Sonntag, Oktober 6

Vor 30 Jahren wurde die Schweiz Schauplatz einer Gewaltorgie, die weltweit Entsetzen auslöste. Was zunächst wie ein kollektiver Suizid aussah, war vielmehr ein Massenmord.

Der wohl grösste Kriminalfall der Schweizer Geschichte beginnt mit einem Blutbad in Kanada. Joel Egger, ein 35-Jähriger, der früh verwaist war, Drogenprobleme hatte und sich mit Gelegenheitsjobs durchschlägt, fliegt am 29. September 1994 von Zürich nach Montreal. Er ist Mitglied des Ordens der Sonnentempler – und in geheimer Mission seines Gurus unterwegs. Dreissig Autominuten nördlich von Montreal, in Morin-Heights, wo sich ein Zentrum der Sekte befindet, trifft er drei weitere Mitglieder.

Sie suchen ein Ehepaar auf, das sich nicht mehr an die Regeln des Ordens gehalten hat und deren dreimonatiger Sohn von der Sekte als «Antichrist» gesehen wird. Und schreiten zur Tat: Der Vater wird mit fünfzig Messerstichen umgebracht. Der Mutter wird die Waffe achtmal in den Rücken gerammt – für die acht Gesetze der Sonnentempler – sowie die Brust aufgeschlitzt, da dort der angebliche Antichrist gesäugt wurde. Dem Baby wird das Herz mehrfach durchstochen.

Egger und eine Komplizin reisen danach zurück in die Schweiz. Die beiden anderen Sonnentempler verstauen die Leichen, reinigen den Tatort, nehmen die Droge Benzodiazepin ein und setzen am 4. Oktober mit einem Zeitzünder das Sektenhaus in Brand – und ihrem Leben ein Ende. Die kanadischen Ermittler stehen vor einem Rätsel.

Doch nur wenige Stunden nach Entdecken der sterblichen Überreste brennt es in einem 5600 Kilometer entfernten Dorf im Kanton Freiburg. Es offenbart die weitere Dimension dieses Verbrechens.

Die «alpine Apokalypse»

In der Nacht auf den 5. Oktober steht im 240-Seelen-Ort Cheiry ein Hof in Flammen. Die Feuerwehr bricht die Tür auf und findet den Besitzer in seinem Schlafzimmer, mit einem Kopfschuss getötet. In der Garage stossen die Einsatzkräfte auf eine Geheimtür und einen Geheimgang zu einem unterirdischen Kultraum, mit rotem Samt ausgeschlagen, mit Spiegeln an den Wänden und einem Bild eines Christus-ähnlichen Mannes. 22 leblose Körper von Männern, Frauen und einem Kind liegen dort.

18 von ihnen kreisförmig ausgerichtet, als symbolisierten sie Sonnenstrahlen. Sie sind in weisse Gewänder der Sonnentempler gehüllt, fast alle mit einem grauen Plastiksack über dem Kopf, einige an den Händen gefesselt. Offenbar betäubt und dann exekutiert worden, mit über sechzig Schuss. Mehrere Brandsätze mit Zeitzündern sind gelegt worden, um alle Spuren zu beseitigen. Aber ausgerechnet dort, wo die Leichen liegen, hat der Zerstörungsmechanismus versagt, was die Arbeit der Ermittler erleichtern wird. In einem Nebenraum werden persönliche Dokumente sichergestellt, die der Identifikation der Toten dienen – es sind Schweizer, Franzosen und Kanadier.

Drei Stunden nach dem grausigen Fund rücken weitere 150 Kilometer entfernt die Feuerwehrleute aus. In zwei Chalets im Walliser Dorf Les-Granges-Salvan stossen sie auf 25 Leichen, unter ihnen 5 Kinder. Auch hier wurden sorgsam Brandsätze mit Zeitzündern platziert.

