China sei zu Deutschlands Konkurrent bei Qualitätsprodukten geworden, sagt die Ökonomin Ulrike Malmendier. Im Gespräch erklärt das Mitglied des Wirtschafts-Sachverständigenrats, warum die deutsche Wirtschaft stagniert – und was nach dem Kollaps der «Ampel» und dem Wahlsieg Donald Trumps zu tun wäre.
Frau Malmendier, der Sachverständigenrat erwartet für das laufende Jahr eine erneute Schrumpfung des deutschen Bruttoinlandprodukts (BIP) um 0,1 Prozent und für 2025 ein nur geringes Wachstum um 0,4 Prozent. In den letzten fünf Jahren hat das BIP real insgesamt nur um 0,1 Prozent zugelegt. Was ist der Grund für diese Stagnation?
Andere europäische Volkswirtschaften sind in dieser Zeit gewachsen, in den USA ist das BIP um 12 Prozent gestiegen. Es gibt also keine Weltwirtschaftskrise, die alle mitgerissen hat. Vielmehr sind der Welthandel und die Weltproduktion wieder angesprungen. Aber Deutschland profitiert weniger davon als in der Vergangenheit. Das hat nicht nur konjunkturelle, sondern auch strukturelle Gründe. Die Exportindustrie, ein wichtiger Pfeiler Deutschlands, ist weniger mitgegangen mit dem Anstieg des Welthandels.
Warum?
Das Wachstum ist vor allem in der Industrie verlorengegangen, bei unseren Stützen Automobil, Chemie und Maschinenbau. Sowohl die Produktion als auch die Bruttowertschöpfung nach Abzug der Vorleistungen gehen zurück. Wir produzieren zu teuer. Das ist vor allem auf zwei Faktoren zurückzuführen. Den ersten bilden die Energiepreise. Zwar sind die Spotpreise an den Strombörsen wieder auf das Niveau von 2019 gesunken. Aber die Energiekosten für die Industrie sind doppelt so hoch geblieben wie 2019. Dazu tragen langfristige Verträge, Steuern, Abgaben und vieles mehr bei.
Der zweite, noch grössere Faktor sind die Arbeitskosten. Deutschland war nie das Land der Billigproduktion. Aber jetzt kommt hinzu, dass Arbeitskräfte knapp sind und deswegen noch teurer werden. Und wegen der Knappheit «horten» die Unternehmen Mitarbeiter, indem sie Leute weniger schnell freistellen, wenn sie nicht gebraucht werden. Das ist aus Unternehmensperspektive mittel- und langfristig sinnvoll, senkt aber die Arbeitsproduktivität.
Gibt es weitere Faktoren?
Ja, die Veränderung der globalen Märkte. China produziert nicht mehr nur billiger als wir, sondern ist zu Deutschlands Konkurrent bei Qualitätsprodukten geworden. Zugleich fordert es zunehmend, dass ausländische Unternehmen in China für China produzieren. Das alles hat dazu geführt, dass wir China als Exportmarkt mehr und mehr verlieren. Zudem verweisen deutsche Unternehmen in Umfragen vor allem auf die wirtschaftspolitische Unsicherheit als Grund für ihre Zurückhaltung bei Investitionen. Auch die Konsumenten haben trotz wieder steigenden Reallöhnen noch immer eine überdurchschnittlich hohe Sparquote und erhöhen die Konsumausgaben nur zaghaft. Das ist eine Nachwirkung des enormen Anstiegs der Inflation ab 2021.
Nach Fertigstellung Ihrer Prognose ist in Deutschland die Ampelregierung zusammengebrochen. Würde sie heute anders ausfallen?
