Dienstag, Oktober 1

Die Stadt Zürich kann bei der Energiewende nicht vorwärtsmachen, wie sie gerne möchte. Gleich von mehreren Seiten gibt es Widerstand.

Herr Baumer, der Kanton Zürich plant einen grossen Ausbau der Windkraft. In der Stadt Zürich gab es ebenfalls ein Potenzialgebiet für eine Anlage, dieses ist einzig wegen der Flughafennähe gestrichen worden. Sind Sie grundsätzlich für die Windkraft?

Ich finde es richtig, dass wir diese Diskussion um unsere Energiezukunft auch in der Stadt Zürich führen, obwohl wir nicht direkt betroffen sind. Auch wir in der Stadt sind auf den Windstrom angewiesen.

Was sagen Sie den Einwohnern, die um ihre Naherholungsgebiete fürchten?

Bei solchen Projekten geht es immer um eine Interessenabwägung. Was gewichten wir höher: die Energieversorgung oder den Landschafts- und Naturschutz? Diese Abwägung müssen wir mit aller Ernsthaftigkeit vornehmen.

Sie selber wären aber offen für einen Windpark auf städtischem Gebiet, wenn dies technisch möglich wäre?

Schauen Sie, das allererste Kraftwerk im Kanton Zürich entstand einst in der Stadt, das Wasserkraftwerk Letten an der Limmat. Wir produzieren schon seit langem eigenen Strom. Ich finde es richtig, dass wir auch weitere Projekte prüfen. Generell gilt: Die Energieproduktion muss in der ganzen Schweiz ausgebaut werden. Darum kommen wir nicht herum. Im Fokus stehen vor allem die erneuerbaren Energien – sei es nun Wasser-, Solar- oder Windkraft. Auch im Kanton Zürich gibt es noch Potenzial.

Sie sind also voll auf der Linie von Martin Neukom, dem grünen Energieminister im Kanton Zürich?

Selbstverständlich sollten wir dort ausbauen, wo es am sinnvollsten ist. Wichtig ist, dass wir nicht gegen die lokale Bevölkerung planen. Das bedingt, dass wir Projekte gut erklären und die Leute überzeugen. Beim Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) investieren wir nur in Projekte, die wir als klar bewilligungsfähig erachten. Nur so können wir jahrelangen, mühsamen lokalen Widerstand minimieren.

Würden Sie sich als Stadtrat gegen einen Bau von Windrädern auf Stadtgebiet einsetzen, wenn die Bevölkerung vor Ort Vorbehalte hätte?

Das ist eine akademische Diskussion, weil es kein Projekt gibt. Aber nehmen wir ein anderes, konkretes Beispiel. Das EWZ plant am Col du Mollendruz im Waadtland einen grossen Windpark. Dort haben wir die betroffenen Gemeinden früh und gut in die Planung einbezogen, und sie sind auch an den Erträgen beteiligt. Genau so sollte es laufen. Die lokale Bevölkerung hat dem Projekt an der Urne letztlich zugestimmt.

Ist Mollendruz wirklich ein gutes Beispiel? Dort planen Sie nun seit rund fünfzehn Jahren. Die Windräder stehen immer noch nicht.

Es braucht Ausdauer, das ist klar. Was uns im konkreten Fall bremst, sind Einsprachen von Umweltverbänden. Zum Glück hat das Bundesgericht kürzlich in unserem Sinne geurteilt. Die langen Verfahren sind tatsächlich ein Problem, das man auf Bundesebene anpacken muss. Das Stromgesetz hat gewisse Verbesserungen gebracht, aber das reicht nicht. Wenn ich sehe, dass Rekurse sinnvolle Projekte jahrelang verzögern, ärgert mich das.

Ausgebremst wurden Sie jüngst auch im Kanton Graubünden. Die Gemeindeversammlung von Surses hat sich gegen eine alpine Solaranlage gestellt. Haben Sie schlecht verhandelt?

