Montag, Februar 3

Orban ist Europas erfahrenster Regierungschef – und er polarisiert wie kein anderer. Im Gespräch mit der NZZ sagt er, warum er Putin vertraut, dass nur Trump den Ukraine-Krieg beenden könne und ob er seinen neuen Konkurrenten in Ungarn fürchtet.

Wenn Viktor Orban ein Interview gibt, überlässt sein Team kaum etwas dem Zufall. Das beginnt mit der Örtlichkeit: Es findet in der Bibliothek des Karmeliterklosters statt, hoch über Budapest, wo Ungarns Ministerpräsident seit 2019 seinen Amtssitz hat. Aus dem Fenster hat man einen spektakulären Blick auf die Donau und das Parlamentsgebäude. Auf zwei Stöcken, über eine schmiedeeiserne Wendeltreppe verbunden, stehen an allen Wänden Regale voller antiker Bücher. Mitarbeiter stellen noch rasch eine grosse Nationalflagge neben dem Tisch auf, an dem das Gespräch stattfindet. Dann betritt der 61-Jährige den Raum, schüttelt Hände und posiert für ein Bild vor einem fast mannshohen hölzernen Globus. Er zeigt die Welt vor dem Ersten Weltkrieg und zuvorderst das imperiale Europa inklusive Grossungarns. Doch bevor der Fotograf abdrücken kann, dreht Orban den Globus geistesgegenwärtig nach rechts, wo die USA auftauchen. «Wenn hinter mir das historische Ungarn zu sehen ist, regen sich wieder alle auf», sagt er. «Amerika ist zukunftsgerichteter.»

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Donald Trump ist seit zehn Tagen wieder im Amt. Sie unterstützen ihn seit 2016 und haben immer auf seine Rückkehr gehofft. Was bedeutet diese nun für Sie?

Die Welt hat sich in zehn Tagen so stark verändert wie sonst in Jahren (schmunzelt). Das ist der Trump-Tornado. Für Ungarn ist es aber einfach: Wir standen aus Brüssel und Washington unter Druck. Wenn ein Land mit zehn Millionen Menschen zwei Stiefel auf seiner Brust hat, kann es fast nicht überleben. Wir waren das schwarze Schaf des Westens. Nun zeigt sich: Was Trump tut und was wir in den letzten fünfzehn Jahren getan haben, ist die Zukunft. Wir sind glücklich, entspannt.

Wo erhoffen Sie sich konkret eine Verbesserung der Beziehungen mit den USA?

Die Demokraten haben uns gehasst. Bei Themen wie Migration, Gender und dem Krieg in der Ukraine hatten wir entgegengesetzte Positionen. Sie unterstützten alle Organisationen und Medien in Ungarn, die gegen mich sind. Das hat Trump beendet. Wir hoffen auch, dass die Amerikaner wieder mehr bei uns investieren. Sie sind jüngst sogar hinter China zurückgefallen.

Sie sind Regierungschef eines Kleinstaats in einer geopolitisch instabilen Region. Trump will sich stärker auf Asien konzentrieren, auf Kosten des militärischen Engagements in Europa. Welche Konsequenzen hat das für Ungarns Sicherheit?

Wenn die Europäer den Amerikanern kein gutes Angebot für eine Zusammenarbeit machen, werden sie uns keine Sicherheit mehr bieten. Uns erst einmal hinzusetzen und abzuwarten, ist keine Lösung. Wir müssen Ideen vorlegen. Europa ist zwar reich, aber auch schwach. Dies ist die gefährlichste Kombination. Wir konnten die Friedensdividende lange geniessen. Unter Trump haben wir sie verloren.

Die geopolitische Lage polarisiert die Welt. Ungarn aber will gute Beziehungen mit dem Westen, mit China und Russland. Drohen Sie damit zwischen den Blöcken zerrieben zu werden?

Nein, im Gegenteil. Ich wuchs im Kalten Krieg auf. Meine Erfahrung war, dass die beiden Grossen immer einen Deal schliessen. Das Problem haben Nummer drei und vier. Die Amerikaner werden sich mit den Chinesen einigen. Deshalb wird es kein Problem für Ungarn sein, gute Beziehungen mit Peking und Washington beizubehalten. Mit Russland ist es schwieriger. Wir würden gerne alle Geschäftsbeziehungen offenhalten. Die EU stellt sich dem aber entgegen. Die amerikanische Position bleibt momentan unklar. Wir müssen noch etwas abwarten.

