Gesund essen, korrekt reden, richtig denken: Moral werde zum Statussymbol, sagt der deutsche Philosoph Philipp Hübl. Und zur Waffe in politischen Debatten. Besser werde die Welt dadurch nicht.
Herr Hübl, vor einigen Tagen geriet der deutsche Politiker Stefan Gelbhaar in die Kritik wegen sexueller Übergriffe. Es zeigte sich bald, dass die Vorwürfe zumindest teilweise falsch waren. Eine Sprecherin der Grünen Jugend sagte darauf, falsche Beschuldigungen seien nicht so wichtig. Entscheidend sei, dass man den Opfern glaube. Wie ist das zu verstehen?
Das ist ein ebenso fataler wie interessanter Satz. Die Idee dahinter entspringt einer edlen Motivation: Man will Opfer von Sexualdelikten schützen. Weil man weiss, dass viele Sexualverbrechen im Dunkeln bleiben und nie angezeigt werden. Weil die Taten selten beweisbar sind, weil sich die Opfer schämen oder sie befürchten, dass man ihnen nicht glaubt. Der Satz «Wir glauben den Opfern» ist Ausdruck einer besonderen Fürsorge für Menschen, denen kein Unrecht geschehen soll.
Was ist dagegen einzuwenden, dass Menschen sorgsam miteinander umgehen?
Nein, das ist soweit verständlich. Aber die Fürsorge darf nicht das alleinige Leitprinzip sein. Fürsorge beruht auf Mitgefühl. Auch das ist etwas Gutes, aber wir neigen dazu, eher mit Menschen mitzufühlen, die wir mögen, die uns ähnlich sind. Das zeigen zahlreiche Untersuchungen. Ohne Korrektiv führt das zu Ungerechtigkeiten. Der Grundsatz, den Opfern zu glauben, unterstellt ja zugleich, dass wir wissen, wer ein Opfer ist und wer nicht. Darin liegt der Denkfehler. Niemand würde im Ernst sagen: «Wir glauben allen, die behaupten, Opfer zu sein.» Aber tatsächlich impliziert der Satz das, auch wenn es kaum in der Absicht der Sprecherin lag.
Vielleicht schon. Sie sagte auch, die Unschuldsvermutung gelte vor Gericht, aber nicht in einer Partei.
Das ist naiv und gefährlich. Aus dem Wunsch heraus, ja niemanden zu Unrecht zu ignorieren, blendet man aus, dass jeder behaupten kann, er sei Opfer eines Übergriffs geworden. Falsche Beschuldigungen sind nachweislich selten, aber es gibt sie natürlich. Und niemand kann sie von vornherein ausschliessen. Deshalb ist die Unschuldsvermutung eine zentrale Errungenschaft in der Rechtsgeschichte. Ein Gericht braucht stichhaltige Gründe, um jemanden eines Verbrechens zu beschuldigen. Und das ist richtig, weil nach der Verurteilung die Strafe in die Freiheitsrechte eines Menschen eingreift.
Strafen gibt es im Alltagsleben keine. Von daher ist vielleicht auch die Unschuldsvermutung nicht so zentral.
Doch, die Unschuldsvermutung muss natürlich auch im Alltag gelten. Es darf nicht sein, dass eine Behauptung reicht, um einen Menschen zum Schuldigen zu machen. Die Sprecherin der Grünen Jugend will Frauen zu Recht vor Diskriminierung und Gewalt schützen, übersieht aber kurioserweise die Möglichkeit der Verleumdung, die ja im Fall Gelbhaar nachgewiesen wurde.
Aber auch die Bereitschaft, Leute öffentlich zu beschuldigen, die vielleicht gar keine Täter sind.
Nüchtern betrachtet könnte man sagen: Das Ganze ist eine Frage der Priorisierung, da wir ja nie perfekt urteilen. Was ist uns wichtiger: Keine Unschuldigen zu verurteilen oder kein Opfer zu verpassen? Die Rechtsprechung sagt verständlicherweise: Wir dürfen auf keinen Fall jemanden unschuldig ins Gefängnis stecken. Die Alltagsmoral ist heute mehr darauf fokussiert, den Opfern kein Unrecht zu tun.
Hat die Sprecherin der Grünen Jugend nicht eine gesellschaftliche Tatsache benannt? Gilt die Unschuldsvermutung im Alltag wirklich noch?
In den öffentlichen Debatten ist sie tatsächlich kein Leitprinzip mehr. In sozialen Netzwerken ist die Schwelle niedrig, Vorwürfe in die Welt zu setzen. Sie verbreiten sich schnell, und schon wenn sie erhoben werden, sind die Beschuldigten in vielen Fällen erledigt. Da wird Moral als Waffe eingesetzt. Auch wenn sich die Anschuldigungen im Nachhinein als falsch erweisen, ist die moralische Reputation der Menschen langfristig beschädigt.