Das denke ich nicht. Wir haben dieses Projekt eng zusammen mit den Gemeindebehörden geplant. Die Gemeindeversammlung gewichtete den Naturschutz dann höher. Das akzeptieren wir. Jetzt bauen wir diese Anlage nicht.

Sind Sie enttäuscht?

Dass es lokalen Widerstand gibt, kann es geben. In der Regel profitieren die Standortgemeinden aber von solchen Projekten, gerade auch finanziell. Darum bin ich sicher, dass wir andere Standorte für den Energieausbau finden werden. Wir wollen nichts durchdrücken an Orten, wo dies nicht gewünscht ist.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den Berggemeinden? Der Eindruck ist, dass diese schwieriger geworden ist.

Das EWZ pflegt eine jahrzehntelange gute Partnerschaft mit dem Kanton Graubünden und vielen Berggemeinden. Zurzeit führen wir Diskussionen, wie es namentlich mit den Konzessionen für die Wasserkraft weitergehen soll. Diese laufen aus, und die Standortgemeinden und der Kanton können bei einem Heimfall die Anlagen übernehmen.

Ist das ein Problem für Zürich?

Für uns ist es wichtig, dass wir Planungssicherheit haben, gerade dort, wo wir investieren wollen. Solange nicht klar ist, ob am Standort ein Heimfallrecht realisiert wird, sind wir blockiert. Auch der Kanton Graubünden muss sich darüber klar werden, was er genau will. Grundsätzlich sind wir sehr daran interessiert, die Partnerschaften weiterzuführen.

Was bieten Sie den Berggemeinden an?

Wenn die Gemeinden eine höhere Erfolgsbeteiligung an den Anlagen wollen, können wir gerne darüber diskutieren. Sie müssen dann aber auch bereit sein, stärker ins Risiko zu gehen. Diese Verhandlungen führen wir zurzeit. Unser Ziel ist es, dass wir in der Grundversorgung in der Stadt stabile Preise anbieten können.

Sollte die Stadt, bevor sie weiter in den Bergen investiert, nicht zuerst vor der eigenen Tür kehren? Die Abdeckung mit Solaranlagen auf den Zürcher Dächern ist tief.

Es stimmt, im Solarbereich haben wir Luft nach oben. Probleme bereitet uns der Ortsbildschutz. Drei Viertel des Stadtgebiets stehen im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder (Isos). Das erschwert die Solaroffensive. Mit solchen Auflagen stellen wir uns selbst ein Bein.

Was muss passieren?

Die Isos-Fläche in Zürich muss deutlich reduziert werden. Da ist der Bund gefordert. Die heutige Regelung lässt jegliches Augenmass vermissen. Ein privater Hauseigentümer überlegt es sich in Zürich zweimal, ob er die ganzen Mühen und Risiken eines Bewilligungsverfahrens auf sich nehmen will. Das sollte nicht sein.

Im September stimmen die Zürcherinnen und Zürcher über einen 300-Millionen-Rahmenkredit für das EWZ ab. Damit soll der Ausbau der erneuerbaren Energien weiter gefördert werden. Es wird ein Ja erwartet. Doch wie wollen Sie dieses viele Geld überhaupt ausgeben?

Es stimmt. Wenn dieser Rahmenkredit kommt, haben wir noch keine einzige Kilowattstunde Strom produziert. In der Vorlage sind viele sinnvolle Projekte erwähnt, in die wir investieren können. Die Windanlage im Waadtland gehört dazu. Trotz einzelnen Rückschlägen glauben wir auch weiter an das Potenzial hochalpiner Solaranlagen. Aktiv dran sind wir an der Wasserkraft. Wir sind etwa beteiligt an den Projekten Marmorera, Grimselsee, Trift und Sambuco. Ich bin sicher, dass wir die 300 Millionen Franken auch investieren können.

Warum braucht es das viele öffentliche Geld in der Energieproduktion überhaupt? Liesse sich der ganze Bereich nicht privatwirtschaftlicher, liberaler organisieren?

