Dienstag, Oktober 15

Die Chefin der Unternehmensberatung gehört zu den einflussreichsten Frauen der Welt. Sie sieht die geoökonomische Lage optimistisch. Jungen Menschen rät sie, auf die Golfstaaten zu schauen.

Frau Sweet, Sie sind in einer kleinen Stadt in Kalifornien aufgewachsen und haben schon als Schülerin Chinesisch gelernt. Wie kommt das?

Manchmal kann eine einzige Person dein ganzes Leben verändern. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, mein Vater war Lackierer, meine Mutter Kosmetikerin. Ich habe ein Stipendium für das College gewonnen. An dem Abend, als es mir verliehen wurde, sass ich neben einem Herrn aus dem Unternehmen, das mir das Stipendium gegeben hatte. Er hat mich gefragt, was für Sprachen ich lernen wolle. Ich sagte: etwas Französisch. Und dann stellte er diese eine Frage, die mein Leben verändern sollte: «Warum nicht Chinesisch?» Das war 1985. Damals lernte man kein Chinesisch und machte sich keine grossen Gedanken über das Land.

Sie haben es trotzdem gemacht?

Direkt nach dieser Veranstaltung habe ich meinen Eltern zu Hause gesagt: «Ich werde aufs College gehen, Chinesisch lernen und nach China gehen.» Meine Eltern hatten damals nicht einmal Reisepässe, das muss für sie völlig wirklichkeitsfremd geklungen haben. Aber sie nickten nur und sagten «Okay». Und dann ging es los. Vor meinem Studium sagte mir mein Vater: Du wirst jetzt in eine Welt treten, die ganz anders ist, als die, in der du aufgewachsen bist. Ich möchte, dass du alles Neue annimmst und dich immer daran erinnerst, wo du herkommst.

Und so kam es dann?

Für mein drittes Studienjahr bin ich zuerst ein halbes Jahr nach Taiwan und dann ein halbes Jahr nach Peking gezogen. In Taiwan herrschte damals noch Kriegsrecht. In Peking gab es die Studentenbewegung, die später mit dem Tiananmen-Massaker niedergewalzt wurde. Es gab kaum Ausländer. Es war ein komplett anderes Land als heute. Ich habe dort gelernt, dass die Welt auf eine ganz andere Weise funktionieren kann, als ich sie bisher kannte. Das verändert das eigene Denken und die Bereitschaft, neue Dinge anzunehmen. Ich habe gelernt, in vielerlei Hinsicht furchtlos zu sein. Davon profitiere ich noch heute.

Später haben Sie in Hongkong als junge Anwältin eine Niederlassung einer amerikanischen Kanzlei eröffnet.

Ich war dort zum ersten Mal von 1994 bis 1996, also noch vor der Rückgabe an China. Wir haben erkannt, dass Hongkong das Tor zu China war, aber es gab damals noch zu wenig zu tun. China war erst am Anfang seiner Öffnungspolitik. Ich war dafür umso mehr in Indonesien und Singapur, die sich zu der Zeit schon enorm entwickelt haben.

Julie Sweet

Julie Sweet ist seit September 2019 CEO von Accenture, zwei Jahre später übernahm sie zudem die Position der Vorstandsvorsitzenden. Mit einem Umsatz von fast 65 Milliarden Dollar (2024) gehört Accenture zu den weltweit grössten Unternehmensberatungen. Bevor Sweet im Jahr 2010 zu Accenture kam, war sie zehn Jahre lang Partnerin bei einer Anwaltskanzlei. Sie ist Mitglied des Kuratoriums des Weltwirtschaftsforums. Sie wurde von «Forbes» als eine der 100 mächtigsten Frauen der Welt ausgezeichnet. Sweet wurde 1967 geboren, ist verheiratet und Mutter zweier Töchter.

Die Zeit, in der sich China immer weiter öffnet und reformiert, scheint vorbei zu sein. Stattdessen liefern sich die USA und China einen zusehends härter werdenden Systemwettbewerb. Mit Ihren Erfahrungen in beiden Welten, was denken Sie dazu?

Ich habe Freunde überall auf der Welt. Ich glaube, wir alle wünschen uns, dass die Länder Wege finden, wieder enger zusammenzuarbeiten. Wenn man im Ausland lebt, lernt man, dass die Menschen in jedem Land gleich sind. Sie lachen und weinen über ähnliche Dinge, ihre Familien stehen vor den gleichen Herausforderungen. Wir dürfen nicht vergessen: Wir alle sind Menschen. Das gibt uns eine andere Perspektive auf Geopolitik und Wirtschaft.

China und die USA belegen sich jedoch gegenseitig mit Sanktionen. Entkoppeln sich die beiden Wirtschaftsräume langsam aber sicher?

Es handelt sich nicht um ein ausschliesslich amerikanisches Phänomen, es lässt sich auch in Europa beobachten. Die Beziehungen zwischen China und dem Westen verändern sich, doch es gibt noch immer enge Wirtschaftsbeziehungen. Die grosse Frage ist, ob die verschiedenen Länder gemeinsam einen Weg finden können, um die Beziehungen in wichtigen Bereichen weiter zu pflegen und gleichzeitig die politischen Probleme zu bewältigen. Ich finde, bis jetzt ist das auch gelungen.

