Donnerstag, November 28

Das EWZ droht seine Kraftwerke und Stauseen in Graubünden zu verlieren. Noch jedoch hoffen der Firmenchef Benedikt Loepfe und der Zürcher Stadtrat Michael Baumer auf ein Einlenken der Bergler. Ein Streitpunkt ist die Erhöhung des Staudamms Marmorera.

Die Arbeitsteilung hat jahrelang funktioniert: Die Berggemeinden und die Gebirgskantone stellen den Rohstoff Wasser und das mächtige Gefälle in der Landschaft zur Verfügung und erhalten dafür einen fixen Zins. Die Stromfirmen aus dem Unterland liefern im Gegenzug das Know-how, um daraus gewinnbringend Strom zu produzieren.

Nun aber wird das Modell infrage gestellt. In den nächsten zwanzig Jahren laufen die Konzessionen der meisten Wasserkraftwerke aus. Und die Bergkantone sind nicht länger damit einverstanden, dass die Erträge aus dem Energiegeschäft zu einem grossen Teil ins Unterland fliessen. Sie wollen darum den «Heimfall» ausüben und die Kraftwerke selber übernehmen.

Davon stark betroffen ist das Stadtzürcher Elektrizitätswerk (EWZ), das im Kanton Graubünden elf Kraftwerkzentralen sowie mehrere Stauseen betreibt, darunter den Marmorera-Stausee am Julier oder den Albigna-Stausee im Bergell. Holen der Kanton Graubünden und die Standortgemeinden die Wasserkraftwerke heim, verliert das Unternehmen sein wichtigstes Standbein im Stromgeschäft.

Noch jedoch haben der EWZ-Chef Benedikt Loepfe und der Stadtrat Michael Baumer die Kraftwerke nicht verloren gegeben. Sie hoffen auf eine Einigung mit den Bündner Gemeinden und dem Kanton – und dass die Wasserkraft mehrheitlich im eigenen Besitz bleibt.

Herr Baumer, Herr Loepfe, 1948 verkaufte die Gemeinde Marmorera der Stadt Zürich die Konzession für die Errichtung eines Stausees und die Nutzung des Wassers zur Energiegewinnung für achtzig Jahre. Die Einwohner stimmten damals aus finanzieller Not dem Untergang des eigenen Dorfes zu, dessen alter Kern einige Jahre später überflutet wurde. Wie stark wirkt diese leidvolle Geschichte heute noch nach?

Baumer: In unseren Gesprächen mit dem jetzigen Gemeindevorstand ist das kein Thema. Die Vergangenheit kommt allenfalls in der Diskussion um die geplante Erhöhung des Staudamms in Marmorera auf. Da spüren wir den starken Wunsch der Gemeinde, dass keine Häuser geopfert werden müssen. Es ist klar, dass wir das Projekt so dimensionieren, dass das nicht nötig sein wird.

Vor der Überflutung des Dorfes gab es vor Ort eine starke Opposition gegen den Staudamm, die auch nach dessen Bau jahrzehntelang weiter bestand. Spüren Sie davon heute noch etwas?

Loepfe: Ich habe diese Zeit selber nicht erlebt. Aber in Marmorera gibt es nach wie vor einen Graben zwischen denen, die unterhalb des Damms wohnen, und den anderen, deren Häuser über dem Stausee liegen. Direkt darauf angesprochen werde ich aber selten. Diese Sache ist mehrheitlich überwunden.

Sie verhandeln mit diversen Gemeinden im Kanton Graubünden über eine Erneuerung der Konzession für die Nutzung der Wasserkraft. Glauben Sie, dass die Rechnung für die Bewohner in der Region in den letzten Jahrzehnten aufgegangen ist?

Baumer: Die Gemeinde Marmorera hat finanziell vom Stausee profitiert. Sie war dank der Wasserkraft jahrelang eine der steuergünstigsten Gemeinden im Kanton. Die Nachbargemeinde Bivio, die keine Wasserkonzessionen vergeben konnte, blieb dagegen eine der ärmsten Gemeinden mit einem sehr hohen Steuersatz. Ich masse mir aber kein Urteil an darüber, ob die finanziellen Entschädigungen die damalige Überflutung des alten Dorfes mit all ihren Folgen aufgewogen haben. Diese Frage können nur die Bewohnerinnen und Bewohner selber beantworten.

Graubünden will nun die Wertschöpfung aus der Wasserkraft in den Kanton zurückholen und nach Auslaufen der Konzessionen die Kraftwerke selber übernehmen. Haben Sie Verständnis dafür?