Es werden keine öffentlichen Gelder eingesetzt. Die Investitionen werden mit selbst erwirtschafteten Mitteln des EWZ getätigt. Sie belasten also weder Stadtkasse noch Steuerzahler.

Und doch investiert nicht ein Privatkonzern, sondern das Elektrizitätswerk, also ein Betrieb der öffentlichen Hand.

Vor allem die grossen Anlagen benötigen eine sehr lange Investitionsbereitschaft. Private Investoren haben Schwierigkeiten, Gelder auf 50, 60 Jahre hinaus bereitzustellen. Private Akteure sollen aber durchaus zum Zug kommen, wo sich die Investitionen rascher amortisieren – etwa im Solarbereich. Auch institutionelle Anleger wie Pensionskassen suchen langfristige Anlagen und beteiligen sich auch heute schon finanziell, das könnte man sicher noch ausbauen.

Das EWZ ist ja nicht nur in der Schweiz aktiv, sondern vermehrt auch im Ausland. Es ist an Windparks in Deutschland, Schweden, Frankreich und Norwegen und an einer Solaranlage in Spanien beteiligt. Dort scheint es weniger Widerstände zu geben.

Tatsächlich können wir im Ausland Projekte rascher realisieren. Ausserdem ist das europäische Stromnetz eng verflochten. Es ergibt Sinn, dass wir in diesem Konzert mitspielen. Energieautark waren wir in der Schweiz noch nie und können es auch nicht werden – auch wenn es vielleicht die Idealvorstellung ist. Aber die Investitionen im Ausland reichen nicht. Wir müssen auch in der Schweiz ausbauen. Ziel sollte sein, dass wir auch weiterhin etwa gleich viel Strom exportieren wie wir importieren.

Die Schweiz hat kein Stromabkommen mit der EU. Ist das ein Problem für Zürich?

Die Schweiz ist derzeit aus vielen Stromgremien der EU ausgeschlossen. Die Stromflüsse sind unberechenbarer, die Versorgungssicherheit kann leiden. Das betrifft natürlich auch die Stadt Zürich. Stromtechnisch sind wir keine Insel.

Der Stromverbrauch wird zunehmen, auch, weil die Bevölkerung wächst. Braucht es in der Stadt Zürich mehr Verzicht, vielleicht auch weniger Wachstum?

Das Bevölkerungswachstum ist tatsächlich auch ein Treiber des Stromverbrauchs. Mehr Einwohner bedeuten mehr Schulhäuser, Ausbauten im Tram- und Busnetz und so weiter. Der Verbrauch würde allerdings auch dann stark ansteigen, wenn niemand mehr nach Zürich zöge. Wir ersetzen andere Energieträger mit Strom, wir bauen grosse Rechenzentren. Das alles bedeutet, dass wir mehr Strom verbrauchen.

Die Grünen argumentieren, dass wir weniger konsumieren sollen.

Das Potenzial von Einsparungen ist beschränkt. Selbst wenn wir alle Ausbauziele der Stadt bei den erneuerbaren Energien erreichen sollten, kommt die Schweiz nicht um neue Kraftwerke herum.

War der Ausstieg aus der Atomenergie also ein Fehler?

(Überlegt lange). Die städtische Stimmbevölkerung hat 2008 entschieden, die Beteiligungen an den Kernkraftwerken abzustossen. 2017 folgte der nationale Ausstieg. Diesen Volkswillen gilt es umzusetzen, auch wenn das nicht einfach ist. Wichtig ist, dass wir im Gegensatz zu Deutschland nicht sofort ausgestiegen sind, sondern die Kraftwerke laufen lassen, so lange sie sicher und wirtschaftlich betrieben werden können. Das ist gerade auch im Hinblick auf den schleppenden Ausbau der Erneuerbaren wichtig.

Vertreter Ihrer Partei sind inzwischen so weit, dass sie den Ausstieg aus dem Atomausstieg propagieren. Sie auch?