Das «erschütterndste und bizarrste Massenmorddrama, das die Schweiz je erlebt» hat (der deutsche «Spiegel») macht international Schlagzeilen. Die Wahnsinnstat erinnert an die Massensuizide der amerikanischen Volkstempel-Sekte im Dschungel von Guyana im Jahr 1978 (über 900 Tote) und der Davidianer in Texas 1993 (72 Tote). Und nun also der Orden der Sonnentempler, den selbst Sektenexperten kaum gekannt haben. Aus aller Welt reisen Reporter an. «Where are the bodies?», wird gefragt, oder: «Is this Valais or Fribourg?» Der britische «Guardian» schreibt von der «Apocalypse alpine».

Und vor Ort wird ein Abschiedsbrief gefunden: «Wir verlassen diese Erde ohne Bedauern», steht darin. Handelt es sich um einen «kollektiven Selbstmord», wie die Polizei zunächst vermutet? Oder starben nicht alle auf eigenen Wunsch? War es nicht vielmehr eine Massenexekution?

Tricks des Tempelritters

Die geheime Parallelgesellschaft der Sonnentempler aufgebaut und geführt hat ein Mann namens Joseph Di Mambro, den ausserhalb der Sekte niemand als grossen Guru vermutet hätte. Der 1924 als Sohn einer katholischen Familie in Südfrankreich geborene Di Mambro ist eine unscheinbare Figur: kleingewachsen, kurzsichtig, übergewichtig. Von Beruf Goldschmied hat er sich früh für spiritistische Praktiken begeistert und sich als Heiler versucht. 1976 lässt er sich in Genf nieder und gründet eine «Loge». Eine Yogalehrerin und eine Wachtraumtherapeutin sind angetan und rekrutieren in ihren Praxen neue Anhänger. Di Mambro gibt vor, mit Wesen im Jenseits kommunizieren zu können.

Anfang der 1980er Jahre trifft er auf Luc Jouret, einen belgischen Arzt und Homöopathen, der Ausstrahlung hat und sich ausdrücken kann – und fortan im neugegründeten «Orde du Temple solaire» als eine Art Aussenminister fungiert. Er hält Vorträge zu esoterischen Themen und alternativen Heilmethoden. Di Mambro und Jouret finden Anklang, nicht nur bei verwirrten Seelen, sondern auch bei erstaunlich vielen Normalbürgern, auch solchen mit viel Geld.

Gründer und Guru der Sonnentempler-Sekte: Joseph Di Mambro mit seiner Frau Jocelyne und dem «kosmischen» Kind Emmanuelle sowie in einer späteren Aufnahme Anfang der 1990er Jahre.

Was zunächst aussieht wie eine Kommune aus Vegetariern, die biologischen Landbau betreiben und neue Lebensformen erproben, entwickelt sich über die Jahre zu einer Sekte mit Ablegern in der Schweiz, Frankreich, Kanada und anderen Ländern. Zu Beginn der 1990er Jahre soll sie gegen 500 Mitglieder haben, von denen aber nur ein Teil zum inneren Zirkel zählt. Di Mambros Heilslehre ist ein kruder Mix aus okkulten und mystischen Ideen, Esoterik, New Age, mittelalterlichen Sagen, Astrologie und Ägyptologie. Er sieht sich als Reinkarnation eines Tempelritters und behauptet, Besitzer des Schwerts Excalibur aus der Artus-Sage zu sein.

Mit Tricks und Lichteffekten inszeniert er im abgedunkelten Kultraum eine spirituelle Welt – per Knopfdruck erzeugt er etwa Blitze. Seine Anhänger, denen er verspricht, sie seien «auserwählt», glauben ihm. Und sie tun, was er verlangt: Er herrscht wie ein Despot, trennt Ehepaare und setzt sie zu neuen «kosmischen» Paaren zusammen. Er und sein Compagnon Jouret nutzen die Mitglieder auch sexuell aus, leben auf grossem Fuss, kaufen fleissig Immobilien, fliegen erste Klasse.