Baumer: Ich kann nachvollziehen, dass man Wertschöpfung und Arbeitskräfte im Kanton behalten will. Wir dürfen aber schon sagen: Das EWZ ist nicht nur ein Zürcher Unternehmen, sondern auch ein bündnerisches. Zehn Prozent unserer Belegschaft arbeiten in Graubünden. Auch werden die Wasserkraftwerke nicht von Zürich aus gesteuert, sondern von Sils im Domleschg. In Graubünden hat es mehr EWZ-Angestellte als in mancher Dienstabteilung in der Stadt Zürich. Hinzu kommt: Das EWZ betreibt nicht nur Wasserkraftwerke in Graubünden, sondern auch Energieverbünde und Verteilnetze und bietet Energieberatungen an. Im Bergell ist das EWZ die zweitgrösste Arbeitgeberin. Kurzum: Wir bieten sichere Arbeitsplätze, viele davon für Hochqualifizierte.

Es geht nicht nur um Arbeitsplätze. Der Bergkanton will stärker am Erfolg im Stromgeschäft teilhaben und verhindern, dass die Gewinne ins Unterland fliessen.

Baumer: Wir betreiben die Wasserkraft nicht, um hohe Gewinne zu erzielen. Der Heimfall würde aber dazu führen, dass bewährte Strukturen aufgelöst werden. Graubünden muss Know-how und die Organisation zum Bau und Betrieb der Werke wie auch zur Verwertung des Stroms erst aufbauen. Das führt zu unnötigen Friktionen und Verzögerungen.

Heute bezahlt die Stadt Zürich den Bündner Gemeinden einen festen Zins für die Nutzung des Wassers. Ist dieser Mechanismus überholt?

Loepfe: Zum Teil schon, da Abgaben, Leistungen und Einmalzahlungen aus der Zeit stammen, als die ersten grossen Wasserkraftwerke in der Schweiz gebaut worden sind. Wir bewegen uns heute in einem Markt. Darum möchten wir im Kanton Graubünden künftig ein Modell anwenden, mit dem er und die Gemeinden stärker am Erfolg partizipieren können.

Was bieten Sie den Bündner Gemeinden und dem Kanton konkret an?

Loepfe: Das EWZ übernimmt einen grossen Teil der Risiken, lässt die Gemeinden und den Kanton aber je nach ihrer Risikobereitschaft am Erfolg teilhaben. Sie erhalten den Wasserzins und können zusätzlich, je nach ihrem Risikohunger, über die Höhe einer fixen Vergütung und eines variablen, erfolgsabhängigen Teils entscheiden.

Wären die Berggemeinden in den letzten Jahren bereits im Besitz der Wasserkraftwerke gewesen, hätten sie aufgrund der horrenden Preise während der Energiekrise enorm profitiert – stattdessen sind diese Gewinne nun bei Ihnen angefallen.

Loepfe: Das mag sein. Aber wenn wir zurückblicken, dann zeigt sich, dass die Stromfirmen davor zehn Jahre lang eine sehr schwere Zeit durchliefen, in welcher der Marktpreis unter den Gestehungskosten der Kraftwerke lag. Die Wasserkraft war in dieser Phase ein Verlustgeschäft. Das EWZ konnte das aushalten, die meisten Standortgemeinden wären dazu nicht in der Lage gewesen.

Warum?

Loepfe: Das EWZ ist ein voll integriertes Unternehmen, das Strom produziert und absetzt, Strom- und Wärmenetze betreibt. Wir können die Risiken auch dank unserem breiten Portfolio und der Grundversorgung viel besser verteilen und tragen als die meisten Standortgemeinden. Diese Stärke möchten wir auch in Zukunft in eine Partnerschaft mit den Berggemeinden und dem Kanton einbringen.

Beim Kraftwerk Pintrun in der Surselva muss sich die Eigentümerin Axpo fortan mit einem 20-Prozent-Anteil begnügen. Könnte das EWZ mit einer solchen Rolle als «Junior Partner» leben?

Loepfe: Wenn wir die Investitionen tragen sollen – etwa für die Erweiterung des Stausees in Marmorera – dann wollen wir auch gewisse Sicherheiten dafür haben und entsprechende Anteile an den Kraftwerken halten können. Hinzu kommt: Verlieren wir die Beteiligungen an der Wasserkraft, können wir weniger Synergien nutzen. So involvieren wir die Mitarbeitenden, die für den Betrieb der Wasserkraftwerke zuständig sind, in Graubünden auch in Netz- und Wärmeprojekte. Auf diese Weise können wir attraktive und sichere Arbeitsplätze anbieten.

Wie weit sind Sie von einer Einigung mit den Bündner Standortgemeinden und dem Kanton entfernt?

Baumer: Im Bergell hat sich die Bevölkerung vor einem Jahr klar dafür ausgesprochen, eine vollständige Erneuerung der Konzession mit dem EWZ anzustreben. Die Gemeinde Surses, zu der auch Marmorera gehört, hat die Erneuerung der bestehenden Konzession dagegen Anfang Jahr abgelehnt. Sie will sich aber alle Optionen offenhalten – eine davon ist es, mit uns weiterzuarbeiten. Wir sind nun daran, unsere Modelle den Vertretern der Gemeinde und dem Kanton näherzubringen.

