Montag, Januar 13

Genf ist eine der teuersten Städte der Welt, trotzdem produziert das Traditionsunternehmen hier seit über hundert Jahren. Jetzt soll Instagram helfen.

Die Maschinen von Caran d’Ache sind zum Teil schon seit Jahrzehnten im Einsatz.

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In der Fabrik von Caran d’Ache riecht es wie im Zeichensaal einer Schule: nach Farben, Wachs und Zedernholz. Fässer mit Pigmenten lagern in Regalen, Farbspritzer bedecken den Boden, und das Grafit von unzähligen Bleistiften hat die Fliessbänder grau gefärbt.

Als das Unternehmen im Jahr 1974 aus der Genfer Innenstadt in die Fabrik am Ortsrand zog, müssen deren Hallen grosszügig gewirkt haben, heute sind sie vollgestellt. Das Unternehmen baute sein Angebot in den vergangenen Jahrzehnten enorm aus. Und alles, was es verkauft, produziert es hier. Seien es Wasserfarben, Kugelschreiber oder Holzstifte. Und so kamen über die Jahre immer mehr Maschinen hinzu, bestehende Anlagen wurden vergrössert.

Manche Maschinen sind fünfzig Jahre alt. Sie rattern zuverlässig, dafür sorgen Hammer und Schraubenschlüssel griffbereit in der Nähe. Das Metall der Maschinen ist an einigen Stellen vom vielen Polieren schon ganz stumpf. Am Prozess der Herstellung eines Stiftes hat sich seit Jahrzehnten kaum etwas verändert. Pigmente werden zu Minen gerollt, über Stunden getrocknet, heiss gebadet, zentrifugiert, von Holzplatten umschlossen, gepresst, gedrechselt, lasiert und graviert. Ein Stift ist eben ein Stift.

Und hier beginnt die Herausforderung. Denn die Welt vor dem Tor der Fabrik von Caran d’Ache hat sich sehr wohl verändert. Die Handschrift hat an Bedeutung verloren, in der Kunst arbeiten immer mehr mit dem Zeichen-Tablet, die ganze Welt ist digitaler geworden. Kinder und Jugendliche verbringen heute mehr als dreieinhalb Stunden pro Tag im Internet. Für Stifte bleibt da kaum noch Zeit.

Dennoch baut Caran d’Ache eine neue Fabrik. Sie soll grösser, leistungsfähiger, umweltfreundlicher werden und näher an die Autobahn rücken. Innerhalb der kommenden Jahre will das Unternehmen mit seinen über 700 Maschinen und 300 Mitarbeitern in Genf auf ein neues Gelände am anderen Ende der Stadt umziehen.

In einer der teuersten Städte der Welt möchte Caran d’Ache mit alten Maschinen, Stiften und Wasserfarben der Digitalisierung trotzen. Kann das gutgehen?

Hübscher bleibt beim Sie

Beantworten muss diese Frage Carole Hübscher. Ihre Familie ist seit den 1930er Jahren in der Führung des Unternehmens vertreten. Heute sind die Hübschers die bedeutendsten Aktionäre.

«Natürlich hätten wir die neue Fabrik auch woanders aufbauen können», sagt sie. Irgendwo, wo der Boden billiger ist als in Genf. «Aber mit einem Wegzug hätten wir riskiert, viele langjährige Mitarbeiter und Fachwissen zu verlieren», sagt Hübscher.

Als Verwaltungsratspräsidentin trägt die 57-Jährige Verantwortung für die Belegschaft. «Meine Türe steht immer offen», sagt sie. Und umgekehrt: «Wenn ich eine Information brauche, gehe ich direkt zu der Person, die in der Fabrik an dem Produkt arbeitet. Die weiss es meistens am besten.»

Die Atmosphäre im Unternehmen ist familiär. Wenn Hübscher in der Kantine isst, steht sie in der Warteschlange wie ihre Angestellten auch. Doch während sich die Mitarbeiter untereinander duzen, hält Hübscher am Sie fest. Da ist die Patronne traditionell.

Zur Strategie von Caran d’Ache gehört es, daran festzuhalten, was die Marke bisher ausgemacht hat. Dazu gehört die Tatsache, dass Caran d’Ache alle seine Produkte unter dem gleichen Dach und in der Schweiz herstellt. Es ist auch ein Werbeargument, das Hübscher gerne herausstreicht – und dabei auf die Konkurrenten verweist, die Werke in Südamerika oder Asien betreiben. Sie setzten wie andere Stiftehersteller auf grosse Mengen und eine internationale Produktion.

Die Kugelschreiber werden getestet, bevor sie in den Verkauf kommen.

