2015 hat die in Israel aufgewachsene Klarinettistin Michal Lewkowicz in Basel das Mizmorim-Festival gegründet. Sein Anliegen, der kulturelle Austausch zwischen Menschen und Religionen, erscheint derzeit dringlicher denn je.
«Hallelujah» steht in Rosa über dem Programm des Eröffnungskonzerts. Das Basler Mizmorim-Festival, das die Begegnung von jüdischer Musik mit westlicher Kunstmusik ins Zentrum stellt, feiert sein zehnjähriges Bestehen. Der jüdische Freudengesang, der auch in der christlichen Tradition «Lob Gottes» bedeutet, verbindet die Religionen. Doch eigentlich ist derzeit niemandem nach Jubeln zumute.
Am 6. Oktober 2023 hatte Michal Lewkowicz, die künstlerische Leiterin des Festivals, das Programmheft in Druck gegeben. Einen Tag später begann der terroristische Angriff der Hamas auf Israel. Ungeachtet des Schocks, einer tiefen Verunsicherung, hat sie sich dann aber gemeinsam mit ihrem Festivalteam trotzdem dazu entschieden, das Programm so zu lassen, wie es ursprünglich geplant war. Nur das Sicherheitskonzept wurde, notgedrungen, nochmals überarbeitet.
Berührender Festivalbeginn
Beim Eröffnungskonzert im vollbesetzten Musiksaal des Stadtcasinos Basel beschäftigen sich alle Reden mit der bedrückenden gegenwärtigen Lage in Israel. Regierungsrat Lukas Engelberger erinnert nicht nur an den ersten Zionistenkongress Theodor Herzls, der 1897 in ebendiesem Saal stattfand, sondern auch an das Pogrom des Jahres 1349, als in Basel Juden auf einer Rheininsel zusammengetrieben und verbrannt wurden. Michal Lewkowicz spricht davon, dass sie sich in den letzten Monaten zum ersten Mal in der Stadt als Jüdin unsicher gefühlt habe. Mit dem Festival möchte sie dennoch – und nun erst recht – Dialoge zwischen den verschiedenen Kulturen und Menschen schaffen.
Auf ihren besonderen Wunsch beginnt der Abend musikalisch mit der Hatikva, der israelischen Nationalhymne. Ganz innig spielen der Geiger Ilya Gringolts und die Streicher des Lucerne Festival Contemporary Orchestra (LFCO) im Stehen die traurige Melodie. Die Zuhörer im Saal erheben sich. Einige singen die Hymne mit, die von der Hoffnung auf Freiheit und Frieden spricht. Ein ungewöhnlich leiser, introvertierter Festivalbeginn.
Er setzt sich nahtlos fort mit dem Soloeinsatz der Violine in Leonard Bernsteins «Serenade after Plato’s Symposium». Die fünf Sätze, in denen Bernstein den Reflexionen griechischer Philosophen über die Liebe musikalisch nachspürt, erscheinen unter der Leitung des für Baldur Brönnimann eingesprungenen Dirigenten Tito Ceccherini ganz unterschiedlich. Das Presto (Eryximachus) ist ein vom Schlagzeug angetriebener, aufgeheizter Dialog zwischen Solovioline und Orchester. Das dunkel timbrierte, mitunter zerbrechlich gespielte Adagio (Agathon) wird zum emotionalen Zentrum, ehe Gringolts und das LFCO im spektakulären, am Ende jazzig groovenden Finale (Socrates: Alcibiades) die rhythmische Energie Bernsteins feiern.
Verzweiflung und Hoffnung
Als die in Israel aufgewachsene Klarinettistin Michal Lewkowicz im Jahr 2015 als junge Studentin das Mizmorim-Festival in Basel gründete, wollte sie in dieser offenen Kulturstadt einen persönlichen Traum verwirklichen, nämlich ihre jüdische Identität mit Europa verbinden. Und zeigen, wie breit und vielfältig die jüdische Kultur ist. Das hebräische Wort «Mizmorim» bedeutet Psalmen. «Das ist für mich der erste Nachweis von Musik, weil wir wissen, dass Psalmen gesungen wurden», sagt Michal Lewkowicz im Gespräch mit der NZZ.
Aber auch die Psalmtexte selbst, die um Verzweiflung und Hoffnung, Wut und Liebe, Natur und Gott kreisen, faszinieren die Israelin: «Das sind Themen, die heute in unserer Gesellschaft ganz gegenwärtig sind. Wir möchten bei diesem Festival miteinander ins Gespräch kommen.» Besondere Gelegenheit dazu gibt es in den Museumsführungen, aber auch bei den kostenlosen Vor- und Late-Night-Konzerten im Hotel Teufelhof. «Unser Publikum ist in den letzten Jahren jünger und diverser geworden. Die Stadtgesellschaft wurde immer mehr erreicht», sagt Lewkowicz. Erstmals finden auch Konzerte in der Synagoge und in der Martinskirche statt. Eine Premiere ist zudem die Zusammenarbeit mit dem Lucerne Festival, die sich neben der Mitwirkung des LCFO auch in einem extra dafür veranstalteten Kompositionswettbewerb äussert.
Die daraus als Siegerin hervorgegangene baskische, in der Schweiz lebende Komponistin Helga Arias hat mit «Mimma’amaqim» («Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir») für Stimmen und Ensemble ein berührendes Werk geschrieben, das den Beginn des Psalms 130 auf Hebräisch, Lateinisch, Deutsch und Englisch zitiert. Die Altistin Barbara Schingnitz beginnt in voller, tiefer Lage mit dem erschütternden Klageruf – der Spaltklang im Sopran (Annelise Ellars, Veronika Mair, Nadine Nenning) klingt dazu wie ein Schmerzensschrei.
Die schlackenlosen Stimmen der Basler Madrigalisten (Einstudierung: Raphael Immoos) verbinden sich mit den Liegetönen der Streicher und Holzbläser des LCFO zu einem spirituellen Raum. Die vier Teile gehen ineinander über. Der Spannungsbogen hält bei diesem differenzierten, organischen, auf Kontraste verzichtenden Werk bis zum letzten Ton: grosser Jubel nach der gelungenen Uraufführung.
Musik als Utopie
Helga Arias hat für ihr Werk die gleiche Besetzung gewählt wie Steve Reich für «Tehillim», in dem sich der amerikanische Komponist gleich vier Psalmen widmet. «Tehillim» (Buch der Psalmen) ist auch das Motto des diesjährigen Festivals. Die Aufführung dieses rhythmisch komplexen Werks durch das Lucerne Festival Contemporary Orchestra und die Basler Madrigalisten wird unter der souveränen Leitung von Tito Ceccherini zum Ereignis.
Die präzise geklatschten, getrommelten und gerasselten Rhythmen treten nie auf der Stelle, sondern entwickeln eine enorme Sogwirkung, von der sich das ganze Ensemble tragen lässt. Die Akkorde der Streicher spenden Ruhe, die Harmoniewechsel erfolgen auf den Punkt. Der Gesang wirkt mal meditativ in seiner fortgesetzten Wiederholung, mal tänzerisch und schwungvoll. Über allem schwebt der kristalline Sopran von Annelise Ellars, deren Stimme auch beim dreigestrichenen C nichts an Qualität verliert. Das «Hallelujah» am Ende wirkt fast unwirklich in seiner spektakulären Höhe und Helligkeit. Musik als Utopie. Und als Hoffnung auf eine lichtere Welt.
Mizmorim-Festival in Basel, noch bis 31. Januar. https://mizmorim.com.