Finden Sie?

Wir arbeiten mit Kunden auf der ganzen Welt zusammen. Wer von ihnen früher in China aktiv war, ist es heute noch immer. Europa und Amerika sind weiterhin wichtige Exportmärkte für China – und umgekehrt.

Betriebswirtschaftlich ergibt das sicherlich Sinn. Aber was ist, wenn die Politik diese Verbindungen kappen will, wie es gegenwärtig scheint?

Ich glaube nicht, dass der amerikanische oder der chinesische Präsident je gesagt haben, sie wollten ihre Wirtschaftsräume entkoppeln. Man sollte vorsichtig sein, welche Worte man Politikern in den Mund legt.

Sie glauben nicht, dass die Welt gerade dabei ist, sich in einen amerikanisch und einen chinesisch geführten Raum aufzuteilen?

Wir sind der Überzeugung, dass sich Unternehmen nicht zu sehr von den grossen Schlagzeilen in den Medien leiten lassen sollten, sondern genau auf die Industrien und Märkte schauen müssen. Wir helfen den Unternehmen bei der Analyse, ob sie genügend abgesichert sind gegenüber geopolitischen und technologischen Risiken, nicht nur in China. Aber mehr als solche Sicherheitsfragen bewegen Unternehmen gegenwärtig ihre Lieferketten.

Wie meinen Sie das?

Viele Firmen wollen ihre Lieferketten diversifizieren. China ist ein wichtiger Markt, in dem Unternehmen für China und den Rest der Welt produzieren, aber sie wollen nicht einseitig von Importen aus China abhängig sein.

Früher galt ein multinationales Unternehmen erst als richtig global, wenn es in China präsent war. Jetzt scheint man zu hinterfragen, ob das nicht zu risikoreich ist.

Das hängt stark von der betroffenen Industrie und deren Grösse ab. Ich habe Firmen immer gesagt, dass sie in China in einer anderen Umgebung tätig sein werden. Man muss eine gewisse Grösse und Ressourcen haben, um damit umgehen zu können. Und es ist auch wichtig, woher man kommt.

Europa und speziell die Schweiz versuchen sich teilweise als Markt zu positionieren, der weder einem amerikanischen noch einem chinesischen Block angehört und von dem aus man Geschäfte mit allen machen kann. Kann das funktionieren?

Die Schweiz mit ihrer langen Geschichte der Neutralität mag ein Spezialfall sein. Aber wenn China günstige, wettbewerbsfähige Produkte in grossen Mengen exportiert, trifft das auch Europa – und die Schweiz.

Was bedeutet das für die Firmen?

Nehmen Sie den Automobilsektor. Unternehmen müssen sich ständig anpassen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Sie können sich dabei nicht auf die Politik verlassen. Ich habe weltweit noch nie mit einem Autohersteller zusammengearbeitet, der nur deshalb wettbewerbsfähig ist, weil die Politik ihn vor der Konkurrenz schützt.

Die amerikanischen Importzölle auf chinesische Elektroautos sind doch nichts anderes als eine teure Hilfe für die einheimischen Produzenten . . .

Die amerikanischen Autohersteller, mit denen ich zusammenarbeite, lehnen sich deswegen nicht zurück. Wir würden nie einem Unternehmen empfehlen, auf den Schutz der Politik zu vertrauen, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die schnellen Tech-Fortschritte, Daten, künstliche Intelligenz und neue Arbeitsformen zwingen die Unternehmen ohnehin dazu, sich neu aufzustellen. Regierungen können diesen Wandel fördern oder behindern. Aber das ändert nichts an der Notwendigkeit, sich ständig neu zu erfinden.

Was beobachten Sie bei chinesischen Unternehmen?

Ich kann dazu wenig sagen, weil wir keine signifikante Grösse in China haben. Wir haben dort einige Kunden, aber es sind vor allem international tätige Unternehmen. China importiert Produkte, aber keine Dienstleistungen. Deshalb gibt es dort gegenwärtig keinen grossen Markt für professionelle Dienstleistungsfirmen wie Accenture. China hat mittlerweile exzellent ausgebildete Fachkräfte und eigene Experten für Digitalisierung und KI.

Die USA stehen mit China im Konflikt. Werden die Präsidentschaftswahlen daran etwas ändern?

Die Beziehungen der USA zu China sind derzeit kompliziert, das gilt auch für Europa und China. Das liegt an grundlegenden Problemen und geht über die gegenwärtige Politik hinaus. Die Beziehungen zu China sind zudem ein überparteiliches Thema in den USA. Egal, ob Harris oder Trump im November gewinnen wird, beide Länder werden an ihrer gemeinsamen Zukunft arbeiten müssen.

Der Westen verliert an Einfluss in der Welt. Es scheint, dass die USA primär mit sich selbst beschäftigt sind und sich allmählich aus der Weltpolitik zurückziehen. Wie finden Sie das?