Und beschädigt wurde sie im Namen der Moral. Von Leuten, die sich als besonders moralisch bezeichnen würden. In Ihrem Buch reden Sie von einem «Moralspektakel». Was verstehen Sie darunter? Ist Moral etwas Schlechtes?
Nein, natürlich nicht. Es ist eine wichtige Errungenschaft, dass die gesamte Welt, vor allem die westlichen Gesellschaften in den vergangenen Jahrzehnten im Mittel moralischer geworden sind, das heisst aufmerksamer für verschiedene Formen der Benachteiligungen, fürsorglicher, offener und toleranter. Und es ist wichtig, dass wir darüber, was moralisches Handeln heisst, eine gesellschaftliche Diskussion führen. Aber viele öffentliche Debatten, die mit moralischen Argumenten ausgefochten werden, drehen sich heute um Dinge, die nichts mehr mit der Frage zu tun haben, wie wir eine gerechte Gesellschaft schaffen. Eine Gesellschaft, in der die Menschen ein erfülltes Leben führen können.
Worum geht es dann?
Schauen Sie, was in den Medien und in den sozialen Netzwerken alles verhandelt wird. Irgendein Comedian macht einen schlechten Witz, und man debattiert tagelang darüber, ob er das darf oder nicht. Wir unterhalten uns darüber, ob man Strassen umbenennen muss, weil ihre Namensgeber aus dem 17. Jahrhundert in Sachen Toleranz nicht den Standards entsprechen, die wir heute an Personen des öffentlichen Lebens setzen. Man streitet darüber, ob eine Übersetzerin mit weisser Hautfarbe den Text einer schwarzen Autorin übersetzen darf oder ein heterosexueller Schauspieler eine homosexuelle Figur spielen darf.
Das hat doch auch mit Moral zu tun: mit Diskriminierung?
Vordergründig ja. Aber wenn man die Debatten genau verfolgt, sieht man, dass es in sehr vielen Fällen eben nicht darum geht, Probleme zu lösen. Sondern dass die Beteiligten die Probleme nutzen, um sich selbst darzustellen. Dass die öffentlich gezeigte Entrüstung oft nur dazu dient, indirekt zu zeigen, welche Werte man vertritt. Das ist es, was ich mit «Moralspektakel» meine: Einige Menschen inszenieren sich über moralische Aussagen besonders stark: Sie wollen nicht die politischen oder gesellschaftlichen Verhältnisse ändern, sondern nur ihre eigene Überlegenheit zeigen. Und nicht nur Menschen, auch gesellschaftliche Gruppen oder Unternehmen tun das. Auch Firmen weisen demonstrativ darauf hin, wie divers und umweltbewusst sie sind und zeigen so ihre moralischen Werte: Gerechtigkeit, Fairness, Minderheitenschutz. Von manchen ist es ernst gemeint, viele sind aber einfach opportunistisch oder rein monetär motiviert. Menschen signalisieren mit ihren moralischen Urteilen allerdings auch, welcher moralischen Gruppe sie sich zuordnen, was ihnen wichtig ist, wo sie politisch stehen, etwa ob sie sensibel sind für Diskriminierung oder hart und unbeugsam.
Das ist nichts Neues. In allem, was ich sage, sage ich auch etwas über mich und zeige den anderen, wer ich bin oder wie ich mich verstehe.
Ja, aber durch die digitalen Medien und die sozialen Netze hat sich etwas fundamental gewandelt. Jeder steht jetzt in der Öffentlichkeit. Was jemand sagt, wird nicht mehr nur von ein paar Kollegen am Stammtisch wahrgenommen, sondern kann potenziell von jedem kommentiert werden. Deshalb wird das Reputationsmanagement umso wichtiger. Man fragt sich viel bewusster: Wie komme ich an? Können mich andere – vielleicht sogar absichtlich – falsch verstehen? Was muss ich tun, um von denen gut bewertet zu werden, die mir nahestehen? Und das ist dann oft wichtiger als die Sache, um die es geht.
Beeinflussen die neuen Formen der Kommunikation unseren moralischen Kompass?
Ja. Wenn Sie wissen, dass alles, was Sie sagen, jederzeit beurteilt werden kann, achten Sie viel genauer darauf, wozu Sie sich äussern und was Sie dazu sagen. Lieber einmal mehr von Rassismus, Sexismus oder Homophobie reden als einmal zu wenig. Sonst könnten Sie in den Verdacht geraten, das Leid anderer Menschen sei Ihnen egal. Sie fassen Ihre moralischen Begriffe lieber zu weit als zu eng, damit Ihnen niemand vorwerfen kann, Sie würden Dinge verharmlosen.
Was ist dagegen einzuwenden? In der Vergangenheit hat man moralische Begriffe in vielen Fällen zu selektiv definiert und über Sexismus und Rassismus hinweggesehen.