Sie möchten den Staudamm des Marmorerasees erhöhen – das Projekt ist eines der 16 Wasserkraftprojekte, die im Stromgesetz verankert wurden. Ist das überhaupt möglich, solange unklar ist, wer künftig Eigentümer der Anlagen sein wird?

Baumer: Ja, aber nur wenn die offenen Fragen zeitnah geklärt werden. Denn um den Investitionsentscheid zu fällen, müssen wir wissen, wer das Kraftwerk nach dem Auslaufen der Konzession im Jahr 2035 betreiben wird – und wie wir für unsere Vorleistungen entschädigt werden, wenn der Heimfall ausgeübt wird. Hinzu kommt: Wird die Staumauer erhöht, muss ein Abschnitt der Nationalstrasse weiter nach oben verlegt werden. Auch dafür braucht es Klarheit, unter welchen Voraussetzungen das Ausbauprojekt erfolgen soll.

Ist das eine implizite Aufforderung an den Kanton Graubünden, endlich vorwärtszumachen?

Baumer: Es ist richtig, dass Gemeinde und Kanton zuerst sauber abklären, wie das Projekt realisiert werden kann. Dafür sollen sie sich Zeit nehmen. Aber wir stehen nun an einem Punkt, an dem wir einen Schritt vorwärts machen sollten. Es darf nicht sein, dass wir fünf Jahre planen – und dann ziehen Gemeinde und Kanton dem Projekt den Stecker.

Das EWZ will in die Staumauererhöhung etwa 100 bis 150 Millionen Franken investieren. Stirbt das Projekt, wenn der Kanton Graubünden sich dafür entscheidet, den Heimfall auszuüben?

Loepfe: Nicht zwangsläufig. Aber in diesem Fall möchten wir für unsere Aufwände entschädigt werden. Wir sind bereit, auch dafür eine Lösung zu finden, aber das Projekt soll schnellstmöglich realisiert werden, damit die nationalen Zubauziele erreicht werden.

Und was haben eigentlich die Stadtzürcherinnen und -zürcher davon, wenn das EWZ weiterhin die Wasserkraftwerke in den Bergen betreibt? Sie könnten diesen Strom ja auch am Markt einkaufen, so wie die kantonalen EKZ.

Baumer: Das stimmt. In den letzten zehn Jahren wäre es sogar günstiger gewesen, den Strom auf dem Markt einzukaufen. Es liegt in der DNA der Stadt Zürich, eigenen Strom unabhängig von der Marktsituation zu produzieren. So können wir in der Grundversorgung stabile und günstige Stromtarife anbieten. Wir leisten damit auch einen Beitrag an die Versorgungssicherheit dieses Landes, was nicht zuletzt für den Wirtschaftsstandort Zürich von zentraler Bedeutung ist. Darum engagieren wir uns auch stark für den der Ausbau der erneuerbaren Energien. Zürich ist keine Insel. Wenn es im Rest der Schweiz dunkel wird, gehen auch in unserer Stadt die Lichter aus.

Sollte die Stadt Zürich, bevor sie weiter in den Bergen investiert, nicht zuerst vor der eigenen Tür kehren? Die Abdeckung mit Solaranlagen auf den Zürcher Dächern liegt deutlich unter dem Schweizer Durchschnitt.

Loepfe: Mit der Solarstrategie der Stadt Zürich wollen wir das rasch ändern. Was dieses Unterfangen allerdings stark erschwert: Auf Stadtgebiet stehen viele der Gebäude unter speziellem Schutz. Die Hausbesitzer müssen deshalb für jede Anlage in diesem Bereich ein Baugesuch einreichen. Das ist äusserst zeitraubend.

Wenn das EWZ die Wasserkraft verliert, können Wind- und Solarkraftwerke diesen Ausfall kompensieren?

Loepfe: Wohl nicht. Wir müssen mittelfristig bereits die wegfallende Kernenergieproduktion mit Wind- und Solarkraftwerken ersetzen. Da solche Anlagen hierzulande nicht in einem vernünftigen Rahmen realisiert werden können, sind wir gezwungen, im Ausland zu investieren. Verlieren wir die Wasserkraft, werden wir daher ein Stromhändler, der den Strom für seine Kundinnen und Kunden am Markt einkauft. Eine solche Lösung wäre aber nicht in unserem Sinne.

Wenn der Ausbau der erneuerbaren Energien nicht gelingt – sollte dann die Kernkraft wieder stärker zum Zug kommen?

Loepfe: In den nächsten Jahren benötigen wir in unserem Energiesystem sehr flexible Kraftwerke, die Energie rasch zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt liefern können. Dafür sind Wasserkraftwerke prädestiniert und auch Gaskraftwerke, die mit erneuerbaren Gasen betrieben werden. Auf die Kernkraft trifft dies nicht zu.

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