.
Rund 11 000 nordkoreanische Soldaten stehen offenbar in Russland an der Grenze zur Ukraine bereit – und es könnten noch deutlich mehr werden. Dies sagte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski in einer Sondersitzung des Europäischen Parlaments, zu der er anlässlich des 1000. Tags seit dem Grossangriff des Kremls zugeschaltet war. Das Kontingent könnte auf 100 000 steigen, erklärte Selenski.
In den vergangenen Wochen war es in der russischen Region Kursk bereits zu ersten Gefechten zwischen ukrainischen und nordkoreanischen Soldaten gekommen. Seit einer Überraschungsoffensive im Sommer kontrollieren die Streitkräfte Kiews einen Teil der russischen Grenzprovinz. Sein Land müsse nun gegen zwei Staaten kämpfen, sagt Selenski. Die Beteiligung Pjongjangs sei der erste Schritt in Richtung eines Weltkriegs.
Nordkorea unterstützt die illegale Aggression
Asiatische Truppen auf europäischem Boden markieren unabhängig von ihrem Einfluss auf den Kriegsverlauf tatsächlich eine Zäsur. Nordkorea macht sich damit wie Russland des Verbrechens der Aggression schuldig, weil es keine völkerrechtliche Rechtfertigung für diesen Krieg gibt.
Laut einer Definition der Aggression durch die Uno-Generalversammlung aus dem Jahr 1974 reicht dafür bereits, dass ein Staat Truppen entsendet, die sich an Angriffshandlungen beteiligen. Damit gibt es ein gutes Argument dafür, dass Nordkorea selber Aggressor ist, wie Alexander Wentker vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht erklärt. Zumindest leiste Pjongjang Beihilfe zur Aggression Russlands, womit die Entscheidungsträger des Regimes von Kim Jong Un als Gehilfen agierten und deshalb ebenfalls gegen Völkerrecht verstiessen.
Die Ukraine darf sich gegen Nordkorea mit allen Mitteln verteidigen, die zur Beendigung des Angriffs notwendig und verhältnismässig sind – auch mit den westlichen Verbündeten und theoretisch auch auf nordkoreanischem Boden. Daran ändert nichts, dass sich die Nordkoreaner vorläufig nur auf russischem Gebiet rund um Kursk aufhalten. Sie beteiligen sich dennoch am internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine, in dem Kiews Selbstverteidigungsrecht über die Grenzen hinaus reicht.
Deshalb ist auch Moskaus Argument falsch, sich in Kursk gegen einen ukrainischen Angriff zu verteidigen. Es gebe keine Selbstverteidigung gegen Selbstverteidigung, sagt Wentker. Nur die Ukraine könne sich rechtmässig verteidigen, weil Russland zuerst angegriffen habe. Das gelte gleichermassen für Nordkorea.
Eine andere Frage ist, ob Nordkoreas Unterstützung den Staat zur Kriegspartei macht – und die Antwort ist weniger eindeutig. Wentker, der in Oxford zu diesem Thema promoviert hat, nennt zwei erforderliche Kriterien für den Parteistatus: Zum einen muss ein direkter Bezug zu Kampfhandlungen gegeben sein, und zum anderen muss eine enge Koordinierung mit den Militäroperationen des unterstützten Staates vorliegen.
Von Russen aus dem fernen Osten kaum zu unterscheiden
Beides ist bei den Nordkoreanern in Kursk nach allen vorliegenden Informationen der Fall. Es könnte aber eine so weitgehende Koordinierung mit den russischen Streitkräften vorliegen, dass ihre Handlungen Moskau zuzurechnen sind und nicht Pjongjang. Klar ist, dass die nordkoreanischen Truppen weitgehend in die russische Operationsplanung integriert werden müssen. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministers Rustem Umerow tragen sie russische Uniformen und sind dadurch von Soldaten aus dem Osten Russlands mit asiatischer Physiognomie auf den ersten Blick nicht zu unterscheiden.
Würden die Soldaten den russischen Einheiten vollständig unterstellt, könnte eine sogenannte Organleihe vorliegen. Verantwortlich für ihre Handlungen wäre dann nicht Nordkorea als Entsendestaat, sondern nur Russland, dem das Organ – also die Truppen – zur Verfügung gestellt wurden. Das Völkergewohnheitsrecht verlangt dafür aber nach dem Entwurf einer Uno-Kodifikation zur Staatenverantwortlichkeit, dass das Organ «unter der ausschliesslichen Führung und Kontrolle» des anderen Staates handelt – Nordkorea also salopp formuliert überhaupt nichts mehr zu sagen hat.
Das ist vor dem Hintergrund des totalitären Kim-Regimes und auch aus praktischen Gründen schwer vorstellbar. Wahrscheinlicher sei, dass die nordkoreanischen Truppen auch Befehle aus Pjongjang entgegennähmen, meint Wentker. Darauf deutet auch hin, dass offenbar Hunderte von Offizieren nach Russland entsandt wurden und die Einheiten vom Dreisternegeneral Kim Yong Bok geleitet werden, wie das «Wall Street Journal» berichtet. Er ist stellvertretender Generalstabschef der nordkoreanischen Streitkräfte und wurde immer wieder an der Seite Kim Jong Uns gesehen.
«Generäle werden nicht komplett in die russischen Befehlsketten eingegliedert sein», sagt Wentker. Damit müsse sich Nordkorea die Handlungen seiner Soldaten zurechnen lassen. Der Völkerrechtler geht deshalb eher von einer engen Koordinierung zweier Kriegsparteien auf derselben Seite des Konflikts aus als von einer vollständigen Integration in dieselbe Kriegspartei.
Das unterscheidet die asiatischen Soldaten auch von ausländischen Freiwilligen, die sich etwa der Internationalen Legion der ukrainischen Territorialverteidigung angeschlossen haben. Sie sind nicht von ihren Herkunftsstaaten entsandt oder befehligt, sondern vollständig in die Armee der Ukraine integriert. Auch Waffenlieferungen an Kiew und selbst die Ausbildung an diesen Systemen machen die betreffenden Staaten nicht zu Kriegsparteien, solange alle Entscheidungen über den Einsatz von ukrainischen Soldaten gefällt werden. Es fehlen dann der direkte Bezug zu Kampfhandlungen und die enge Koordinierung – es sei denn, unterstützende Kräfte würden Zieldaten für konkrete Schläge selbst eingeben.
Würden westliche Staaten Kampftruppen in die Ukraine schicken, wie es regelmässig thematisiert wird, würden sie dagegen Kriegspartei – im Unterschied zu Nordkorea handelten sie aber nicht völkerrechtswidrig. Das Selbstverteidigungsrecht darf explizit auch kollektiv ausgeübt werden.