Freitag, Oktober 4

Der Joker war einmal richtig fies. In «Joker: Folie à Deux» ist er nur noch neurotisch. Deshalb brauchen wir ein Comeback des Superschurken!

Manchmal sind Superhelden so edel, dass es zum Gähnen ist. Superman, ein fliegender Ordnungshüter: monogam, sittsam und fleissig. Der Typ, dem man die Wohnungsschlüssel anvertraut, wenn man in die Ferien fährt. «Und danke fürs Blumengiessen, Clark!» Batman: ein chronischer Single, der auch nicht das kleinste bisschen Spass an seinen geerbten Milliarden hat. Wie oft hat man ihn als Bruce Wayne auf irgendwelchen Empfängen herumstehen gesehen und gedacht: Was soll der Flunsch, Mann! Leb ein bisschen! Spider-Man, dauergestresst von seinem Geheimnis, radioaktiv verstrahlt zu sein, gesteht seiner geliebten Mary Jane erst nach gefühlt eintausend Filmen, Serienfolgen und Comic-Seiten, dass er stärker ist als alle Typen, die sie jemals auf Tinder zusammensammeln könnte.

Die Schurken sind meistens cooler, lässiger und haben mehr Leinwand-Appeal. Ohne sie wären die Superhelden oft nur Würdenträger der guten Gesinnung mit Helfersyndrom. Erst durch seine Nemesis wird der Held zur unterhaltsamen Figur. Lex Luthor, der Gegenspieler von Superman, war schon von Anfang an der smartere Kerl, ein von Weltmachtplänen getriebener Elon Musk mit Glatze, der gegen den extraterrestrischen «Man of Steel» eigentlich keine Chance hatte, was ihn aber nur sympathischer machte. Das Gefühl, dass da immer irgendein Checker ist, der dir die Schau stiehlt und das Date abgreift, kennen viele. Lex Luthor: einer von uns.

Batman hat das Glück, gleich eine ganze Riege von schurkischen Gegnern zu haben, die sogenannte «gallery of rogues». Joker, Riddler, Scarecrow, The Penguin und Bane: alles machtbesessene Freaks, die sich von einer staatstragenden Fledermaus nicht einschüchtern lassen. Sie sind Outsider, deren Groll sich gegen Systeme und Apparate richtet, und damit Stellvertreter des Publikums, das – Fahrradwege hin, Mülltrennung her – die verwaltete Welt manchmal zum Teufel wünscht.

Alle sind traumatisiert

Dass der Joker und seine Gespielin Harley Quinn jetzt ihre eigene Show abziehen, ergibt Sinn. Sie hatten sich durch Darsteller wie Heath Ledger in «The Dark Knight» (2008) und Margot Robbie in «Suicide Squad» (2016) mit genügend Exzentrik und Schauwert aufgeladen, dass ihnen eine Solonummer zuzutrauen war. Der Joker ist ausserdem frei vom quasi familientherapeutischen Ballast, den Helden wie Batman und Superman von Film zu Film zu schultern haben.

Batman ist der traumatisierte Junge aus gutem Hause, der sich stellvertretend für den Mörder seiner Eltern Verbrecher aller Couleur zur latexbespannten Brust nimmt. Spider-Man verlor den geliebten Onkel durch ein Verbrechen, bei Superman war gleich der ganze Heimatplanet weg. Immer steht bei den Superhelden der Verlust am Anfang, und das verbindet sie mit ihren dunklen Gegenspielern. Auch die sind Traumatisierte, wie es heute heisst, Opfer eines Zivilisationsgeschehens, das ordnungspolitisch mit seiner eigenen Dynamik nicht Schritt halten kann.

Der Joker hingegen jonglierte schon immer mit Herkunftsgeschichten wie ein Clown in der Manege, und am Ende wusste niemand mehr, was von den familiären Horrorstorys erfunden und was wirklich war. So wurde er zum wirklich postmodernen Helden – ein Schurke aus dem Geist der Widersprüchlichkeit, der die Idee einer konsistenten (Lebens-)Erzählung zum Witz erklärt. Todd Phillips’ neuer Film nutzt diese Offenheit der Joker-Figur und verspielt zugleich die artistischen Chancen, die sich aus ihr ergeben könnten.

«Joker: Folie à Deux» ist, was die erzählerische Richtung angeht, so unentschieden wie seine Hauptfigur. Ist das Ganze nur ein Traumgespinst des psychisch zerstörten Underdogs? Oder doch die Story eines Demagogen, der die Massen mit seinem Charisma aufwiegelt? Wenn alles gilt, ist nichts mehr plausibel – Phillips hat einen ästhetisch furiosen, dramaturgisch aber suboptimalen Film gedreht.

Ist Lady Gaga nur eine Phantasie?

