Mittwoch, November 27

Anonyme Meldungen über Fehlverhalten von Professoren werden häufig nicht weiterverfolgt – wegen juristischer Bedenken. Die Whistleblowing-Stelle des Bundes geht anders vor.

Die ETH Zürich sieht sich erneut mit Forderungen von unzufriedenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konfrontiert. Auslöser ist eine Recherche der Tamedia-Zeitungen vom vergangenen Sommer. Der Artikel machte den Fall eines Professors publik, der sich über einen Zeitraum von mindestens zweieinhalb Jahren unangemessen gegenüber Mitarbeitenden und Studierenden verhalten haben soll. Acht Personen hatten sich demnach bei der Meldestelle der ETH über den Mann beschwert. Doch dann – so vermittelte es der Zeitungsbericht – passierte lange nichts.

Die Recherche der Tamedia-Zeitungen erschien, die Hochschule stand schlecht da. Julia Dannath, die Vizepräsidentin für Personalentwicklung und Leadership, versuchte noch, gegenzusteuern. In einem Statement auf der Website der ETH gestand sie Fehler ein und betonte, dass die nun laufenden Abklärungen in jenem Fall auch ohne Druck der Öffentlichkeit eingeleitet worden wären.

Doch der Schaden war angerichtet. Kritiker des hierarchischen Hochschulsystems konnten sich in ihrem Verdacht bestätigt fühlen, dass die ETH ihre ebenso mächtigen wie renommierten Professoren so lange schütze, bis die Medien deren Fehlverhalten publik machten.

Das Verdikt der Empörten: Auch sieben Jahre nach Bekanntwerden des unrühmlichen Falls um Marcella Carollo – die Astronomin war 2019 wegen inakzeptabler Führungsmethoden und pflichtwidrigen Verhaltens gegenüber Doktoranden entlassen worden – mache die ETH immer noch zu wenig, um ihren eigenen Ansprüchen von Respekt, Verantwortung und einer offenen Kommunikationskultur gerecht zu werden.

«Die Zeit ist um!»

Nun machen drei Organisationen junger ETH-Wissenschafterinnen Druck: Women in Natural Sciences, 500 Women Scientists Zurich und Speak up! in Academia. Sie haben Ende Oktober eine Online-Petition aufgeschaltet, die die ETH Zürich in drastischen Worten zum «Handeln» auffordert. «Wir sind schockiert – die Zeit ist um!», so lautet der Titel des Dokuments, das am Freitagnachmittag auf der Polyterrasse der Schulleitung der ETH übergeben werden soll. Über 1100 Personen haben unterschrieben. Allerdings konnte man den Forderungskatalog auch unterstützen, ohne Angehöriger der Hochschule zu sein.

In der Petition heisst es unter anderem: «Die Schulleitung muss Verantwortung übernehmen.» Und: «Wir werden die öffentliche Aufmerksamkeit so lange auf diese Probleme richten, bis das Arbeits- und Studienumfeld an der ETH frei von Mobbing, Diskriminierung und sexueller Belästigung ist.»

Eine der Petitionärinnen sagt gegenüber der NZZ: «Das grösste Problem ist die Intransparenz.» Der Fall Carollo sei längst nicht der einzige Fall, in dem sich ein Professor oder eine Professorin schweres Fehlverhalten habe zuschulden kommen lassen. Es sei lediglich der einzige, der ernsthafte Konsequenzen nach sich gezogen habe. So sei es schwer, einen Kulturwandel hinzubekommen, sagt die Doktorandin.

Julia Dannath widerspricht der Darstellung der Petitionärinnen vehement. Die ETH nehme ihre Verantwortung sehr wohl wahr, sagt die ETH-Vizepräsidentin gegenüber der NZZ.

Tatsächlich hat die Hochschule in den vergangenen Jahren einiges unternommen. Der ETH-Präsident Joël Mesot hat eine gute Arbeitskultur zur Chefsache erklärt. Der Verhaltenskodex wurde überarbeitet, und neben der internen wurde auch eine externe Meldestelle geschaffen. Zur Klärung bei Konflikten am Arbeitsplatz können sich ETH-Angehörige auch an die Ombudsstelle oder ans HR wenden.

Zudem müssen sich Professorinnen und Professoren seit diesem Jahr einem sogenannten Leadership-Feedback-Prozess stellen. Das heisst, sie werden von ihren Doktorandinnen und anderen Mitarbeitern beurteilt. Und sie müssen dieses Feedback danach mit eigens dafür ausgewählten Gesprächspartnern auf Augenhöhe besprechen. Zum Beispiel mit Astrid Epiney, der früheren Rektorin der Universität Freiburg. Danach muss das Feedback-Tandem der Vizepräsidentin Dannath gemeinsam darüber berichten.

