Donnerstag, Dezember 26

Zwischen Angst und Trotz: Stimmen aus einer erschütterten Gemeinschaft.

Bald eine Woche ist der brutale Messerangriff auf einen Zürcher Juden her. Am vergangenen Samstag stach ein 15-Jähriger das Opfer nieder, im Zürcher Kreis 2 nahe einer Synagoge. Laut Zeugen soll er gerufen haben: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.»

Es ist die schwerste antisemitisch motivierte Gewalttat in der Schweiz seit Jahrzehnten. Mit Glück und dank der Zivilcourage von drei jungen Männern überlebt der Angegriffene, ein 50-jähriger orthodoxer Jude. Er wird ins Spital gebracht.

Cédric Bollag, Startup-Unternehmer: «Ich habe via Whatsapp davon erfahren. Es hat schnell die Runde gemacht. Beängstigend war es. Ich bin in der Nähe des Tatorts aufgewachsen und bin oft dort unterwegs. Man denkt sich: Wo bin ich noch sicher?»

Baruch Strauss, Lebensmittelhändler: «Man wird plötzlich unsicher, muss die Augen offen behalten. Am Sonntag, nach dem Angriff, habe ich auf der Strasse mehr als einmal über die Schulter geschaut. Das mache ich sonst nie.»

Die Reaktionen auf die Attacke sind so vielfältig wie die jüdische Gemeinschaft selbst. Viele betonen, dass sie der Polizei und den Behörden vertrauen würden. Andere diskutieren darüber, sich von nun an zu bewaffnen. So berichtet es ein orthodoxer Geschäftsinhaber, der aus Angst vor Anfeindungen nicht namentlich genannt werden will.

«Ich habe nachgeschaut: Wir haben genug Messer!», sagt er. Es ist nur so halb ein Witz. Der Schock, dass es im scheinbar sicheren Zürich zu einer solchen Tat gekommen ist, sitzt tief.

Zsolt Balkanyi, Rektor der Noam, einer jüdischen Schule: «Dieses Attentat ist eine Zäsur in der Geschichte unserer Gemeinschaft. Das Opfer wurde nur deshalb zum Ziel, weil es jüdisch ist. Es ist gefährlich geworden, als jüdisch erkennbar zu sein.»

Sarah Drukarch, Anwältin: «Ich war diese Woche im Tram und hatte eine israelische Nachrichten-App geöffnet. Da schaute ich mich plötzlich um und fragte mich, ob da vielleicht jemand ist, der mir nicht wohlgesinnt ist, den die hebräischen Buchstaben provozieren könnten. Ich war selbst schockiert, dass ich mir solche Fragen stelle, hier, in der Stadt, in der ich aufgewachsen bin.»

Ohnmacht

Vor jeder Synagoge, jeder jüdischen Schule sind die Folgen des Gewaltakts vom Samstag sichtbar. Polizisten mit Gewehr stehen breitbeinig da. Das Sicherheitsdispositiv wird von der Stadt- und der Kantonspolizei gestellt und wurde umgehend nach dem Vorfall ausgebaut.

Es ist für viele in der Gemeinschaft ein mit ambivalenten Empfindungen verbundener Anblick: Einerseits vermittelt er ein Gefühl von Sicherheit. Andererseits zeigt er, wie wenig selbstverständlich diese Sicherheit geworden ist.

Noam Hertig, Rabbiner: «Wir sind in einem Dilemma. Wir alle müssen wachsamer sein. Meine Kinder gehen nicht mehr allein in die Schule, meine Frau oder ich bringen sie hin. Für unser Sicherheitsgefühl, aber auch für ihre reale Sicherheit. Man stelle sich vor, unsere Synagoge wäre nicht gesichert gewesen und der jugendliche Attentäter wäre, wie er es geplant hatte, zuerst in die Synagoge gegangen . . . Bei allen Sicherheitsmassnahmen ist es aber auch wichtig, dass wir uns nun nicht zurückziehen, unser Gemeindeleben nicht herunterfahren. Wir müssen unbedingt weitermachen. Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen. Sonst haben die Terroristen ihr Ziel erreicht.»