Als Freisinniger bin ich technologieoffen. Aber realistisch betrachtet, ist der Bau neuer Kernkraftwerke kaum umsetzbar. Nehmen Sie nur schon den lokalen Widerstand gegen Windanlagen – bei der Kernkraft würde die Opposition noch viel heftiger ausfallen. Ausserdem gibt es heute im Sommerhalbjahr viel zu viel Strom, zum Teil sogar mit Negativpreisen. In dieser Zeit verdienen Sie mit einem Kernkraftwerk, das Bandstrom liefert, wenig bis nichts.

Werden nie mehr Kernkraftwerke in der Schweiz gebaut werden?

So absolut würde ich es nicht sagen. Wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien in den kommenden fünfzehn Jahren nicht so umgesetzt werden kann, wie wir hoffen, dann wird sich die Schweiz überlegen müssen, was die Alternativen sein könnten, um den wachsenden Verbrauch zu decken.

Sie würden also eine Aufhebung des Kernkraftverbots unterstützen?

Realistischerweise kann ein neues Kernkraftwerk sowieso nur gebaut werden, wenn es massgeblich vom Bund finanziert wird, was wiederum ohne politische Mehrheit nicht möglich ist. So gesehen muss man tatsächlich kein Verbot erlassen, um Kernkraftwerke zu verhindern.

2008, als die Stadt Zürich den Ausstieg aus der Kernkraft diskutierte, waren Sie FDP-Fraktionschef im Stadtparlament. Sie bezeichneten damals den Ausstieg als «energiepolitisches Abenteuer, das man nicht eingehen sollte». Sehen Sie das immer noch so?

Rückblickend kann man das fast schon als prophetisch bezeichnen. Heute habe ich natürlich eine andere Funktion. Als Stadtrat habe ich mich an Beschlüsse des Volks zu halten, und das Volk hat den Verkauf der Anteile beschlossen. Gleichzeitig können wir jetzt, wo wir am Anfang des Ausbaus der erneuerbaren Energien stehen, froh sein, dass wir immer noch Strom aus den Kernkraftwerken erhalten.

Der Verkauf der Beteiligungen an den Kernkraftwerken ist Ihnen trotz grossen Anstrengungen bis heute nicht gelungen, weil Sie keine geeigneten Interessenten fanden. Denken Sie, dass ein Verkauf doch noch möglich wäre?

Nein. Die Ausgangslage hat sich nicht wesentlich verbessert, es ist heute eher sogar noch komplizierter.

Warum?

Für einen Käufer ist matchentscheidend, wie lange die Kernkraftwerke noch in Betrieb bleiben dürfen, wie lange sie also noch Erträge generieren. Solange dies nicht bekannt ist, ist eine Einigung schwierig.

Was dann?

Wenn es bis 2034 nicht zu einem Verkauf kommt, müssen wir eben eine andere Lösung suchen, zum Beispiel eine Ausgliederung der Beteiligungen an den Kernkraftwerken in eine eigenständige Gesellschaft.

Eine Art nukleare Bad Bank?

Ob dieser Schritt wirklich so «bad» wäre, würden wir dann sehen (lacht).

Vor zwei Jahren war eine Strommangellage eine grosse Sorge. Und heute?

Die Situation hat sich sehr entspannt, nicht zuletzt hat uns das Wetter in den letzten Wintern geholfen und unsere Stauseen gefüllt. Und die Schweiz verfügt mit dem Reservekraftwerk in Birr jetzt über eine Rückversicherung für den Notfall, die wir vor zwei Jahren noch nicht hatten.

Half die drohende Mangellage vielleicht sogar mit, den Leuten vor Augen zu führen, wie überlebenswichtig eine ununterbrochene Stromversorgung ist?

Wenn es einen positiven Aspekt bei den damaligen Befürchtungen gibt, dann ist es dieser. Den Leuten ist bewusst geworden, dass Energiesicherheit nicht gratis zu haben ist und man etwas dafür tun muss.

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