Viele Betroffene schweigen lieber

Aber was ist, wenn Doktorandinnen von ihren Vorgesetzten schlecht behandelt werden oder noch schlimmer – und darüber kein Feedback geben wollen, sondern lieber schweigen, bis sie ihr Doktorat abgeschlossen haben? Oder wenn sie die ETH frühzeitig verlassen, weil sie es unter ihrem Betreuer nicht mehr ausgehalten haben?

Dannath sagt: «Das kann vorkommen. Aber wir schauen da hin. Wir wollen genau wissen, warum jemand die Dissertation abgebrochen hat.» Und, generell: «Ich kann Ihnen versichern, dass ich als Vizepräsidentin immer wieder personal-disziplinarische Massnahmen treffe, in welchen Kontexten auch immer.» Für Professoren seien solche Gespräche sehr unangenehm.

Mehr kann Dannath dazu nicht sagen. Arbeitskonflikte – darauf laufen Vorwürfe wegen Mobbings, Machtmissbrauchs oder sexueller Belästigung hinaus – unterliegen der Vertraulichkeit. Bei laufenden Untersuchungen sind Hochschulen zum Schweigen verpflichtet. Auch wenn das von «schockierten» Mitarbeiterinnen und in den Medien immer wieder als intransparent oder Vertuschung gebrandmarkt wird – wie an der ETH in den vergangenen Jahren immer wieder geschehen.

Schwachstellen gibt es trotzdem. Junge Wissenschafter sind abhängig von ihren Vorgesetzten. Die meisten Opfer von Mobbing oder Belästigungen an Hochschulen wollen anonym bleiben, da sie um ihre Karriere fürchten – sofern sie Machtmissbrauch oder Übergriffe überhaupt zur Sprache bringen.

Doch an der ETH Zürich wird dieses Problem noch verschärft. Die Hochschule stellt sich auf den Standpunkt, dass sie als öffentliche Institution im Schweizer Rechtssystem «aufgrund von anonymen Hinweisen allein» nicht aktiv werden könne. So steht es auf der Website der ETH, die über das entsprechende Meldeverfahren informiert. Dannath sagt: «Beschuldigten Personen muss rechtliches Gehör eingeräumt werden. Und sie müssen Gelegenheit haben, zu den Vorwürfen Stellung zu nehmen.»

Ohne Namen also keine Abklärungen, keine Ermahnung durch die Vizepräsidentin, keine Massnahmen. Zumindest an der ETH Zürich. Dort verhalten sich die Meldestellen von Anfang an so, als laufe bereits eine Untersuchung.

Die Vizepräsidentin sagt: «Wir werden das prüfen»

Die Universität Luzern und die Eidgenössische Finanzkontrolle (EFK) machen das anders. Beide Institutionen werden in der Petition der jungen ETH-Forschenden als gute Beispiele portiert.

Für die Universität Luzern sind anonyme Hinweise über Missstände kein Grund, diesen Signalen bei ausreichenden Indizien nicht nachzugehen. «Ich würde mit einem Professor sicher das Gespräch suchen, nachdem mehrere Meldungen über ihn eingegangen sind», sagt Regina Aebi-Müller, Prorektorin für Personal an der Universität Luzern. Ein solches Meeting sei durchaus als Warnung zu verstehen, «auch wenn wir die Vorwürfe zu diesem Zeitpunkt nicht verifizieren können».

Die Finanzkontrolle des Bundes äussert sich ähnlich. Sie betont, dass man ein solches Gespräch durchaus führen könne, ohne die Urheber der Vorwürfe kenntlich zu machen. «Schliesslich geht es für uns auch darum, der Sachlage auf den Grund zu gehen», sagt Eric-Serge Jeannet, der Vizedirektor der EFK und Leiter der Whistleblowing-Stelle der Bundesverwaltung. Falsche Anschuldigungen gingen nur sehr wenige ein. Ein System, mit dem Betroffene anonym mit der Meldestelle korrespondieren können, haben die Finanzkontrolle und die Universität Luzern bereits vor Jahren implementiert.

Das – und die entsprechende Kultur dahinter – fordern die Petitionärinnen auch von der ETH. Julia Dannath sagt dazu: «Wir finden das spannend und werden das prüfen.» Bisher sei man davon ausgegangen, dass beschuldigten Personen rechtliches Gehör gewährt werden müsse und mit anonymen Meldungen allein daher nichts zu machen sei.

Das Beispiel der Eidgenössischen Finanzkontrolle zeigt, dass es auch anders geht. Und dass Einrichtungen des Bundes bisweilen munter aneinander vorbei operieren: Da die ETH Zürich eine eidgenössische Hochschule ist, können ihre Angestellten Missstände bereits heute auch der EFK melden, wie die Finanzkontrolle auf Anfrage bestätigt.

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