Zsolt Balkanyi, Rektor der Noam: «Wie erklären Sie einem Neunjährigen, dass plötzlich Polizisten vor dem Schulhaus stehen? Ich sehe das bei meinem Sohn: Er findet das interessant, diese Männer mit Gewehren und schusssicheren Westen. Aber dann fragt er: ‹Warum sind sie da?› Und ich sage: ‹Um uns zu schützen.› – ‹Wovor?› – ‹Vor Leuten, die uns böse wollen.› – ‹Aber warum?› Dann bin ich gezwungen, antisemitische Stereotype zu erklären, die ich eigentlich um keinen Preis weiterverbreiten will. Und die Kinder sind damit konfrontiert, dass jemand sie nicht mag, nur weil sie jüdisch sind. Dabei teilen sie die Welt gar nicht in diese Kategorien ein. Das ist die Ohnmacht, in die uns der Antisemitismus zwingt.»

Aus dem Nichts kommt der Gewaltausbruch vom Samstag nicht. In einem Bekennervideo, das der Angreifer vor der Tat aufgenommen hat, erklärt sich dieser zum Soldat des Islamischen Staats (IS). Er wolle versuchen, so viele Juden wie möglich zu töten.

Der Täter wohnte zuletzt im Zürcher Glatttal und hat tunesische Wurzeln. Er wurde 2011 eingebürgert. Laut Aussagen von Nachbarn soll die Familie nicht besonders religiös gewesen sein. Dies schreiben die Tamedia-Zeitungen. Wie er sich radikalisierte, ist Gegenstand der Ermittlungen. Klar ist, dass er auf Online-Plattformen islamistisches Gedankengut verbreitete.

Sarah Drukarch, Anwältin: «Je länger die Woche dauerte, desto mehr verfestigte sich der Albtraum. Dass sich ein Jugendlicher hier bei uns so stark radikalisieren konnte, das hat mich erschüttert.»

Krieg

Für viele in der jüdischen Gemeinschaft besteht, zumindest indirekt, ein Zusammenhang zum Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober und zum Krieg in Gaza mit dem damit verbundenen Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung.

In diesem aufgeheizten Kontext sind die antisemitischen Vorfälle europaweit und auch in der Schweiz gestiegen. Auf Hauswänden und an Pro-Palästina-Demos tauchten auch in Zürich Slogans wie «From the River to the Sea, Palestine will be free» auf – für viele ein klarer Aufruf, Israel und seine Bewohnerinnen und Bewohner zu vernichten.

Cédric Bollag, Startup-Unternehmer: «Nach dem 7. Oktober war es eindrücklich, wie viele Leute zusammenkamen, um Israel zu unterstützen. In der jüdischen Gemeinschaft ist das nach wie vor so. Aber in der breiten Öffentlichkeit schien es nach 5 bis 10 Tagen plötzlich, als sei das alles vergessen.»

Zsolt Balkanyi, Rektor der Noam: «Es beginnt mit Spucken und hört mit dem Messer auf. Das ist ein Drehbuch, wie wir es leider schon Hunderttausende Male gesehen haben. Aus verbaler wird physische Aggression. Deshalb darf man diese Attacke nicht als Einzelfall abtun. Gewalt von solchem Ausmass ist zwar zum Glück noch selten, aber die Haltung dahinter ist es nicht.»

Noam Hertig, Rabbiner: «Als George Floyd in den USA wegen Polizeigewalt starb, gingen in Zürich über 10 000 Menschen auf die Strasse. Und das zu Recht – auch ich war damals empört. Aber wenn ein Jude in Zürich von einem Antisemiten niedergestochen wird, dann entstehen keine solchen Solidaritätsbekundungen. Es sind fast nur Juden, die dann auf die Strasse gehen. Dabei geht diese Gewalttat uns alle etwas an.»

Politik

Schon zwei Tage nach dem Vorfall beginnt der politische Streit über dessen Interpretation. Im Zürcher Kantonsparlament wirft die SVP der Linken vor, Antisemitismus von linksextremer und muslimischer Seite nicht entschieden genug zu verurteilen. Daraufhin marschieren die linken Parteien geschlossen aus dem Saal. Ebenfalls für Kontroversen sorgen Vorschläge von Regierungsrat Mario Fehr (parteilos), den jugendlichen Täter auszubürgern und aufgrund des Vorfalls das Jugendstrafrecht zu verschärfen.

In der Stadt Zürich konnten sich alle Parteien im Parlament am Mittwoch dann auf eine gemeinsame Erklärung zum Vorfall einigen.