Für Carole Hübscher stand es jedoch nie zur Debatte, ins Ausland zu gehen. Im Logo von Caran d’Ache gibt es eine zweite Zeile, dort steht «Genève». Eine Abwanderung würde auch schlecht zu ihrem Engagement in der Stiftung für die Attraktivität von Genf passen, wo Hübscher mit anderen Vertretern der Wirtschaftselite aktiv ist.

Jenseits der Sentimentalitäten gibt es auch handfeste Gründe für diese unternehmerische Entscheidung. Würde Caran d’Ache im Ausland produzierte Schreibwerkzeuge verkaufen, hätte es das Unternehmen vermutlich schwerer, seine Sonderstellung auf dem Schweizer Markt durchzusetzen.

Über Umsatz und Gewinn schweigt das Unternehmen. «Solche Zahlen nützen nur der Konkurrenz», sagt Hübscher. Doch ungefähr die Hälfte des Umsatzes erwirtschafte das Unternehmen im Inland, sagt sie. Einen Teil davon machen die Schulen und die öffentliche Verwaltung aus. Als die Firma 2023 den Auftrag für die Stadtzürcher Schulen an die deutsche Faber-Castell verlor, sorgte das für Schlagzeilen.

Der Ursprung des Heimvorteils der Genfer liegt in der Kindheit. Wer in der Schweiz aufwächst, kennt die Marke. Viele kaufen die Produkte, weil sie es schon immer getan haben. Weil sie schon in der Schule mit den gleichen Stiften geschrieben haben. Diese Prägung möchte Caran d’Ache so lange wie möglich fortschreiben.

Die Minen heissen Goliath, wie der Krieger aus der Bibel

Zur Strategie von Caran d’Ache gehört auch, in allen Bereichen präsent zu sein. Wie gewisse Konkurrenten hätte sich die Firma auch auf einen Teilbereich konzentrieren können, wie es Unternehmensberater gerne predigen. Doch Caran d’Ache will weiterhin alles selber herstellen – von Bleistiften bis zu Ölkreiden.

Leisten kann sich das Caran d’Ache nur, weil es seine Ware im oberen Preissegment verkauft. Buntstifte im Holzkoffer für 460 Franken, einen Wasserfarbkasten für 32 Franken, Kugelschreiber aus Metall für 45 Franken. Die Minen zum Nachfüllen heissen Goliath, wie der Krieger aus der Bibel.

Der Schwerpunkt im Premiumbereich gilt erst recht im Auslandgeschäft, das die andere Hälfte des Umsatzes ausmacht. Dort kann das Genfer Unternehmen weniger mit Kindheitserinnerungen punkten. Caran d’Ache setzt dort auf den Ruf bei Künstlern und jenen, die es gerne wären.

Die Herstellung der Minen für Farbstifte ist ein zeitaufwendiger Prozess.

Um diese Menschen zu erreichen, setzt das Unternehmen auf die sozialen Netzwerke. Es geht Kooperationen mit Influencern ein. Künstler filmen sich dabei, wie sie mit den Produkten des Unternehmens malen, und geben kostenpflichtige Online-Malkurse.

Carole Hübscher sagt: «Die Digitalisierung ist gut, weil sie uns den Zugang zu unserer Community ermöglicht.» Das Unternehmen hat auf Instagram über 279 000 Follower. Es ist das soziale Netzwerk mit Wohlfühlcharakter für die Zwanzig- und Dreissigjährigen. Für bunte Farben und teure Lifestyle-Produkte sind Instagram-Nutzer die perfekte Zielgruppe. «Die Menschen wollen dem Bann des Digitalen entfliehen», sagt Carole Hübscher. Ironischerweise spürt man diese Menschen am besten im Internet auf.

Die Firma nutzt die Widersprüche der modernen Welt

Es ist einer dieser Widersprüche der modernen Welt. Weil sich Menschen von den sozialen Netzwerken und deren Erregungsspiralen überfordert fühlen, sehnen sie sich nach Entschleunigung und Kontrast. Viele lesen dann, backen Brot oder malen. Sie gehen offline und inszenieren es online. Das Neue dient dem Alten.

Aber rechtfertigt das den Bau einer neuen Fabrik? Vielleicht werden sich die Kinder und Grosskinder von Carole Hübscher einst über die Zukunft des Bleistifts Gedanken machen müssen. Vielleicht auch nicht. Hübscher hat es ihren Kindern ausdrücklich freigestellt, ob sie in der Firma mitarbeiten wollen. Eine implizite Erwartung, wie sie sie von ihrem Vater immer spürte, hat sie nicht.

Doch ob die Fabrik wieder fünfzig Jahre bestehen wird, darüber entscheiden künftige Generationen von Kunden. Dadurch, wie oft sie noch Stifte in die Hand nehmen.

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