Das klingt, als ob Sie sich bereits damit abgefunden haben, dass sich Ungarn in einer Welt positionieren muss, in welcher der Westen seine Vormachtstellung verloren hat.

Ja, so denke ich, auch wenn es hart und provokativ ist. Wirtschaftlich leben wir in einer Welt ohne westliche Vormacht. Die EU verliert ständig an Wettbewerbsfähigkeit. Sie hat keine Strategie und keine Führung. Was hier passiert, ist peinlich. Die Dynamik der Weltwirtschaft findet sich im Osten – und nun wieder in den USA. China entwickelt sich sowieso rasant, Indien auch. Wenn Ungarn nur Wirtschaftsbeziehungen zu Europa pflegt, ist es verrückt.

Und was bedeutet das für die Sicherheitspolitik?

Dass wir Europäer bescheiden sein müssen. Die EU redet davon, ein globaler Akteur zu sein. Aber sie kann nicht einmal die Entwicklungen in der eigenen Nachbarschaft kontrollieren. Wir konnten weder den Krieg zwischen Russland und der Ukraine verhindern noch den Westbalkan integrieren. So verhält sich kein Global Player. Eine gemeinsame Aussenpolitik wäre nur realistisch, wenn Deutschland und Frankreich eine starke politische Führung hätten und der Rest mitmachen würde. Aber das ist nicht der Fall.

Es ist aber auch Ihr Land, das immer wieder Entscheidungen verzögert oder blockiert, wie zuletzt die Verlängerung der Sanktionen gegen Russland.

Wir sind gegen die Sanktionen. Wir haben in den letzten drei Jahren 19,5 Milliarden Euro verloren, weil wir den Handel einschränken mussten und die Energiepreise stiegen. Ungarn hat durch die Sanktionen mehr gelitten als Russland.

Warum stimmen Sie dann der Verlängerung immer wieder zu, zuletzt Ende Januar?

Weil wir uns mit der EU-Kommission über die Energiefrage geeinigt haben. Öl und Gas aus Russland sind überlebenswichtig für die ungarische Wirtschaft. Und wir haben die Zusicherung bekommen, dass sich Brüssel für die Wiederaufnahme des Gastransits durch die Ukraine einsetzt, den Öltransport durch die Druschba-Pipeline weiter erlaubt und Störaktionen Kiews verhindert.

Diese Garantien sind jedoch ziemlich vage, oder? Zumal die EU-Kommission vieles davon gar nicht selbst in der Hand hat.

Es ist mehr als nichts. Aber es geht darum, dass die EU-Kommission unsere Interessen gegenüber der Ukraine vertritt. Binnenländer wie Ungarn oder die Slowakei brauchen Russland für ihre Öl- und Gasversorgung.

Aber die Energie war ja von den Sanktionen kaum betroffen. Gas fällt gar nicht darunter, und beim Öl ist man aus Angst vor hohen Benzinpreisen sehr vorsichtig.

Ja, aber wissen Sie, wieso? Weil wir sagten, wir legen unser Veto ein, wenn das mit Sanktionen belegt wird. Das ist der einzige Grund.

Wieso hat sich Ungarn so abhängig gemacht von russischer Energie? Sie unterzeichneten 2021 einen Vertrag für Gaslieferungen, welcher die Hälfte des ungarischen Verbrauchs auf fünfzehn Jahre abdeckte.

Wir haben in den letzten Jahren in Pipelines in fast alle Nachbarländer investiert. Zudem werden wir bald mehr Gas und Öl aus Rumänien, Aserbaidschan und der Türkei erhalten. Wir fördern auch erneuerbare Energien und die Elektrifizierung. Aber wir brauchen Russland als Lieferanten. Deshalb wollen wir zu einer normalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zurückkehren.

Ist das seit dem 24. Februar 2022 nicht eine Illusion?