Sarah Drukarch, Anwältin: «Das hat mir fast am meisten weh getan: dass so ein Vorfall sofort politisiert wird, dass er benutzt wird, um sich zu profilieren und mit dem Finger auf andere zu zeigen. Mir wurde richtig schlecht, als ich vom Hickhack im Kantonsrat erfahren habe. Da wurden wir zum Spielball der Politik gemacht. Dabei hilft uns das jetzt nichts. Wir brauchen ein Zusammenstehen, wir brauchen konkrete Massnahmen.»

Trauma

Jüdinnen und Juden leben bereits seit dem Mittelalter in Zürich. Die vollen Bürgerrechte haben sie damals jedoch nicht. 1349 kommt es zum «Zürcher Pogrom», bei dem Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft verfolgt und getötet werden. Sie werden von der Bevölkerung für die Verbreitung der Pest verantwortlich gemacht. Danach siedeln sich zwar wieder Jüdinnen und Juden in Zürich an, im 15. Jahrhundert werden sie jedoch wiederum aus der Stadt vertrieben.

Erst im 19. Jahrhundert kehren sie zurück. 1862 gewährt der Kanton Personen jüdischen Glaubens die freie Niederlassung. Insbesondere aus Osteuropa kommen danach viele in die Stadt.

Das jüdische Leben in Zürich ist sehr vielfältig und umfasst alles von ultraorthodox bis liberal. Die meisten Jüdinnen und Juden wohnen in den Kreisen 2 und 3. Rund 6000 bis 7000 sind es insgesamt, ein beachtlicher Teil der rund 18 000 Juden in der Schweiz.

Noam Hertig, Rabbiner: «Man hat uns im Mittelalter aus Zürich verdrängt, aber wir sind zurückgekehrt. Auch während des Zweiten Weltkriegs, als rundherum in Europa Juden vernichtet wurden, konnten wir in Zürich unsere Gottesdienste abhalten. Wir gehen so schnell nicht weg von hier.»

Baruch Strauss, Lebensmittelhändler: «Wir haben alle ein kollektives Trauma, nicht erst seit dem Holocaust, sondern seit 2000 Jahren. Wenn dann etwas passiert, das dieses Trauma bestätigt, dann. . . ja, wird es unangenehm.»

Sarah Drukarch, Anwältin: «Was mir Hoffnung gibt, sind die Passanten, die dem Opfer des Überfalls sofort zu Hilfe geeilt sind. Das ist leider nicht selbstverständlich – und ein grosser Lichtblick.»

Hoffnung

Eine Woche nach dem schwersten Gewaltvorfall seit über 20 Jahren scheint die jüdische Gemeinschaft in Zürich zu schwanken, zwischen Angst auf der einen und Stolz sowie Selbstbehauptungswillen auf der anderen Seite. Auf den Schock über die brutale Tat folgt in Gesprächen oft so etwas wie Trotz: die Überzeugung, dass man sein Leben nicht dem Hass eines Extremisten unterordnen will.

Seine Kundschaft, sagt der Geschäftsinhaber, der anonym bleiben möchte, komme aus allen Teilen der jüdischen Gemeinschaft, von säkular bis ultraorthodox. «Es sind alles ganz normale Schweizer.» Ihr Heimatgefühl, das betonten viele, wollten sie sich durch eine solche Tat nicht nehmen lassen.

Zsolt Balkanyi, Rektor der Noam: «Der Fall zeigt in trauriger Radikalität, dass es auch im Jahr 2024 noch spezielle Sicherheitsmassnahmen für jüdische Einrichtungen braucht. Das ist eine ernüchternde Feststellung. Wir haben unsere Kinder nicht hinter schusssicherem Glas, weil wir das wollen, sondern weil es nötig ist. Und doch wollen wir ihnen auch vermitteln: Wir gehören hier dazu, wir wollen etwas beitragen. Und wir dürfen nicht resignieren.»

Noam Hertig, Rabbiner: «Ich bin trotz allem nicht verzweifelt. Wir haben als Volk schon so viel durchgemacht. Und doch sind wir immer noch da, sind immer noch am Lachen und feiern unser jüdisches Leben. Vielleicht ist es das, was uns auszeichnet: dass wir trotz aller Unterdrückung und allen schrecklichen Ereignissen, die uns widerfahren sind, die Hoffnung nicht verloren haben. Und die verlieren wir auch jetzt nicht.»

Baruch Strauss, Lebensmittelhändler: «Wir sind da, wir bleiben da, wir werden uns nicht verstecken. Am Samstag werde ich wie immer durch die Strassen gehen, stolz, mit allen jüdischen Kleidern und meinem Pelzhut.»

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