Die schweizerisch-französische Autorin Pascale Kramer denkt über das verzögerte Einsetzen von #MeToo in Frankreich nach und fragt sich: Haben wir die Männer schlecht erzogen?

Paris, vor einer Woche, in einem Zwischenort namens Césure – einem ehemaligen Campus, der alle möglichen Vereine beherbergt, darunter auch meinen – sind laute Frauenstimmen zu hören. Immer entschlossener und lauter skandieren sie direkt hinter der Wand unseres Büros im Chor: «Non merci!»

Unsere junge Volontärin bestätigt mir, was ich mit ein wenig Verblüffung bereits ahnte: Es handelt sich bei diesen entschlossenen Worten um den Kampfschrei der neuen #MeToo-Generation.

Ich wühle in meinen eigenen Erinnerungen. Doch egal, wie tief ich grabe, ich finde keine Situation, in der ich eine so wütende Ablehnung hätte aussprechen können wie die Frauen im Büro nebenan.

Sex war für uns nicht ernst

Natürlich gab es in meinem Leben als Frau unangenehme Annäherungsversuche, wandernde Hände, unpassende, aufdringliche Kollegen. Auch betrunkene Freunde, die sich am Ende des Abends auf die Mädchen stürzten. Das hat uns aber eher zum Lachen gebracht oder genervt. Und manchmal haben wir nachgegeben.

«Wir», das heisst: viele der Frauen, die wie ich in den 1970er und 1980er Jahren 20 Jahre alt waren. Wir legten keinen grossen Wert auf unsere Körper, Sex war, wie so vieles andere auch, nicht schlimm, nicht ernst. Haben wir sie also so schlecht «erzogen», diese Männer, unsere Zeitgenossen, die heute wegen Belästigung, Körperverletzung oder Vergewaltigung zu Fall kommen?

Das ist die Frage, die mich umtreibt und die ich in meinem letzten Roman («Les indulgences» erscheint 2025 auf Deutsch) zu beantworten versucht habe, indem ich die Fäden unserer Liebe, unserer Ambivalenzen und unserer Wünsche durch die Jahrzehnte zurückverfolgt habe. Die Frage ist noch nicht erschöpft. Ich kann noch immer nicht sagen, ob wir ihn verdient haben, diesen Krieg zwischen den Geschlechtern, von dem ich nicht genau weiss, was ich erwarten oder befürchten soll. Er tut mir auf jeden Fall weh, denn er bringt auch Frauen gegeneinander auf. Zumindest in Frankreich, wo #MeToo in der Tat auf mehr Widerstand gestossen ist als anderswo, vor allem in meiner Generation.

Ein Brief und eine andere Formulierung

Vielleicht ist es auch eine Frage der Formulierung. Zwischen #MeToo und #BalanceTonPorc, also «Verpfeif dein Schwein», seiner französischen Übersetzung aus dem Jahr 2017, gibt es einen Unterschied. Die erlittene Gewalt nicht länger zu verschweigen, die Täter beim Namen zu nennen und sie zu Fall zu bringen, ist eine gute Sache. Sie durch den Dreck zu ziehen dagegen eine andere. Die, so fürchte ich, nichts heilt oder löst oder repariert.

Der offene Brief in «Le Monde», in dem Catherine Deneuve sich zusammen mit 99 weiteren Frauen gegen #MeToo aussprach und damit ihren Namen kompromittiert hat, versuchte auf ungeschickte Weise, diese Unterscheidung zu machen. Ich lese ihn jetzt, sechs Jahre später, noch einmal und denke, dass ich ihre Aussage verstehe und mich vielleicht sogar darin wiederfinden kann. Weil sie diese Differenzierung zu machen versuchen. Und doch frage ich mich: Was haben sich diese wohlhabenden, verhätschelten, dominanten Frauen dabei gedacht, diesen Brief zu veröffentlichen?