Es würde sich nicht viel ändern. Denn wir berücksichtigen ohnehin immer nur Gesetze, die bereits umgesetzt sind. Bezüglich der erwähnten Unsicherheit kann es nun in beide Richtungen gehen: Eine baldige Regierungsbildung, gefolgt von klaren Leitlinien, wo es wirtschaftspolitisch hingeht, könnte die Unsicherheit schneller als erwartet reduzieren und damit Konsumenten wie Unternehmer positiv beeinflussen. Meines Erachtens diskutieren wir aber zu wenig das umgekehrte Szenario: Wer weiss, wie die Wahlergebnisse aussehen werden, was an den politischen Rändern passiert? Es könnte sein, dass wir uns dereinst zurücksehnen nach der Einigkeit der Ampelregierung. Deshalb ist es derzeit schwer zu sagen, in welche Richtung die wirtschaftliche Entwicklung beeinflusst werden wird.
Was wären aus Ihrer Sicht die wichtigsten Punkte in den Leitlinien einer nächsten Regierung?
Das erste Thema wäre für mich der Arbeitskräftemangel. Initiativen, wie sie auch in der Wachstumsinitiative der «Ampel» vorgesehen waren, zur deutlichen Erhöhung des in- und ausländischen Potenzials an Fach- und Arbeitskräften wären sehr wichtig. Da geht es zum Beispiel um Anreize für Mehrarbeit, eine höhere Beschäftigungsquote von Frauen oder älteren Mitbürgern, die raschere Integration von Zugewanderten in den Arbeitsmarkt.
Und das zweite Thema?
Das ist für mich die Stärkung Europas als Wirtschaftsmacht. Dazu müssten wir uns enger zusammenschliessen, mit einer Stimme sprechen und das Potenzial eines europäischen Binnen- und Kapitalmarkts nutzen. Jedes einzelne Land ist zu klein, um global eine Rolle zu spielen. Aber wenn wir jungen Unternehmen einen grossen Markt bieten, damit sie nicht in die USA ausweichen müssen, um wachsen zu können, wenn wir die Friktionen beim grenzüberschreitenden Zahlungsverkehr und bei grenzüberschreitenden Investitionen innerhalb der EU endlich ausräumen, haben wir bessere Chancen, in Verhandlungen einzutreten und unabhängiger zu werden.
Ich hätte mir gewünscht, dass Donald Trumps Wahlsieg in den USA zu einem Schub in dieser Richtung führen würde, und habe die Hoffnung nicht ganz verloren, dass das noch passiert. Aber als Deutsche sind wir leider abgelenkt: Die Tragödie am Zusammenbruch der «Ampel» ist, dass wir uns ausgerechnet jetzt nicht auf diese Fragen konzentrieren können.
Trump will hohe Importzölle einführen. Wie sollte die EU reagieren?
Trump hat gesagt, er habe nichts gegen deutsche Automobilbauer, wenn sie in den USA produzieren würden. Das machen die deutschen Hersteller ohnehin schon zu einem grossen Anteil. Deshalb können sie damit vielleicht ganz gut umgehen. Allerdings hat Trump die Wahl auch mit dem Thema Inflation gewonnen, die er der derzeitigen US-Regierung in die Schuhe geschoben hat. Nun werden ihm seine Berater schon klarmachen, dass höhere Zölle die Preise für die Konsumenten ebenfalls erhöhen würden. Es könnte deshalb sein, dass er zwar an neuen Zöllen festhält, diese aber auf Produkte mit kleinerem Exportvolumen beschränkt, oder dass er Ausnahmen zulässt. Das würde ich noch etwas abwarten.
Einer der Schwerpunkte des Jahresgutachtens bildet das Thema «zukunftsgerichtete Investitionen». Warum?
Öffentliche Investitionen in Verkehrsinfrastruktur, Bildung und Verteidigung, die kurzfristig Geld kosten und dem Wähler im Augenblick wenig bringen, sich aber langfristig für Deutschland auszahlen würden, werden immer vernachlässigt. Sie werden zurückgestellt zugunsten konsumtiver Ausgaben, die der derzeitigen Wählerschaft zugutekommen, und weil es Löcher zu stopfen gilt. Deshalb schlagen wir institutionelle Vorkehrungen vor.
Welche?