Vielleicht wäre ein richtiger Schurke als Gegenspieler besser gewesen als ein weiblicher Sidekick, dessen Motivation und Agenda sich ebenfalls nicht erschliesst. Lady Gaga verkörpert Harley Quinn als höhere Tochter, die sich ihr diffuses Protestbedürfnis buchstäblich aufschminkt, als sei der Look schon die Revolte. Sie könnte aber auch ein Phantasiewesen des erotisch und romantisch marginalisierten Joker sein.

Man weiss es nach 138 Filmminuten immer noch nicht und sehnt sich die alten Bösewichter herbei: Bane, den Kraftmeier mit Atemmaske, den Tom Hardy in «The Dark Knight Rises» (2012) als Mischung aus Conan der Barbar und Robocop darstellte. Oder den Pinguin, den Regisseur Tim Burton inszenierte wie einen Schurken aus dem Kabinett des Dr. Caligari. Danny DeVito verlieh in diesem Antihelden in «Batman Returns» (1992) den Charme des expressionistischen Hexenmeisters. Wer Pinguine zu Kamikazesoldaten umrüstet, muss wirklich böse sein – das sehen nicht nur die Leute von Pro Natura so.

Womöglich ist die Zeit der grossen Schurken vorbei. Denn seit den nuller Jahren werden in Hollywood die Helden zu neurotischen Quälgeistern umgebaut. Bei den Comics herrschte der Trend schon länger vor, nun wurden auch auf Leinwänden und Bildschirmen die Probleme ins Innere des Superhelden verlegt. Vor allem Batman kämpft zerknirscht mit einem Wesen, an dem die Welt nicht mehr genesen, sondern wie er selbst verzweifeln muss. Auch Superman, die Weltpolizei-Rakete mit dem Look eines GQ-Models, war irgendwann nicht mehr ohne Grübelei und Angst zu haben (siehe «Man of Steel» von 2013).

Die starken Typen sind dem Zeitgeist gemäss zu Therapiefällen heteronormativer Männlichkeit geworden. So bleiben sie anschlussfähig an die Bedürfnisse eines Publikums, das über die Jahre lernen musste, dass das XY-Chromosom für alle Weltübel zuständig und in seinen Ausprägungen entsprechend darzustellen sei. Der Mann: Sollbruchstelle der Kultur.

Schurken in der Weltliteratur

Das ganze Szenario ist nicht neu, und dass nur das Wechselspiel von Gut und Böse das Publikum bei Laune halten kann, wussten schon die Autoren des wichtigsten Buchs der Welt, der Bibel. Da ist der Superschurke noch durch und durch böse, und der Superheld der Gewinner von A bis Z. Die Ambiguität, die im neuen Joker-Film in Beliebigkeit ausfranst, schleicht sich über die Moderne ins literarische Geschehen ein. Ab Ende des 18. Jahrhunderts wird es schwer, in der Weltliteratur astreine Schurken zu finden. Schillers Franz, Mr. Hyde von Stevenson, Frankenstein von Shelley: alles konfliktive Bosheit, die erst im Zusammenschluss mit ihrem moralischen Widerpart Sinn ergibt.

Mit den wenigen popkulturellen Ausreissern hat man deshalb am meisten Spass, wenn man Spass als Provokation und Schockerfahrung versteht: Hannibal Lecter ist in Jonathan Demmes Romanadaption «The Silence of the Lambs» (1991) jenseits aller psychologischen Erklärungsmuster derart gestört, dass sich die pathologischen (und kulinarischen) Balken biegen.

In der Literatur hat Bret Easton Ellis im selben Jahr mit dem «American Psycho» die Latte der Depravation so hoch gelegt, dass sowohl Vorgänger (Robert Blochs «Psycho») wie Epigonen (Patrick Süskinds «Parfum») dagegen wirken wie Sonntagsschüler. Noch sehr viel radikaler als der Joker erscheint Ellis’ Bösewicht, der Wall-Street-Anwalt Patrick Bateman, unbeschwert von den Konventionen des psychologischen Realismus. Als Chiffre kapitalistischer Hemmungslosigkeit kann er unbeschwert böse sein.

Jetzt munkelt man, es könnte eine Fortsetzung mit Lady Gaga als Schurkin geben. Auch wenn ihre Motivation als Sidekick in «Joker: Folie à Deux» fragwürdig bleibt, ist diese Perspektive vielversprechend. Denn die weiblichen Bösewichter sind seit der Antike mindestens so fies und raffiniert wie ihre männlichen Counterparts. Und ambitionierter sind so auch.

Shakespeares Lady Macbeth oder die Marquise de Merteuil aus den «Gefährlichen Liebschaften» von Choderlos de Laclos – das sind Frauen, deren emanzipative Agenda keine Gnade kennt. Und auch wenn sie am Ende von einem Mann hereingelegt wurde: Die Medusa kann sich, was Härte und Grausamkeit angeht, sehen lassen. Oder besser nicht. Doch, Lady Gaga in der Rolle eines femininen Harlekins, der der geltenden Ordnung eine Clownnase dreht, das wäre besser als der nächste Aufguss einer vom Zeitgeist geschleiften Männlichkeit.

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