Wir haben Sanktionen nie als ein geeignetes Mittel gesehen, um den Krieg zu beenden. Aber Joe Biden sagte damals: «Putin muss scheitern.» Der Westen will Russlands Aggression gegenüber der Ukraine dazu nutzen, das Land zu schwächen, es zurückzudrängen. Russland sollte in die Knie gezwungen werden und seine militärischen Ziele in der Ukraine aufgeben. Das hat schlicht nicht funktioniert.

Dennoch: Russland ist der Aggressor, wie Sie auch selbst sagten.

Das ist die offizielle Position der Europäischen Union. Ich verhalte mich da loyal.

Sehen Sie es persönlich anders?

Hmm . . . (zögert) Überlassen wir die Bewertung den Historikern. Ich bin Politiker, und wir haben eine EU-Entscheidung. Sie verpflichtet mich dazu, von einer «russischen Aggression» zu sprechen.

Aber warum kritisieren Sie die EU dann ständig für ihre «Kriegspolitik»?

Weil wir im Februar 2022 einen grossen Fehler gemacht haben. Wir hätten den Konflikt sofort isolieren, einen Waffenstillstand erzwingen und Verhandlungen beginnen müssen. Es war von Anfang an klar, dass ein ukrainischer Sieg unmöglich ist, solange wir keinen totalen Krieg anfangen. Das war keine Option. Der Ukraine können wir heute nur mit einem Waffenstillstand und einem Frieden helfen.

Darüber sollten aber die Ukrainer entscheiden.

Ja, wir sind nicht in der moralischen Position, eine Entscheidung für ein Land zu treffen, das angegriffen wird. Aber es war ein Fehler, es glauben zu lassen, dass wir bis zum Sieg an seiner Seite stehen. Das ist nicht so.

Wie würde ein Waffenstillstand aussehen? Müsste die Ukraine territoriale Zugeständnisse machen?

Das wäre am Anfang viel leichter gewesen. Inzwischen haben so viele Ukrainer ihr Leben verloren, weil sie ihr Land verteidigten. Wofür sind sie nun gestorben? Das ist ein ernsthaftes moralisches Dilemma – zum Glück nicht meines. Es ist das der Leute, die diese verrückte Kriegsstrategie unterstützt haben.

Ihre Kritik an der unentschlossenen Strategie des Westens mag berechtigt sein. Nur: Wieso gab er dann der Ukraine nicht alles, was sie gebraucht hätte, um zu gewinnen?

Keine Menge an Waffen wäre genug gewesen. Diesen Krieg kann der Westen nur gewinnen, wenn er eigene Soldaten in die Ukraine schickt. Und das haben wir ausgeschlossen. Die Ukrainer haben schlicht nicht genug Soldaten. Deshalb braucht es jetzt Trump.

Was kann er tun?

Wenn Sie vor einem gordischen Knoten stehen, müssen Sie ihn durchschlagen. Es braucht einen starken Mann mit einem Schwert. Es geht nicht mehr darum, welche Ideen wir haben. Trump muss sich mit Russland und der Ukraine hinsetzen und ihnen sagen: «Leute, machen wir einen Waffenstillstand. Es ist der einzige Weg.» Schwache Anführer verursachen Kriege, starke schaffen Frieden.

Wieso glauben Sie, dass sich Russland bei einem Einfrieren des Konflikts mit seinen Eroberungen begnügen würde? Putin hat so oft gesagt, dass er die Ukraine für eine künstliche Nation ohne Existenzrecht halte.

Niemand weiss, was in Putins Kopf vorgeht. Es hat keinen Sinn, darüber zu spekulieren. Aber wir brauchen jetzt Diplomatie. Die Europäer denken, es sei moralisch, nicht zu verhandeln. Das ist absurd! Das muss man doch in einem Krieg! Sonst geht er bis zur Vernichtung weiter, und die Ukraine wird zum Afghanistan der Europäischen Union.

Sie haben Wladimir Putin oft getroffen, zuletzt im Juli 2024. Vertrauen Sie ihm?