Di Mambro verspricht Erleuchtung und ein mystisches Paradies. Die Sonnentempler sind eine Endzeitsekte. Zunächst ist nur von der Schaffung von «Überlebenszentren» in mehreren Ländern die Rede. Später wird immer mehr von einem «Transit» gesprochen, einer Reise zu Sirius, dem hellsten Stern am Nachthimmel. Das apokalyptische Feuer werde die eingeweihten Ordensleute «reinigen». Die «spirituelle Reise» führe sie in «feinstofflicher Form» durch den Kosmos zu Sirius, wo es nur Frieden gebe. «Wir müssen sterben können, um wiedergeboren zu werden», sagt Di Mambro.

Und Luc Jouret verkündet in einem Gespräch im Westschweizer Radio: «Die Stunde der Offenbarung ist gekommen, es ist die Stunde der Apokalypse.»

Joseph Di Mambro «trieb seine Ordensanhänger mit einem ausgeklügelten Indoktrinationssystem in eine Endzeitneurose», bilanziert der Sektenexperte Hugo Stamm später. Videos und Tonbänder der Sonnentempler, die 1994 vom Feuer verschont geblieben sind, zeugen von deren apokalyptischem Kauderwelsch. «Das war ein solcher Blödsinn. Die Kollegen, die das sichten mussten, drehten fast durch», erzählt ein Kriminaltechniker einmal gegenüber dem «Tages-Anzeiger».

38-facher Mord

Im Frühling 1996, eineinhalb Jahre nach dem Massenexit der Sonnentempler, wird der Schlussbericht der Untersuchungsbehörden vorgestellt. Die Ermittler können nachweisen, dass von den 53 Ordensmitgliedern, die bei den drei Tötungen in Kanada und der Schweiz starben, nur 15 freiwillig zum «Transit zum Sirius» aufbrachen. 38 Personen waren umgebracht worden. Die Ermittler unterscheiden drei Kategorien: die «Erweckten», also der Kern der Sektenführung sowie fanatisierte Anhänger; die «Unsterblichen», die mit dem Prinzip einer Reise in eine andere Welt einverstanden gewesen seien, aber nicht in ihren Tod eingewilligt hätten; sowie die «Verräter», deren Todesstrafe Di Mambro angeordnet habe.

Doch viele Fragen bleiben bis heute ungeklärt: Wer wusste, was geplant war? Wer mordete? Und wieso genau? Es gebe keine überlebenden Zeugen, halten die Behörden fest, auch alle Täter seien tot. Die Leichen von Joseph Di Mambro und Luc Jouret wurden in Les-Granges-Salvan gefunden, auch die sterblichen Überreste von Joel Egger und seiner Mordkomplizin aus Kanada.

Vermutet wird, dass Di Mambro den Massenmord und -suizid anordnete, weil die Sonnentempler finanziell immer schlechter dastanden, er gesundheitlich immer stärker angeschlagen war und seine Stellung als Guru zunehmend hinterfragt worden war.

Noch zweimal kommt es zu Massakern unter Anhängern des Ordens. Im Dezember 1995 werden in einem Wald bei Grenoble in Frankreich 16 Leichen entdeckt, unter ihnen drei Kinder, wie in Cheiry kreisförmig ausgerichtet, alle mit Kopfschüssen gerichtet und angezündet. Unter ihnen zwei französische Gendarmen, die in der Schweiz als Mittäter verdächtigt, dann aber freigelassen worden sind. Im März 1997 werden in einem brennenden Landhaus in Kanada die Leichen von fünf Erwachsenen gefunden, die als Nachzügler den «Transit» antreten wollten. Mit ihnen steigt die Zahl der Endzeitopfer der Sonnentempler auf 74.

Nur ein einziges Mal wird das Sektendrama zu einem Fall für die Gerichte: In Frankreich wird der damalige Genfer Stardirigent und Komponist Michel Tabachnik verhaftet und wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung angeklagt. Er habe als Nummer drei der Sekte fungiert, sei deren Theoretiker gewesen. Tatsächlich war er lange und eng mit dem Orden verbunden, nahm an Anlässen teil, trug den weissen Umhang mit dem roten Kreuz. Doch Anfang Oktober 1994 war er an einem Konzert im Ausland. Er beteuert, von nichts gewusst zu haben, und wird schliesslich 2001 mangels Beweisen freigesprochen.

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