Mittwoch, Oktober 2

Die Schweiz streitet über den Ausbau ihrer Bahn. Der oberste Bähnler sieht dazu keine Alternative – aber wie und wo wir Zug fahren, werde sich ändern.

Herr Ducrot, spielen Sie in der Freizeit noch mit Ihrer Modelleisenbahn?

Nein, dafür fehlt mir leider die Zeit. Früher habe ich gerne daran gebastelt. Das Stellwerk einer Modelleisenbahn ist im Grunde dasselbe wie bei einer richtigen Bahn, man kann den SBB-Betrieb simulieren . . .

. . . mit dem Vorteil, dass Ihnen die Politik nicht dreinredet. Warum hört man von Ihnen nie eine klare Kritik an deren Bauvorgaben?

Wir bringen uns in den parlamentarischen Kommissionen und im Rahmen der Vernehmlassungen ein. Aber am Schluss entscheiden der Bund und das Parlament.

Offenbar muss man pensioniert sein, um sich offen äussern zu können. Der frühere SBB-Chef Benedikt Weibel hat Anfang Sommer die Vielzahl an Ausbauprojekten kritisiert. Hat er recht?

Nein, gar nicht. Der Ausbau des Bahnsystems ist nötig, nur schon, weil die Mobilitätsbedürfnisse und die Bevölkerung wachsen. Die Nachfrage im Freizeitverkehr und im internationalen Verkehr nimmt stark zu. Wir brauchen alle 15 Jahre rund 20 Prozent mehr Sitzplätze. Wenn man nicht kontinuierlich ausbaut, ist ein Rückstand schwierig aufzuholen. Das kennen andere Länder.

Sie weichen aus. Gibt es nicht doch Punkte, bei denen Ihr Amtsvorgänger richtiglag?

Herr Weibel hat von einem Baustopp gesprochen, einem Moratorium. Das ist nicht der richtige Weg. Aber das System muss klug weiterentwickelt werden, das sehe ich gleich. Wir sagen der Politik: Konzentriert euch nicht auf die Infrastruktur, entscheidend ist das Angebot für die Reisenden. Wo braucht es einen dichteren Takt? Wo schnellere Verbindungen? Dann müssen wir schauen, welche Infrastruktur es für welches Angebot braucht. Ein typisches Beispiel ist der Halbstundentakt zwischen Bern und Luzern. Den können wir leider nicht vor 2035 einführen, weil die Infrastruktur fehlt.

Sind nicht auch die Anreize falsch? Die Gemeinden wollen grosse Ausbauten, weil dann Bund und Kanton mitbezahlen.

Es stimmt, für regionale Mobilitätsbedürfnisse wird auch auf die Bahn geschaut. Im Gegenzug hat von den Städten keine ausser Lausanne eine U-Bahn. Überall in der Welt hat man in den grossen Agglomerationen sehr starke Tramnetze oder U-Bahn-Netze, ausser in der Schweiz. Warum? Das liegt an der Logik der Finanzierung. Weil die Bahninfrastruktur bei uns zu 100 Prozent vom Bund bezahlt wird und nicht von den Kantonen und Städten.

Sie hätten gern eine U-Bahn in Zürich?

Nein, das heutige ÖV-System in Zürich ist sehr gut. Ich hätte mit Blick auf die Zukunft gerne ein System, in dem die Bahn weniger lokal beansprucht wird. Die Bahn ist auf mittlere und lange Distanzen stark. Aber am Schluss entscheidet die Politik.

Zur Person

Annick Ramp

Vincent Ducrot (62) stammt aus Châtel-Saint-Denis (FR). Der Absolvent eines Elektroingenieur-Studiums war bereits von 1993 bis 2011 für die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) tätig, unter anderem leitete er den Fernverkehr. Anschliessend wechselte Ducrot als Generaldirektor zu den Freiburgischen Verkehrsbetrieben, bevor er im April 2020 als CEO zu den SBB zurückkehrte. Dort musste er gleich die Corona-Krise bewältigen. Ducrot ist verheiratet und Vater von sieben Kindern.

Jeder Ausbau zieht Folgekosten für den Unterhalt nach sich. Der Gewinn der SBB im ersten Halbjahr fiel auch deshalb niedrig aus, weil der Unterhalt teurer war als gedacht. Wird sich die Lage noch verschärfen?