Als ich 2009 vor der Rückkehr an die Macht stand, habe ich ihn getroffen und mit ihm vereinbart, dass wir uns auf die Zukunft konzentrieren. Mir war klar, dass gute Beziehungen zu Moskau und eine enge wirtschaftliche Zusammenarbeit in Ungarns geopolitischem Interesse liegen. Wir schlossen viele Vereinbarungen. Putin hat sein Wort immer gehalten. Die Erfahrung der letzten fünfzehn Jahre ist, dass Ungarn Russland vertrauen kann.

Die Ukraine hat andere Erfahrungen gemacht . . .

Ja, das stimmt definitiv! Aber bei uns ist es so.

Sie sagen, dass Putin ein Nato-Land nie angreifen würde. Aber wenn Sie seine Vorschläge von 2021 anschauen, vor dem Krieg, dann forderte er auch die Rückabwicklung der Nato-Osterweiterung. Das beträfe Ungarn direkt.

Ich habe ihn direkt gefragt, ob er ein Problem mit Ungarns Nato-Mitgliedschaft habe. Er sagte Nein. Weil wir auf unserem Gebiet keine Waffen stationiert haben, die Russland als Gefahr sieht. Es geht ihm um taktische Langstreckenwaffen. Dass die Ungarn in Moskau einmarschieren, ist ja eher schwer vorstellbar (lacht).

Ihre Russland-Freundlichkeit erstaunt dennoch. 1989 lancierten Sie Ihre Karriere damit, dass Sie den Abzug von Moskaus Truppen aus Ungarn forderten.

Und der ist ja erfolgt (lacht). Aber ich bin nicht pro Russland, sondern pro Ungarn.

Aber Ungarn teilt mit Russland eine schwierige Geschichte, 1849 und 1956 schlugen dessen Truppen nationale Aufstände nieder.

Und vergessen Sie nicht den Ersten Weltkrieg! Der Zar sagte, er wolle Weihnachten in Budapest verbringen. Ungarn lebt historisch im Dreieck Moskau-Berlin-Istanbul. Wir hatten mit allen unsere negativen Erfahrungen. Aber mit Putin habe ich vereinbart, die Geschichte unserer beiden Länder den Historikern zu überlassen. Ich will nicht, dass irgendein Land Ungarn besetzt. Keine Grossmacht darf den Ungarn sagen, wie sie leben sollen. Russland bedroht heute aber weder unsere Freiheit noch unsere Souveränität.

In Ihren Reden klingen Sie oft so, als ob Sie Brüssel für eine grössere Bedrohung halten als Moskau.

In einer anderen Dimension – aber ja, das ist so. Es ist einfach, mit Russland eine rationale Vereinbarung zu treffen. Mit den Leuten in Brüssel ist das fast unmöglich. Sie unterstützen innenpolitisch nur meine Gegner. Ich musste gegen Brüssel und die Nichtregierungsorganisationen gewinnen. Es ist schwierig, mit jenen zusammenzusitzen, die einen bei jeder Wahl vernichten wollen. Und schauen Sie sich die Migration an: Wir interpretieren die europäische Regel dahingehend, dass wir die Schengen-Aussengrenze vor illegalen Grenzübertritten schützen müssen. Das haben wir gemacht. Dafür werden wir bestraft, weil es nicht mit EU-Gesetzen vereinbar sein soll. Die Polen taten kürzlich genau das Gleiche, sogar brutaler. Alle sagten: kein Problem.

Sie sprechen oft Probleme an, die viele umtreiben. Dennoch ist Ungarn in der EU isoliert. Warum schaffen Sie es nicht, Allianzen zu bilden? Das von Ihnen angestrebte Bündnis aller Rechtsparteien in einer gemeinsamen Fraktion scheiterte letztes Jahr.

Im Gegenteil! Die Patrioten für Europa (Anm.: die neue Fraktion im EU-Parlament, der neben dem Fidesz auch das Rassemblement national, die Lega oder die FPÖ angehören) und andere Populisten sind wieder der Mainstream. Eine ähnlich gesinnte Partei regiert in Italien, in der Slowakei, möglicherweise bald in Österreich. Für mich lautet die göttliche Botschaft: «Viktor, du bist auf der Seite der Sieger.» Wir werden stärker und werden bald eine Mehrheit haben. Nach dem Krieg in der Ukraine ist auch das grosse Rechtsbündnis möglich. Dem steht nur die unterschiedliche Haltung gegenüber Russland im Wege. Europa wird in ein paar Jahren anders aussehen als heute.