Viel Macht in wenigen Händen

Erschüttert von dem Aufschrei, den die Veröffentlichung dieses Briefs ausgelöst hatte, versuchte «Le Monde» einige Tage später in einem langen Artikel die Wogen zu glätten.

Zitiert wird auch Sylvie Kauffmann, die ehemalige Redaktionsleiterin der Tageszeitung: «Im Gegensatz zu den USA oder Grossbritannien schützen sich die Mächte in Frankreich. Wir haben Untersuchungen über belästigte Arbeiterinnen und Angestellte veröffentlicht oder darüber, was vor Jahren in der United Nations Emergency Force (Unef) oder bei den Jungkommunisten geschah. Aber an den Orten der Macht stossen wir auf alle möglichen Widerstände und Undurchsichtigkeiten.»

In Frankreich ruht die Macht, vor allem die finanzielle und kulturelle, mehr als anderswo in relativ wenigen Händen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn dies dazu beigetragen hätte, dass die erste #MeToo-Welle so schnell eingedämmt wurde.

Die Sache mit der amerikanischen Prüderie

Ich sehe noch einen weiteren Grund: die «kulturelle Ausnahme», mit der die protektionistischen Massnahmen für französische Kulturwerke gerechtfertigt werden. Es ist wahr, dass alle Nationen auf ihre Eigenheiten Wert legen. Aber Frankreich ist einzigartig in seinem Festhalten an fragwürdigen Werten wie derben Witzen und Frivolität; die heute als Rüpelhaftigkeit und Belästigungskultur umgedeutet werden. Beides steht im Gegensatz zum Puritanismus, den man bei den Angelsachsen ausmacht – und verspottet.

Eine alte Folge von «Apostrophes», einer bis Ende der 1990er Jahre kultigen Literatursendung, sorgte vor einigen Jahren im Netz für Erstaunen. Das Buch «Le Consentement, si juste et dérangeant», in dem Vanessa Springora die Beziehung, die sie als 14-Jährige mit dem viel älteren Schriftsteller Gabriel Matzneff führte, schildert, hatte die Sendung wieder in Erinnerung gerufen: Der «Apostrophes»-Moderator Bernard Pivot las damals Passagen aus Matzneffs «Mes amours décomposés» vor, in denen der Autor von seinen Sexspielen mit Minderjährigen berichtete. Die Gäste lachten, und nur die Kanadierin Denise Bombardier erinnerte daran, dass es hier immerhin um Pädophilie gehe. Bombardier war souveräner und klarer in ihrem Urteil als die übrigen Gäste. Mutiger auch, angesichts des damaligen Zeitgeistes. Und sie war auch viel mehr Nordamerikanerin.

Der französische Stolz auf Depardieu

Zweifellos hat der französische Widerstand gegen #MeToo auch etwas mit dem Widerwillen zu tun, sich der amerikanischen Moral anzupassen. Der Film «Les Valseuses», eine Erotik-Satire über die rebellierende französische Jugend, von Bertrand Blier (1974) ist ein Aushängeschild dieser kulturellen Ausnahme. Der Film hat Gérard Depardieu, Patrick Dewaere und Miou-Miou bekannt gemacht und für immer in ihren jeweiligen Charakteren festgehalten. Depardieu ist in dem Film genial, heiss, mächtig, furchteinflössend, grenzenlos, selbst in seinen Rissen.

Ich habe mir diesen Kultfilm im Rahmen dieses Essays noch einmal angesehen und mich ungläubig vor dem Bildschirm gefragt, wie ich gegenüber einer jungen Frau von heute das Vergnügen rechtfertigen kann, das ich beim Schauen erneut empfinde. Es gibt keine Rechtfertigung. Ausser dass man das Glück, das man dabei erlebt hat, sich so sehr von Moral und Verboten befreit zu fühlen, nie ganz verleugnen kann.