Zur Finanzierung von Instandhaltung und Ausbau des bundeseigenen Strassen- und Schienennetzes könnte ein Verkehrsinfrastrukturfonds geschaffen werden. Idealerweise würde er gefüttert mit eigenen Einnahmequellen, zum Beispiel Mauteinnahmen oder Kfz-Steuereinnahmen. Der Nachholbedarf könnte auch über begrenzte Kreditrahmen finanziert werden, die aber der Schuldenbremse unterliegen sollten. Für die Verteidigung könnte das Zwei-Prozent-Ziel der Nato als gesetzliche Mindestquote fixiert werden. Für die Bildung könnte ein Indikator von Mindestausgaben je Schüler festgesetzt werden. Sie müssten länderspezifisch festgelegt werden, da Bildungskosten von den Bundesländern getragen werden.
Läuft das auf neue Nebenhaushalte zur Umgehung der Schuldenbremse hinaus?
Nein, im Gegenteil. Es müsste im Rahmen der Schuldenbremse erfolgen, allerdings in ihrer leicht reformierten Form, wie wir sie im Januar vorgeschlagen haben. Jetzt geht es uns darum, innerhalb dieses Rahmens und ohne Erweiterung der finanziellen Spielräume dafür zu sorgen, dass Investitionen zugunsten künftiger Generationen nicht zugunsten konsumtiver Ausgaben in der Gegenwart vernachlässigt werden.
Ein weiteres Thema des Gutachtens ist die Wohnungsknappheit.
In Ballungsräumen und in wirtschaftlich erfolgreichen ländlichen Gebieten wird die Wohnungsnachfrage durch das Angebot in keiner Weise mehr befriedigt. Dadurch sind die Preise gestiegen, und viele Leute haben nicht Zugang zu dem Wohnraum, den sie nachfragen. Das ist nicht nur ein soziales, sondern auch ein gesamtwirtschaftliches Problem: In einem Land mit Arbeitskräfteknappheit behindert es den Umzug von Arbeitskräften in produktive Gebiete.
Zugleich hat sich der Wohnraum pro Person drastisch erhöht, weil die Menschen zum Beispiel nach dem Auszug der Kinder nicht in kleinere Wohnungen umziehen. Einige Massnahmen zur Unterstützung der Mieter verstärken diese Probleme noch. Das gilt für die Mietpreisbremse (für Neuvertragsmieten) und die Kappungsgrenze (Restriktionen für die Erhöhung von Bestandsmieten). Letztere hat die Differenz zwischen Bestands- und Neumieten in die Höhe schnellen lassen. Das reduziert den finanziellen Anreiz, in eine kleinere Wohnung umzuziehen.
Wie könnte man Abhilfe schaffen?
Wir setzen den ersten Schwerpunkt auf die Schaffung von mehr Wohnraum. Dazu dienen könnten die Vereinfachung von Bauvorschriften zur Erleichterung der Nachverdichtung, steuerliche Anreize für die stärkere Ausnutzung von Bauland sowie die Reduktion von Baukosten durch die Senkung von Standards und die Harmonisierung der Bauvorschriften zwischen den Bundesländern. Die Mietpreisbremse sollte man auslaufen lassen, die Kappungsgrenze sollte nicht gesenkt werden. Beide Instrumente sollten überhaupt nur möglich sein, wenn gleichzeitig das Wohnungsangebot erhöht wird.
Beim sozialen Wohnungsbau würde eine «marktorientierte Fehlbelegungsabgabe» helfen: Bleibt jemand in einer geförderten Wohnung, obwohl er inzwischen die einschlägige Einkommensgrenze überschreitet, muss er die Differenz zur ortsüblichen Miete bezahlen.
Veronika Grimm, eine der fünf Wirtschaftsweisen, hat zu drei Kapiteln des Gutachtens abweichende Minderheitsvoten mit liberalem Unterton formuliert. Ist der Rat zerstritten, ist sie die letzte Liberale im Gremium?
Wenn Sie die Minderheitsvoten genau studieren, werden Sie sehen, dass die Differenzen nicht sehr gross sind. Die Charakterisierung in der Presse, dass Frau Grimm als Einzige den ordoliberalen Standpunkt aufrechterhält, ist falsch. Und die Zusammenarbeit im Rat hat dieses Jahr wirklich gut geklappt, es war sachlich und effizient.
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