Sie haben Ihre Karriere in der Liberalen Internationale begonnen und waren später viele Jahre in der konservativen Fraktion EVP. Nun haben Sie letztes Jahr die Patrioten für Europa mitgegründet. Hat sich die politische Landschaft nach links bewegt, oder sind Sie nach rechts gerückt?

Der Fidesz bestand aus antikommunistischen Freiheitskämpfern, und das waren die Liberalen damals auch. Nach unserem ersten Wahlsieg 1998 lud mich Helmut Kohl ein, der EVP beizutreten. Das war damals tatsächlich ein Schritt von der Mitte nach rechts. Da blieben wir, auch wenn wir vor vier Jahren die Konservativen wieder verliessen. Sie waren es, die sich nach links bewegt hatten.

Ein Mitarbeiter Orbans, der dem Gespräch von der oberen Etage des hohen Raums zugehört hat, steigt die enge Wendeltreppe herunter und reicht dem Ministerpräsidenten einen Zettel. «Oh! Merz hat verloren», sagt dieser und liest vom Blatt das Resultat der Abstimmung über das Asylrecht ab, die soeben im Deutschen Bundestag stattgefunden hat. «Einige CDU-Abgeordnete haben die Vorlage abgelehnt. Sogar mit den Stimmen der AfD hatte Merz nur 338 Stimmen. Weniger als einen Monat vor der Wahl! Armer Merz», sagt Orban. «Wenn man ein Tabu brechen will, muss man erfolgreich sein. Wenn dagegen das Tabu stärker ist, wirkt man schwach», analysiert er, wirkt dabei aber eher erstaunt als hämisch. «Das ist ein Problem.»

Die Wahl in Deutschland ist für ganz Europa wichtig. Sie scheinen mit der AfD zu sympathisieren, die Patrioten wollen diese aber nicht in ihrer Fraktion. Warum nicht?

Die AfD ist eher eine Bewegung als eine Partei. Da können verrückte Personen und Ideen auftauchen – ein Risiko, das das Rassemblement national nicht eingehen wollte. Wir haben keine Erfahrung mit der AfD und keine Beziehungen zu ihr. Ihr Programm klingt gut für Ungarn: Steuersenkungen, Redimensionierung des Green Deal, Rückkehr zur Nuklearenergie, strikte Migrationspolitik. Aber ich will mich nicht in deutsche Angelegenheiten einmischen.

Finden Sie auch, die AfD habe verrückte Leute in ihren Reihen?

Ich kann lesen (lacht). Es gibt Aussagen, die schlicht nicht Teil der politischen Kultur im 21. Jahrhundert sein können. Aber ich habe selbst Bewegungen angeführt im Kampf gegen das kommunistische Regime in Ungarn. Auch da sind verrückte Leute aufgetaucht. Wenn man Politik in einer Partei institutionalisiert, wird sie langweiliger, aber berechenbarer.

Wie soll ein politisches System mit einer solchen Partei umgehen?

Wir kennen in Ungarn keine Brandmauer. Wenn eine Partei Wählerstimmen erhält, nehmen wir sie ernst. Das heisst nicht, dass wir mit ihr zusammenarbeiten. Aber wir setzen uns hin und diskutieren. Eine Brandmauer macht das politische Denken primitiv. Alice Weidel hat mich angerufen und um ein Treffen gebeten. Ich werde sie nächste Woche in Budapest empfangen. Die AfD könnte 20 Prozent der Stimmen erhalten. Wenn deren Chefin mit mir sprechen will: Warum sollte ich Nein sagen? Wenn Olaf Scholz mich anrufen würde, würde ich ihn auch empfangen. Aber die Gefahr ist nicht akut (lacht).

Sie selbst regieren seit fünfzehn Jahren fast durchgehend mit Zweidrittelmehrheit. Jüngst ist aber aus dem Nichts ein ernsthafter politischer Konkurrent aufgetaucht, dessen Namen Sie öffentlich nie nennen: Peter Magyar. Beunruhigt Sie das?

