Sonntag, September 29

Der Draghi-Bericht ist auch für die Schweiz ein Weckruf: Unsere Erwerbsbevölkerung schrumpft. Doch wir tun zu wenig, um die Wirtschaft produktiver zu machen.

Die goldenen Jahre sind vorbei. So lautet die unerfreuliche Botschaft des Draghi-Berichts. Im Auftrag der EU hat der frühere Chef der Europäischen Zentralbank untersucht, wie es um die Wettbewerbsfähigkeit von Europa steht. Die Fakten sind eindeutig: Der alte Kontinent fällt zurück, schon jetzt ist der Wohlstand ein Drittel tiefer als in den USA – und die Schere geht weiter auf.

Vor allem die Alterung lastet schwer auf Europa: Die Wirtschaft werde im Jahr 2050 nicht grösser sein als heute, mahnt Mario Draghi. Ausser es gelinge, das heutige Produktivitätswachstum zu steigern. Die Situation ist mit einem Radfahrer vergleichbar, der bisher im Flachen unterwegs war und nun einen Hügel hochfahren muss: um das Tempo zu halten, muss er sich stärker abstrampeln.

Das gilt ebenso für die Schweiz. Im Unterschied zu den EU-Ländern fahren wir vorerst mit einer etwas höheren Geschwindigkeit – das gibt uns eine gewisse Reserve. Trotzdem müssen auch wir künftig bergauf pedalen. Das liegt an der inländischen Erwerbsbevölkerung, welche seit kurzem am Schrumpfen ist. Allein in diesem Jahrzehnt erreichen 170 000 Personen mehr den Ruhestand, als junge nachrücken. Hinzu kommt: Weil die Leute weniger arbeiten, sinkt das Arbeitsvolumen zusätzlich.

Zuwanderer füllen die Lücke

Doch wenn der Wirtschaft weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, kommt auch der Wohlstand unter Druck. Gewiss, die Firmen rekrutieren die fehlenden Leute oftmals im Ausland. Gerade jüngst hat die Zuwanderung wieder kräftig zugenommen – was die Inländer nicht zuletzt an den steigenden Wohnkosten spüren.

Hier zeigt sich das Dilemma, in dem unser Land steckt. Wir hätten am liebsten den Fünfer und das Weggli – sprich: Die ausländischen Arbeitskräfte sollen zwar die Wirtschaft am Laufen halten, aber möglichst die eigene Infrastruktur nicht belasten. Diesem Ideal kommen die Grenzgänger noch am nächsten, deren Zahl sich innert zwanzig Jahren ebenfalls verdoppelt hat.

Unabhängig davon, wie die Schweiz ihre Zuwanderung steuern will: Unseren Wohlstand können wir nur verteidigen, wenn wir künftig mehr und effizienter arbeiten. Für diesen Anstoss ist der Draghi-Bericht hilfreich: Sowohl in Europa als auch in der Schweiz diskutieren wir ausufernd darüber, wie wir den Kuchen verteilen möchten. Doch gleichzeitig ignorieren wir, wo das wirkliche Problem liegt: Wir müssen dafür sorgen, dass der Kuchen nicht plötzlich kleiner wird.

Die Produktivität entscheidet

Man kann dies als Schwarzmalerei abtun: In unserem Nachbarland Italien allerdings stagnieren die inflationsbereinigten Einkommen schon seit über zwei Jahrzehnten. Das Beispiel zeigt exemplarisch, woran Europa krankt: Die Erwerbstätigen sind zu wenig produktiv. Der Draghi-Bericht hat dies mustergültig herausgearbeitet. Der tiefere Wohlstand im Vergleich zu den USA ist zu 70 Prozent auf die geringere Produktivität zurückzuführen.

Die Schweiz schneidet bei diesem Kriterium zwar recht gut ab – zumindest auf den ersten Blick: Zusammen mit den skandinavischen Ländern Schweden und Dänemark haben auch wir mit dem Produktivitätswachstum der USA mitgehalten. Trotzdem sollten wir uns nicht vorschnell auf die Schultern klopfen. Denn diese Dynamik ist sehr einseitig verteilt: Einen grossen Teil des Wirtschaftswachstums verdanken wir einer einzigen Branche, der Pharmaindustrie.

Das verdeutlicht folgende Rechnung des Wirtschaftsforschungsinstituts BAK Economics: Im letzten Jahrzehnt ist die Schweizer Wirtschaft pro Einwohner um 0,9 Prozent im Jahr gewachsen. Ohne den Beitrag der Pharma aber wäre dieses Wachstum auf magere 0,4 Prozent geschrumpft – womit die Schweiz selbst im trägen Europa weit nach hinten rutscht.

Für Startups zu wenig attraktiv

Die Schweiz zählt 600 000 Unternehmen. Von diesen allerdings entscheidet nur eine kleine Gruppe darüber, wie unser Land im globalen Wettbewerb dasteht. Es sind jene Firmen, die sich in der Champions League der internationalen Märkte behaupten können. Was zu einem gefährlichen Klumpenrisiko führt: Deutschland erlebt das gerade, wo die Krise der Autokonzerne zu einer allgemeinen Rezession geführt hat.

Daher muss auch die Schweiz die nötigen Rahmenbedingungen schaffen, damit möglichst viele Firmen in dieser Topliga mitmischen können. Gerade bei den innovativen Startups haben die USA die Nase klar vorne. So hat etwa der Schweizer Gründer der Sprach-App Duolingo erklärt, er hätte seinen Erfolg hierzulande nicht erreichen können. Nun besitzt die Firma an der amerikanischen Börse bereits einen Wert von 10 Milliarden Dollar.

Solche Unternehmen sind es, welche die Wirtschaft voranbringen. Dieses Bewusstsein ist auch bei uns verlorengegangen. Draghis Weckruf ist zwar an die Europäische Union gerichtet: Dass wir unseren Wohlstand aber nur dann erhalten können, wenn wir jetzt die Ärmel hochkrempeln, das gilt genauso für uns.

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