Mittwoch, Oktober 9

Die Qualität von Lebensmitteln zeigt sich an ihrem Geschmack. Von Geburt an haben die meisten Menschen eine Präferenz für Süsses und Fett. Und doch lässt sich der Geschmackssinn gezielt trainieren.

«Ich habe heute Morgen schon einmal Haselnüsse angeröstet. Und wir brauchen Schokolade. Vollmilchschokolade, Zartbitterschokolade, verschiedene Sorten Zucker . . .» Wenn Kirsten Buchecker ihr Seminar an der Hochschule Bremerhaven vorbereitet, klingt es, als wolle sie einen Kuchen backen.

Die Lebensmitteltechnologin steht in einer weissen Küche und stopft Zutaten in eine grosse Plastiktasche. «. . . Rohrohrzucker, Vollrohrzucker und – normaler Zucker. Den nehme ich gleich noch aus dem Labor mit.» Kirsten Buchecker lehrt Lebensmittelsensorik. Und sie forscht dazu, wie sich Lebensmittel optimieren lassen – zum Beispiel, wie man sie gesünder und schmackhafter macht.

So vergleicht sie Inhalt und Geschmack von Bio-Lebensmitteln mit konventionell hergestellten Produkten, oder sie untersucht, wie sich der Zuckergehalt auf den Geschmack eines Lebensmittels auswirkt. Die Ergebnisse zeigen: Zucker ist mehr als nur ein Süssstoff. Der Effekt von Zucker in Lebensmitteln ist viel komplexer.

Bei manchen Erdbeerjoghurt-Sorten sorgen 10 Prozent weniger Zucker dafür, dass es fruchtiger schmeckt. Und auch die Konsistenz kann sich dadurch verändern. Weniger Zucker macht Joghurt flüssiger und ein knuspriges Müsli weniger knusprig.

Genau diese Zusammenhänge lernen auch die Studierenden in Kirsten Bucheckers Seminar an der Hochschule Bremerhaven. Sie sollen die Zutaten und die sensorische Erfahrung von Lebensmitteln beschreiben lernen. Später werden viele von ihnen Nahrungsmittel entwickeln oder dafür sorgen, dass deren Qualität sichergestellt ist. Und dafür braucht es auch einen gut trainierten Geschmackssinn.

Für Kirsten Bucheckers Kurs an diesem Tag stehen verschiedene Nuss-Nougat-Crèmes auf dem Plan. «Die ist immer recht beliebt, diese Vorlesung», sagt die Lebensmitteltechnologin lächelnd.

Aber wie funktioniert das überhaupt – schmecken lernen? Können wir unseren Geschmackssinn verändern, ihm vielleicht sogar beibringen, gesündere Optionen zu bevorzugen und damit einen Gemüseskeptiker bewusst zum Selleriesaftliebhaber konvertieren oder die Kaffeesüchtige zu Grüntee bekehren?

Schokolade und Erdbeerjoghurt: Zucker verspricht schnelle Energie und Fett eine gute Rücklage.

Forscher suchen Geschmacksrezeptoren auf der Zunge

Geschmack ist eine komplexe Angelegenheit. Fünf Geschmacksqualitäten nehmen wir über die Zunge wahr: süss, salzig, sauer, bitter – und das sogenannte umami. Den herzhaft würzigen oder auch fleischigen Geschmack erkennt die Forschungswelt erst seit Beginn dieses Jahrhunderts als Grundgeschmacksart an. Auch wenn in Japan schon hundert Jahre zuvor der Geschmack und die Struktur des ihm zugrunde liegenden L-Glutamats beschrieben worden waren.

Diesen fünf Grundgeschmacksqualitäten ist gemeinsam, dass sie über eigene Rezeptoren auf der Zunge wahrgenommen werden. Beim Essen löst der Speichel die Nahrungsbestandteile auf und schwemmt sie über kleine Erhebungen auf der Zungenoberfläche, die je Hunderte Geschmacksknospen enthalten. Darin sind Geschmackszellen mit unterschiedlichen Rezeptoren.

Es gibt Süssrezeptoren, Sauerrezeptoren, Bitterrezeptoren . . . und wenn der richtige Geschmacksstoff an den jeweiligen Rezeptor andockt, dann wird die Rezeptorzelle aktiviert und sendet ein Signal ans Gehirn. Dort wird das Signal dann interpretiert, und wir schmecken zum Beispiel: Mmmh, süss.

Und die Suche nach weiteren Geschmacksrezeptoren auf der Zunge geht weiter. Einiges spricht dafür, dass wir Menschen auch «fettig», «metallisch» und «Salmiak» – den Geschmack der Lakritze – bereits in der Mundhöhle wahrnehmen können.

«Die Rezeptoren im Mund ändern sich nicht, die funktionieren bei allen Menschen gleich», sagt Kirsten Buchecker. «Doch was tatsächlich bei jedem Menschen individuell ist, sind die Geschmacksschwellen.»

Die Lebensmitteltechnologin steht mittlerweile im Labor und reiht acht gefüllte Gläschen in einer Linie auf. Jedes Glas enthält eine Mischung aus Wasser und einer winzigen Menge Zucker.

