Montag, Februar 24

Dieses Phänomen kennen die wenigsten: die warme Progression. Doch ihr Effekt sollte uns hellhörig machen. Denn die warme Progression wirkt wie eine kontinuierliche Steuererhöhung.

In den vergangenen Wochen sind sie wieder eingetrudelt: all die Dokumente zum Ausfüllen der Steuererklärung. Während einige die leidige Aufgabe sofort erledigen, beantragen andere erst einmal eine Fristerstreckung. Doch egal, wie wir vorgehen, ums Steuernzahlen kommen wir nicht herum. Was dabei allerdings selbst vielen Experten unbekannt ist: Wie hoch die Steuerrechnung am Ende ausfällt, wird von einer mathematischen Tücke mitbestimmt.

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Vielen dürfte bekannt sein, dass unser Steuersystem progressiv ausgestaltet ist. Das heisst, dass mit steigendem Einkommen überproportional mehr Steuern anfallen. Diese Ausgestaltung ist sozialpolitisch motiviert, wobei jeweils mit dem Prinzip der Leistungsfähigkeit argumentiert wird: Leistungsschwächere Individuen sollen durch leistungsstärkere entlastet werden – eine Umverteilung wird angestrebt. So weit, so bekannt, doch auf lange Sicht ergeben sich daraus verschiedene Probleme.

Umverteilungswirkung wird verwässert

Eines davon ist die «kalte Progression». Sie entsteht durch Inflation: Die Löhne steigen, gleichzeitig verteuern sich aber auch Waren und Dienstleistungen. Mit dem höheren Lohn kann man sich deshalb nicht mehr leisten. Trotzdem führen die höheren Löhne dazu, dass Steuerpflichtige in höhere Progressionsstufen rutschen. Damit das nicht passiert, wird die kalte Progression von Bund und Kantonen in den Steuertarifen ausgeglichen – auf Bundesebene geschieht dies seit 2011 automatisch und jährlich.

Doch es gibt noch ein weiteres, weniger bekanntes Problem mit unserem Steuersystem: die warme Progression. Sie ist Folge des technologischen Fortschritts, und wie die kalte hat auch die warme Progression unerwünschte Effekte. Da Innovationen uns alle produktiver machen, steigen mit der Zeit alle Einkommen: Die Gesellschaft als Ganzes rutscht damit in höhere Progressionsstufen.

Durch diesen Effekt wird die Umverteilungswirkung des Steuersystems verwässert, denn die Gruppe jener Personen, die hohe Steuersätze bezahlt, wird immer grösser. Etwas plakativ dargestellt: Lässt man den Prozess lange genug laufen, landen am Ende alle in der höchsten Steuerprogressionsstufe. Eine weitere Folge der warmen Progression ist, dass ein Wirtschaftswachstum automatisch zu höheren Fiskalquoten führt, denn die Steuereinnahmen steigen überproportional zur Wertschöpfung des Landes.

Steuerbelastung ist 2,5 Milliarden Franken höher

Dieser Effekt ist keineswegs vernachlässigbar: Das zwischen 2010 und 2020 erfolgte Reallohnwachstum von 8,4 Prozent hat gemäss einer Modellrechnung von Avenir Suisse zu einem Anstieg der schweizweiten Steuerbelastung um 13,3 Prozent geführt. Damit fällt die Steuerbelastung im Jahr 2020 für die Haushalte um 2,5 Milliarden Franken höher aus, als sie es ohne warme Progression tun würde.

Diesen eindrücklichen Zahlen zum Trotz wehren sich verschiedene Politiker dagegen, die warme Progression zu korrigieren. Oft wird dabei argumentiert, dass im Gegensatz zur kalten Progression die «wirtschaftliche Leistungsfähigkeit» der Haushalte steige. Die warme Progression sei also kein Fehler, sondern erwünscht. Doch dieses Argument verfängt nicht.

Das Leistungsfähigkeitsprinzip bezieht sich immer auf die individuelle Ebene, auch bei der Progression. Demnach sollen Leistungsstärkere einen überproportionalen Beitrag an den Staat leisten, um Leistungsschwächere entsprechend zu entlasten. Auf kollektiver Ebene ergibt das Prinzip hingegen keinen Sinn. Es würde bedeuten: Wenn die Gesellschaft als Ganzes leistungsfähiger wird – also auch Leistungsschwache –, soll ein überproportionaler Anteil der gesellschaftlichen Mehrleistung an den Staat abgegeben werden.

Der staatliche Fussabdruck wird immer grösser

Die warme Progression ist also nicht mit dem Leistungsfähigkeitsprinzip zu legitimieren. Gerade auch sozialpolitisch orientierte Politiker sollten auf eine Korrektur pochen, denn sonst wird mit der Zeit wie erwähnt die Wirkung der Progression verwässert. Gleichzeitig sollten sich auch all jene für einen Ausgleich der warmen Progression einsetzen, denen die jüngste Ausweitung des staatlichen Fussabdrucks Sorge bereitet. Wird die warme Progression weiter hingenommen, kommt das de facto einer kontinuierlichen Steuererhöhung gleich.

Wichtig ist: Hinter der warmen Progression steht kein bewusster politischer Entscheid. Vielmehr wirkt im heutigen Steuersystem ein ungewollter mathematischer Mechanismus. Wie der Umgang mit der kalten Progression zeigt, kann dieser leicht korrigiert werden. Natürlich macht dann das Ausfüllen der Steuererklärung am Wochenende noch immer keinen Spass. Aber immerhin fühlt man sich bei der späteren Begleichung der Steuern nicht mehr von der Mathematik über den Tisch gezogen.

Jürg Müller ist Direktor des Think-Tanks Avenir Suisse.

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