Bei der Infrastruktur beläuft sich der Unterhalt pro Jahr auf etwa 3 Prozent der Neubaukosten. Das wird langfristig ein Finanzierungsproblem und ist derzeit eine grosse Diskussion in der Politik. Es kommt stark darauf an, welche Mittel im Bahninfrastrukturfonds künftig noch für Ausbauten zur Verfügung stehen werden. Dazu werden vom Bund Simulationen gemacht. Bundesrat Albert Rösti wird sie voraussichtlich 2025 präsentieren.

Es gibt jetzt schon 20 000 Baustellen im Netz. Wann werden sich die Fahrgäste beschweren?

Die Zahl der Baustellen in der Westschweiz wird zunehmen. Dort kommt jetzt eine Phase, in der wir viel von der Bahninfrastruktur erneuern müssen. Im Rest der Schweiz wird es später auch zutreffen, aber nicht derart stark. Wir versuchen, wenn immer möglich die Arbeiten so auszuführen, dass der Bahnbetrieb möglichst wenig tangiert wird und die Reisenden möglichst wenig spüren.

Wird die Baustellenflut die Pünktlichkeit beeinflussen?

Nein, wir arbeiten intensiv daran, dass das nicht passiert. Wir wissen heute dank neuen Simulationsmethoden, wie man einen robusten Fahrplan entwirft. Dank einem robusten Fahrplan mit mehr Reserven haben wir schon heute trotz Tausenden Baustellen eine hohe Pünktlichkeit.

Auch viele Bahnhöfe werden saniert. Übernehmen sich die SBB nicht mit all den Projekten?

Nein, auch der Unterhalt und Ausbau der Bahnhöfe ist sehr wichtig. Die grossen Bahnhöfe haben wir weitgehend saniert oder haben konkrete Projekte dafür. Es fehlt noch Olten. Dann kommt die Welle der mittleren und kleineren Bahnhöfe, zum Beispiel Effretikon im Raum Zürich. Ein typisches Beispiel für einen wachsenden Knoten. Auch in Neuenburg werden Arbeiten nötig sein.

Werden Sie auch Bahnhöfe vom Netz nehmen?

Kurzfristig ist das kein Thema. Langfristig muss dies aus Sicht von Raumplanung und sich verändernder Mobilität betrachtet werden. Was ist wichtig für den Kunden? Jede Viertelstunde ein Zug – und dafür mit einem Rufbus oder einem anderen öffentlichen Verkehrsmittel zur Verkehrsdrehscheibe fahren. Oder hat der Kunde lieber einen 500 Meter entfernten Bahnhof, von dem aber nur halbstündlich oder stündlich ein Zug fährt? Das ist wahrscheinlich die schlechtere Variante.

Es werden also Bahnhöfe stillgelegt werden.

Das werden künftige Generationen entscheiden müssen. Die Mobilität wird sich verändern, auch dank der Entwicklung der Technik. Noch ist es zu früh, zu sagen, welche Bahnhöfe von Änderungen betroffen sein könnten. Aber auch von diesen wird es weiterhin öffentlichen Verkehr geben.

Gibt es eine Bestandsgarantie für die Bahnhöfe, die gerade saniert wurden oder es demnächst werden?

Die bleiben sicher für die nächsten 30 Jahre bestehen. Heute brauchen wir diese Bahnhöfe, denn es gibt kein alternatives Angebot für die Fahrgäste. Aber das häufige Halten der Züge verlangsamt das System und frisst sehr viel Kapazität des Netzes. Wenn die Mittel für den Ausbau knapp sind, ist es am besten, zu überlegen, ob man wirklich überall anhalten soll. Da hat Herr Weibel recht: Wir werden Prioritäten setzen müssen.

Der Ausbau kostet Geld. Die SBB haben im ersten Halbjahr 51 Millionen Franken Gewinn gemacht, halb so viel wie im Vorjahreszeitraum. Eigentlich wollen sie pro Jahr 500 Millionen Franken Gewinn erreichen. Müssen dafür nicht die Preise massiv nach oben?

Nein. Über die Billettpreise entscheiden nicht die SBB, sondern die Branche, die Alliance Swisspass. Die Preise sind stark politisch geprägt. Die Kundinnen und Kunden zahlen die Differenz zu dem, was Bund und Kantone bereit sind zu finanzieren. Es ist schon entschieden, dass die Preise nächstes Jahr nicht steigen.