Ich hoffe, dass die USA weiterhin ein Land bleiben, das seinen Bürgern ein gutes Leben ermöglichen kann und Verantwortung in der Welt übernimmt. Doch dazu tragen wir alle bei, jeder Mensch, jeder Staat, auch wir als Unternehmen. Egal, wo wir auf der Welt tätig sind: Es ist unsere Verantwortung, zu einem funktionierenden Gemeinwesen beizutragen. Ich hoffe, dass Amerika das auch in Zukunft tun wird.

In der Zukunft werden Daten noch wichtiger sein als heute. Doch immer strengere Datenschutzgesetze behindern den freien Datenfluss. Wie sollen Firmen damit umgehen?

Wir prognostizieren, dass etwa 20 Prozent aller Prozesse und Daten in sogenannten souveränen nationalen Clouds verbleiben werden. Derzeit sind es vielleicht 15 Prozent. Darauf müssen Firmen ihre Technologie- und Cloud-Strategien ausrichten. Aber künstliche Intelligenz nutzt nicht nur Daten, sondern auch Modelle. Diese funktionieren selbst dann, wenn bestimmte Daten aus der nationalen Cloud nicht verfügbar sind. Inzwischen kann man mit synthetischen Datensätzen – die echte Daten imitieren – arbeiten und Produkte testen, ohne dass man deswegen originäre Daten aus einem Land nehmen muss.

Ihrer Ansicht nach behindert die neue chinesische Daten-Gesetzgebung Unternehmen also nicht wirklich?

Ich würde es anders formulieren: Unternehmen sind fähig, die gesetzlichen Vorgaben zu erfüllen und dank technologischem Fortschritt trotzdem die betriebswirtschaftlich notwendigen Resultate zu erzielen. Sicher, es kostet mehr, aber es geht. Vor fünf Jahren hat man befürchtet, China hätte bei der künstlichen Intelligenz wegen seiner Grösse und seinem Zugang zu Daten einen dominanten Wettbewerbsvorteil. Mit der heutigen technologischen Entwicklung hört man nichts mehr davon.

Wenn sich alles so schnell entwickelt und unsicher ist, wie wollen Sie dann noch Firmen in deren Strategie für die Zukunft beraten?

Die meisten Firmen haben eine Fünfjahresstrategie, aber sie halten es selber für unwahrscheinlich, dass sie diese einhalten werden. Gleichzeitig können sie auch nicht bloss im Hier und Jetzt arbeiten, das wäre zu kurzsichtig. Wir bei Accenture hinterfragen deswegen die Annahmen unserer mittel- und längerfristigen Strategie alle sechs Monate. Die Zeit der Jahresziele ist vorbei. Das hat sich in den vergangenen fünf Jahren fundamental verändert.

Ein Plan, der ständig über den Haufen geworfen wird, wirkt nicht gerade wie ein verlässliches Betriebskonzept.

Echtzeitdaten erleichtern heute vieles. Firmen müssen ihre Prozesse daher digitalisieren, um auf Veränderungen dynamisch reagieren zu können. Das Problem ist, dass die industrielle Fertigung oft noch nicht digitalisiert ist. Nur ungefähr ein Drittel aller Firmen hat damit bereits ernsthaft begonnen. Dabei wird es absehbar erfolgsbestimmend sein, wie schnell man auf eine veränderte Konsumnachfrage reagieren kann. Dazu braucht es digitale Abbilder aller Fertigungsprozesse.

Was würden Sie eigentlich jungen Leuten für ihre Zukunft empfehlen?

Die Zukunft wird digital sein! Bald wird es keinen Job mehr geben, in dem Technologie nicht zum Arbeitsalltag gehört. Es ist egal, was ihr studiert oder welchen Beruf ihr ergreift. Wichtig ist, beim technologischen Fortschritt mitzuhalten. Und auch zu verstehen, wie diese Technik funktioniert. Dann würde ich noch sagen: Denkt einmal über Länder wie Saudiarabien, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Katar nach. Die Region entwickelt sich gerade sehr schnell, die Leute haben Energie, Lust auf Veränderung. Dort gibt es zahlreiche Wachstumsmöglichkeiten. Ich glaube, die Golfstaaten sind heute das, was in meiner Jugend Asien war. Wäre ich nochmals jung, würde ich dorthin gehen.

Und damit ist man für die Zukunft gewappnet?

Ich wurde im September 2019 zur Geschäftsführerin von Accenture, also sechs Monate vor der Pandemie. Es war eine Pandemie, die niemand hat kommen sehen und die enorme Auswirkungen hatte. Vorher dachten Geschäftsführer in langfristigen Zyklen, sie rechneten mit einem einzigen unvorhersehbaren Ereignis während ihrer Berufsjahre. In meinem Fall wäre das die Pandemie gewesen. Doch in den vergangenen Jahren hatten wir alle sechs bis zwölf Monate so ein Ereignis. Das Undenkbare ist also wieder und wieder eingetreten. Für Unternehmen heisst diese Erfahrung dasselbe wie für die Staaten dieser Welt: Wir müssen uns ständig herausfordern, in Szenarien denken und neue, unbequeme Wege einschlagen.

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