In einer Demokratie muss man immer bereit sein für politische Gegner. Auch wenn man wie wir fast die Hälfte der Stimmen gewinnt, geht der Rest an andere. Das ist nichts Aussergewöhnliches. Bei der letzten Wahl 2022 spannten alle Oppositionsparteien zusammen mit einer gemeinsamen Liste. Das war nicht erfolgreich, und sie starten nun einen neuen Versuch.

Aber zeigt der rasche Aufstieg eines solchen Kandidaten nicht eine Unzufriedenheit mit Ihrer Regierungsführung?

Die Antwort ist Ja, das bedeutet es auch. Der Krieg und die Sanktionen schufen in den letzten drei Jahren eine sehr schwierige Situation mit hoher Teuerung, gestiegenen Energiepreisen und geringem Wachstum. Ich mag den Krieg aus vielen Gründen nicht, auch aus wirtschaftlichen.

Haben Sie Fehler gemacht, etwa mit den Preisobergrenzen auf gewissen Nahrungsmitteln?

Wir haben über die Preisobergrenzen intensiv diskutiert. Ich halte sie nach wie vor für gut, aber es gibt bedenkenswerte Argumente dagegen. Soeben hat Kroatien Preisobergrenzen für zahlreiche Produkte beschlossen. Das würde nicht passieren, wenn es dumm wäre. Aber natürlich macht keine Regierung alles richtig. Das letzte Quartal verlief immerhin zufriedenstellend. Wir stecken nicht mehr in der Rezession, und das Wachstum dieses Jahr dürfte bis zu doppelt so hoch sein wie im europäischen Durchschnitt.

Die Opposition wirft Ihrer Regierung und Ihrem Umfeld Korruption vor, die EU hat wegen mangelnder Rechtsstaatlichkeit Milliarden an Kohäsionsgeldern blockiert. Was sagen Sie zu diesen Vorwürfen?

Korruption ist das Lieblingsthema der Opposition. Ich sage immer: Nennt mir die konkreten Verfehlungen. Wenn es Gesetzesverletzungen gibt, müssen diese gerichtlich aufgeklärt werden. Doch es gibt keine solchen Klagen. Ich kann nicht sagen, es gebe in Ungarn keine Korruption, und dagegen muss etwas getan werden. Aber wir stehen nicht schlechter da als andere EU-Länder. Schauen Sie sich einfach die Daten der Weltbank an.

Die Staatsanwaltschaft leitet in vielen Verdachtsfällen keine Ermittlungen ein. Warum verweigert Ungarn als einziges EU-Land den Beitritt zur Europäischen Staatsanwaltschaft? Das würde mehr Vertrauen schaffen.

Anders als in den meisten Ländern der Europäischen Union untersteht die Staatsanwaltschaft in Ungarn dem Parlament und nicht der Regierung. Das ist auch eine Frage der Souveränität. Ich werde niemals ein Rechtssystem akzeptieren, in dem nichtungarische Behörden Verfahren gegen ungarische Staatsbürger führen. Das ist unmöglich, auch gemäss der Verfassung. Wir haben unter Sowjetherrschaft gelebt und mussten die Hoheit über Strafverfahren abgeben. Für uns ist das eine Frage des Prinzips. Das von Brüssel eingefrorene Geld steht Ungarn zu. Eine Tranche in der Höhe von über 12 Milliarden Euro wurde bereits freigegeben. Ich werde weiter verhandeln. Gerade in Budgetfragen braucht es in Brüssel einstimmige Entscheide. Aber ich werde dem neuen Finanzrahmen niemals zustimmen, wenn er nicht fair ist für Ungarn und unsere Verluste der gegenwärtigen Periode regelt. Wir werden jeden Cent erhalten, der uns zusteht.

Ihre lange Regierungszeit hat zu einer Konzentration von Macht und wirtschaftlichen Ressourcen in den Händen Ihres Umfelds geführt. Sehen Sie darin keine Gefahr für die Demokratie?