Wenn Sie die Preise für die SBB selbst setzen könnten, wären Bahnfahrten billiger oder teurer?

Beides. Wenn wir frei wären, würden wir ein viel dynamischeres Preissystem einführen. Aber für die Schweiz ist das nicht gefragt und auch politisch nicht gewünscht. Übrigens ist unser System bereits sehr gut und flexibel. Wir verkaufen immer mehr Sparbillette in der Nebenverkehrszeit.

Den Gewinn brauchen Sie auch, um die Verschuldung zu senken. Die liegt jetzt bei 11,6 Milliarden Franken. Werden die SBB jemals schuldenfrei sein?

Schuldenfreiheit kann sich ein Tech-Unternehmen wünschen. Allein unsere Bahninfrastruktur hat einen Wiederbeschaffungswert von 126 Milliarden Franken. Sobald man solche Assets hat, muss man investieren und wird sich auch verschulden. Wir müssen aber aufpassen, dass diese Schulden nicht ungebremst wachsen. Während Covid war das so. Darum ist der Kapitalzuschuss des Bundes wichtig.

Wie viele der Investitionen gehen in Form von Aufträgen an Implenia, den grössten Schweizer Baukonzern?

Der Anteil am gesamten Bauvolumen bewegt sich im einstelligen Prozentbereich. Grossaufträge werden gemäss dem strengen öffentlichen Beschaffungsrecht vergeben.

Der Implenia-Chef, André Wyss, wird 2026 neuer SBB-Präsident. Bringt er einen Interessenkonflikt mit?

Nein.

Sie können wirklich ausschliessen, dass keine Schadenersatzforderungen für ältere Implenia-Projekte kommen oder im Nachhinein gar Preisabsprachen publik werden?

Das kann man zu 100 Prozent ausschliessen. Der Verwaltungsrat entscheidet nie über die Vergabe von Aufträgen. Denkbare Interessenkonflikte können somit ausgeschlossen werden. Auch Preisabsprachen können nicht vorkommen. Wir haben sehr harte Kontrollinstanzen. Und den Preisrahmen setzt der Bund, der die Infrastrukturprojekte finanziert.

Wird immer so viel gebaut werden, dass deutsche Verhältnisse in der Schweiz unmöglich sind?

Ja. Bei der Deutschen Bahn hat man in den 1990er und 2000er Jahren nicht genug in den Unterhalt investiert. Bei uns heisst es im Gesetz klar, dass Substanzerhalt und Unterhalt Vorrang haben. Ausbau ist nur mit dem Rest möglich, der im Bahninfrastrukturfonds bleibt.

Immerhin gibt es in Deutschland Wettbewerb auf der Schiene, Stichwort Flixtrain. Warum dürfen solche Preisbrecher nicht in die Schweiz?

Das dürfen sie. Wir wehren uns nicht dagegen. Aber zuerst müssen sie Züge haben, die für die Schweiz geeignet sind. Zum Beispiel müssen die Türen zur Höhe der Perrons passen, so dass sie behindertentauglich sind. Die Perronhöhen in der Schweiz und in Deutschland unterscheiden sich. Zudem müssen die Lokomotiven die Schweizer Normen erfüllen.

Das heisst, unsere Standards sind so hoch, dass sie nie kommen werden.

Wir haben einfach andere Standards. Ein anderes Thema ist, wie viele Trassen noch zur Verfügung stehen. Solche Anbieter haben nur eine Chance, wenn es freie Kapazität gibt. In unserem dichten Netz hat es fast keinen Platz für zusätzliche Züge. Unser System ist für einen Taktfahrplan aufgebaut, und der muss aufrechterhalten werden. Aber wenn es dazwischen Platz hat, warum nicht?

Haben Sie Mitleid mit Ihrem Kollegen Richard Lutz, dem Chef der Deutschen Bahn?

Wir reden viel miteinander. Richard Lutz hat eine Situation geerbt, die lange vor ihm entschieden worden ist. Aber er und seine Leute machen angesichts der veralteten Infrastruktur einen guten Job. Die Bähnler in Deutschland arbeiten mit genauso viel Leidenschaft wie bei uns. Darum sagen wir, unsere Bahn muss weiter ausgebaut werden und es darf kein Moratorium und keinen Baustopp geben. Denn ob wir heute das Richtige gemacht haben, wird man in 15 Jahren beurteilen.

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