Von Glas Nummer 1 – nicht wahrnehmbar süss – bis Glas Nummer 8, eindeutig ein Hauch von Zucker. «Die meisten Studierenden registrieren bei Glas drei oder vier, dass dem Wasser ein zweiter Geschmack beigemischt wurde. Wir nennen das die Reizschwelle. Und bei Glas 5 oder 6 können sie dann meist auch eindeutig sagen, dass sie etwas Süsses schmecken, das ist die Erkennungs- oder Wahrnehmungsschwelle.»

Reiz- und Wahrnehmungsschwelle sind abhängig von der genetischen Veranlagung und den Ernährungsgewohnheiten eines Menschen – sie können aber auch trainiert werden. «Je häufiger Testpersonen die Schwellentests durchführen, desto sensibler werden sie», sagt Kirsten Buchecker. So können sich Geschmackstester auf einzelne Produkte spezialisieren, für die sie einen besonders sensiblen Geschmackssinn entwickeln.

Bier und Kaffee: Wir mögen Lebensmittel eher, wenn wir sie in einem schönen Moment geniessen.

Für manche schmeckt Koriander nach Seife

Alle weiteren Aromen von Getränken und Nahrungsmitteln, ausser den Grundgeschmacksqualitäten, nehmen wir über die Nase wahr. Die flüchtigen Geschmacksstoffe ziehen hinten über den Rachen an das Riechepithel und werden auch dort von Rezeptoren registriert. Die Wahrnehmung wird dabei teilweise von unseren Genen beeinflusst. Wer zum Beispiel fest davon überzeugt ist, dass Koriander nach Seife schmeckt, ist nicht alleine – es könnte an einer spezifischen Genvariante liegen.

Auch einen Bitterrezeptor auf der Zunge gibt es in zwei besonders häufigen Varianten. Im Schnitt reagieren 75 Prozent aller Menschen deshalb empfindlich auf den Bittergeschmack in verschiedenen Kohlsorten. Wer Rosenkohl hasst, hat also womöglich einen guten Grund.

Viele unserer grundlegenden Geschmackspräferenzen sind angeboren. Von Geburt an haben die meisten Menschen eine Präferenz für Süsses und Fett. Denn Zucker verspricht schnelle Energie und Fett eine gute Rücklage. Bittere Lebensmittel meiden die meisten Kinder dagegen intuitiv, denn auch viele Gifte sind von Natur aus bitter.

Darin liegt auch der Grund für unseren Geschmackssinn: Es geht darum, gefährliche Lebensmittel von den unbedenklichen zu unterscheiden. Bietet man Kindern die Lebensmittel mit leichter Bitternote immer wieder in kleinen Mengen an, so finden sie mit der Zeit Gefallen daran. Buchecker formuliert es so: «Kinder müssen erst einmal lernen, dass sie den überleben, den Brokkoli.»

Wie kommt es also, dass viele Menschen im Laufe ihres Lebens nicht nur in der Lage sind, Brokkoli zu tolerieren, sondern Kaffee oder Bier geradezu lieben lernen? Buchecker sagt: «Geschmackspräferenzen stecken nicht nur in den Genen, Schmecken ist auch Kopfsache!»

Die Geschmacksverarbeitung im Gehirn ist eng mit unseren Erinnerungen und mit unseren Gefühlen verknüpft, und so können wir uns an einen Geschmack gewöhnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir ein Lebensmittel mögen, ist höher, wenn wir es in einem schönen Moment essen. So haben Feierabendbier und Kaffeepause bereits einen klaren Vorteil – qua Rahmenbegebenheit.

Es ist also möglich, die eigenen Geschmackspräferenzen zu beeinflussen – zumindest ein wenig. Indem man regelmässig neues Essen ausprobiert oder vermeintlich ungeliebte Lebensmittel anders zubereitet – und sie am besten in einem schönen Moment verzehrt.

Industrie beeinflusst unsere Geschmackswahrnehmung

Auch die Lebensmittelindustrie macht sich das Zusammenspiel von Erwartungen und Geschmackspräferenz zunutze. Oft steht schon auf der Verpackung eines Produkts, welches geschmackliche Erlebnis unter dem Deckel auf uns wartet – und beeinflusst so das Erleben beim Verzehr.

So wirbt etwa eine Bitterschokolade mit der hinzugefügten Fruchtnote, damit der Bittergeschmack weniger stark wahrgenommen wird. Wie stark solche Erwartungen das Erlebnis beim Verzehr beeinflussen, sieht Buchecker jeweils in ihren Seminaren.

«Im Sensorikseminar bekommen die Studierenden eingefärbtes Fruchtjoghurt. Aber die Geschmacksrichtung passt nicht zur Farbe: also oranges Joghurt mit Kiwigeschmack oder grünes mit Erdbeergeschmack. Etwa die Hälfte der Studierenden schmecken im ersten Moment etwas ganz Falsches. Etwas, was zur Joghurtfarbe passt.»

Wie gut Studierende darin werden, ihre Geschmackswahrnehmung zu verfeinern, beschreibt Buchecker mit einer Anekdote aus dem Nuss-Nougat-Crème-Seminar. Getestet hatten sie eine Nutella, die aus Zartbitterschokolade mit 50 Prozent Kakaogehalt bestehen sollte. Doch die Studierenden sagten übereinstimmend: Das ist Vollmilchschokolade!

Und tatsächlich habe Ferrero die Rezeptur verändert, sagt Buchecker schmunzelnd. Nach einem Seminar in Lebensmittelsensorik lässt man sich eben nicht mehr so leicht täuschen.

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