Wenn es um wirtschaftliche Ressourcen geht, ist das Gegenteil der Fall. Meine Regierung hat Steuern gesenkt, es wird also weniger Geld vom Staat zentralisiert und bleibt stattdessen der Bevölkerung und den Unternehmen. Ich habe aber tatsächlich einiges zentralisiert, in anderen Bereichen jedoch auch dezentralisiert. Die Universitäten haben wir beispielsweise privatisiert – es gibt keine staatliche Kontrolle mehr.

Sie unterstehen nun aber Stiftungen, die von Ihnen nahestehenden Personen kontrolliert werden.

Jeder steht mir nahe! Ich bin der Ministerpräsident dieses Landes (lacht). Wenn ich kritisiert werde, dass jemand mir nahesteht, sage ich: Natürlich, wie kann es anders sein! In der Wirtschaftswelt eines Staats mit zehn Millionen Menschen kenne ich natürlich alle grösseren Unternehmer persönlich. Aber Sie haben recht: Lange an der Macht zu sein, birgt Risiken. Alle vier Jahre bilde ich die Regierung deshalb um und tausche Personen aus.

Sie sind der dienstälteste Regierungschef der EU. Gibt es keine Spur von Amtsmüdigkeit?

Die Frage ist, wie lange die Partei in mir noch die aussichtsreichste Person sieht, um Wahlen zu gewinnen. Derzeit ist meine Zustimmung in der Bevölkerung noch höher als die der Partei. Solange das so ist, werde ich den Kampf weiter anführen.

Wollen Sie die Politik denn nicht irgendwann aufgeben?

Nachdem meine Fussballkarriere mangels Talents gescheitert war, erschien mir zunächst eine akademische Karriere am attraktivsten. Die zweite Möglichkeit war nach der Wende die Geschäftswelt, die viele neue Chancen bot. Doch ich bin der Politik verfallen. Und ich merkte bald, dass das eine definitive Wahl ist, der ich bis zum Ende meines Lebens treu bleiben werde – sofern die Menschen mich wählen. Solange es mir geistig möglich ist, möchte ich im Parlament bleiben. Ich stelle mir das schön vor, als alter, respektierter Mann auf den Hinterbänken zu sitzen und von den Jüngeren um Rat gefragt zu werden. Und die Folgen dessen zu sehen, was ich in meinem politischen Leben getan habe. Denn auch wenn ich dafür kritisiert werde: Ich habe etwas getan in einer historischen Zeit.

Ein Revolutionär für Ungarn

bam./mij. Viktor Orban ist seit 2010 Ministerpräsident Ungarns, seine Partei Fidesz regierte dabei fast durchgehend mit einer Zweidrittelmehrheit. Es war damals eine Rückkehr an die Macht: Orban war bereits von 1998 bis 2002 Regierungschef. 1963 geboren, studierte er Rechtswissenschaften in Budapest und war kurz vor der Wende einer der Gründer des Fidesz, einer radikalen und antikommunistischen Gruppierung von Studenten.

National bekannt wurde Orban, als er im Juni 1989 anlässlich der Umbettung von Imre Nagy, einem Helden des Volksaufstands von 1956, den Abzug der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen forderte. Der Jungpolitiker wurde damit über die Grenzen hinaus zu einem liberalen Hoffnungsträger. Dieses Bild hat sich in der langen zweiten Amtszeit gewandelt: Orban baute die Kontrolle seiner Partei über das Land sukzessive aus und nahm dabei auch Justiz, Medien und Nichtregierungsorganisationen ins Visier. Die EU leitete deshalb 2018 ein Rechtsstaatlichkeitsverfahren gegen Ungarn ein.

Dass die Macht verführerisch ist, gibt er im Gespräch mit der NZZ freimütig zu: «Sie setzt Adrenalin frei.» Wichtiger sei ihm aber die intellektuelle Komponente der Politik. «Ich hatte Glück, die interessanteste Periode war während meiner politischen Anfänge mit dem Umbruch. Wir konnten ein komplett neues System aufbauen. Was könnte spannender sein?» Dann habe er die Wahl 2002 verloren und herausfinden müssen, wie man zurückkomme. Und schliesslich habe er mit der Zweidrittelmehrheit die Möglichkeit erhalten, «wirklich grosse Dinge» zu bewegen.

Exit mobile version