Dass man genauer hinschaut, ist richtig. Aber allein indem man sich öffentlich über Missstände empört, ändert sich für die Betroffenen noch nichts. Ausserdem verlagert sich die Debatte von den moralischen Fragen hin zu Fragen des sprachlichen Ausdrucks. Wir streiten immer mehr und immer heftiger über Wörter, ohne klare Nachweise, dass sich dadurch das Leben der Menschen verbessert.
Vielleicht nicht direkt. Aber die Sprache schärft doch das Bewusstsein für die Verhältnisse?
Bei einer sehr kleinen Gruppe von Menschen vielleicht. Die Idee, mit Sprache könne man die Welt verändern, ist vor allem unter Intellektuellen in den Geistes- und Kulturwissenschaften verbreitet. Bei den «Wortschmieden», also Leuten, die mit Sprache arbeiten und deshalb dazu neigen, die Macht der Sprache zu überschätzen. Ich halte das oft für eine Ersatzhandlung: Wir können die grossen Probleme nicht lösen und flüchten uns stattdessen in immer kleinere Feinheiten der Sprache.
Was meinen Sie konkret?
Vor einigen Jahren wurde dem britischen Schauspieler Benedict Cumberbatch vorgeworfen, dass er den veralteten Ausdruck «coloured actors» statt «actors of colour» verwendet hatte. Dabei war sein Anliegen redlich: Er hatte kritisiert, dass schwarze Schauspieler in England weniger Chancen hätten als in den USA, aber sich eben nicht ganz zeitgemäss ausgedrückt. Er verfocht ein Anliegen, das seine Kritiker zwar teilen, aber er erntete einen Shitstorm, weil die Begrifflichkeit in deren Augen nicht korrekt war. Ähnliche Beispiele gibt es viele: Eine minimale Normverletzung löst eine Empörung aus, die in keinem Verhältnis zum Problem steht.
Wird Moral zu einer Art Statussymbol?
Das könnte man so sagen. Und sie wird zur Angelegenheit einer kleinen Gruppe von Gebildeten, die in eigener Regie Standards festlegt und über die Begriffe, die sie verwendet, vor allem Signale an die eigene Gruppe sendet: Spreche ich von «PoC» (People of Colour) oder schon von «BIPoc» (Black, Indigenous and other People of Colour)? Das sind die «feinen Unterschiede», von denen der Soziologe Pierre Bourdieu sprach, nur sind sie nicht mehr nur im Geschmack zu finden, sondern auch in der Moral. Der grösste Teil der Menschen hat aber gar keine Zeit, sich ständig auf den neuesten Stand zu bringen und englisches Fachvokabular zu lernen. Und wenn man vorgeschrieben bekommt, wie man zu reden hat, weckt das fast immer Widerwillen oder sogar Ressentiments.
Dass sich Eliten durch den Sprachgebrauch abgrenzen, war schon immer so. Aber Sie gehen einen Schritt weiter. In Ihrem Buch reden Sie von «moralischem Kapital», was meinen Sie damit?
Dass Moral heute einen finanziellen Wert hat und kapitalisiert werden kann. Eben zum Beispiel von Unternehmen, die sich als besonders divers und inklusiv präsentieren und damit ihr Renommee aufpolieren. Es gibt auch ganze neue Berufsfelder. Diversitätsbeauftragte, die vermitteln sollen, wie man handelt, ohne andere zu diskriminieren. In den vergangenen Jahren haben Firmen weltweit Milliarden für solche Trainings ausgegeben. Grosse Studien zeigen allerdings, dass diese so gut wir gar nicht nützen: Mentoringprogramme für Minderheiten im Tech- und Finanzsektor haben nachweislich den stärksten Effekt, aber sie signalisieren eben nicht «Diversität», weil die Mentoren die sprichwörtlichen «alten weissen Männer» sind.
Vor lauter Moralheuchelei gerät die Moral unter Druck?
Die Moraldebatten werden verzerrt, sobald der Kampf um Gerechtigkeit zum Kampf um den eigenen Status wird, oder den Status der eigenen Gruppe. Gerade in der eher progressiven «kreativen Klasse» unter Akademikern befördern die Inszenierungen von Moral das, was sie bekämpfen wollen: den Zulauf zu den Populismen und die Polarisierung der Gesellschaft. Viele Menschen ziehen sich aus der Diskussion zurück, aus Angst, missverstanden und an den Pranger gestellt zu werden. Zurück bleiben die Lauten und die mit antisozialen Neigungen, die in den Netzwerken rechts und links einen Kulturkampf inszenieren und so am meisten Aufmerksamkeit bekommen.
Philipp Hübl: Moralspektakel. Wie die richtige Haltung zum Statussymbol wurde und warum das die Welt nicht besser macht. Siedler-Verlag, München 2024. 336 S., Fr. 38.90.