Ein bestimmtes Frankreich dieser Zeit hat sich in der derben Geschichte gerne wiedererkannt. Depardieu selbst ist nie wirklich aus seiner Figur herausgekommen und wurde nach und nach zu ihrer schrecklichen Karikatur.

Man wird mir entgegenhalten, dass es vor allem ein ganzes System von Komplizen gewesen sei, das sich selbst geschützt habe, indem es Depardieu geschützt habe. Aber muss man stets die schlimmste aller möglichen Erklärungen in Betracht ziehen? Dass die Verhaltensweisen und Missbräuche, sogar Vergewaltigungen, die Depardieu vorgeworfen werden, lange Zeit ungestraft blieben, dass sie sogar von der Umgebung und den Verwandten gedeckt wurden, lag vielleicht auch daran, dass das Charmante, das Grosszügige in ihm noch Vorrang vor dem Abscheulichen hatte.

Doch welche Loyalität schuldet man denjenigen, die man geliebt hat und die einem viel gegeben haben? Diese Frage stellt sich für jeden von uns, wenn im Laufe der Jahre einige langjährige Freunde verbittert oder moralisch hässlich werden. Wann sollte man ihnen den Rücken kehren?

Der Wunsch, zu gefallen

Im Jahr 2020, einen Tag nachdem Roman Polanski – damals wegen Vergewaltigung Minderjähriger angeklagt – in Cannes die Palme für die beste Regie erhalten hatte, sagte die Schauspielerin Fanny Ardant mit ihrer unnachahmlich tiefen Stimme: «Ich werde ihnen bis zum Schafott folgen.» Mit «ihnen» meinte sie in einer völlig verschobenen, aber auch unerschrockenen Geste die Männer. Ardants Beispiel zeigt: Es ist schwer, sich neu zu erfinden. Besonders, wenn man eine der Filmikonen eines Landes war, das sich selbst als das Land der Liebe, der Eleganz und der schönen Liebhaber versteht.

Was Ardant noch verteidigt, hat Juliette Binoche, eine Generation jünger als Ardant, in einem kürzlich erschienenen Essay für die «Libération» hinterfragt. Sie berichtet darin von den abscheulichen Verhaltensweisen, der fast systematischen Entblössung der Schauspielerinnen im französischen Autorenkino. Und gleichzeitig von dem Wunsch, dem so bewunderten Genre anzugehören und seinen Ansprüchen zu genügen. Über die schwierigen Sexszenen schreibt sie: «Ich habe gelernt, hineinzuspringen, wie man in ein kaltes Meer taucht, mit dem Kopf voran.» Und weiter: «Ich akzeptierte alles mit Inbrunst.»

Dieses Eingeständnis der eigenen Wünsche und auch der damaligen Zustimmung macht die erlebte Gewalt nicht kleiner oder weniger schlimm. Es entschuldigt auch nicht das Verhalten derjenigen, die diese Gewalt begangen haben.

Man müsste sich dazu verpflichten, immer «die einen» und «die anderen» zu sagen, damit ein Frieden möglich ist. Doch die Zeit ist noch nicht reif für den Frieden. Das französische Kino muss sich zunächst selbst den Spiegel vorhalten. Die Schauspielerin Judith Godrèche – die den Regisseur Benoît Jacquot wegen Vergewaltigung angezeigt hat und in diesem Jahr in Cannes ihren Kurzfilm «Moi aussi» vorstellte – fordert uns alle dazu auf. Wenn das gelingt, wird die «kulturelle Ausnahme» Frankreichs in Sachen #MeToo ein Ende finden.

Schon jetzt ist das Land nicht mehr dasselbe. Das ist spürbar, und es ist beispiellos. In den Medien, zumindest in denen, die ich konsumiere, wird nun über die heiligen Monster gelacht und gekichert, die zu Boden gegangen sind, und über diejenigen, die sie beschützt haben.

Aus dem Französischen übersetzt von Nadine A. Brügger.

Exit mobile version