Der deutsche Autor Kevin Vennemann schaut verwundert auf seine Wahlheimat, wo der Nachbar selbst dann noch stolz das Auto wäscht, als der Feuerwehr längst das Löschwasser ausgegangen ist.
An einem sonnigen Nachmittag Mitte Januar wimmelt es in Altadena, einem kaum 50 000 Einwohner zählenden Vorort der Metropole Los Angeles, von Militärfahrzeugen jeder Art und Grösse. Schwerbewaffnete Frauen und Männer in Tarnkleidung patrouillieren durch die Strassen, regeln mit bedrohlicher Bestimmtheit den spärlichen Verkehr. Sie lassen sich Ausweispapiere zeigen, geben Suppe aus und Decken, vertrösten hoffnungsvolle Anwohner, die zu ihrem verlorenen Zuhause zurückkehren wollen, auf einen unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft.
Zwei Wochen sind vergangen, seitdem das Eaton-Fire dieses Altadena grossflächig niedergebrannt hat. Ich kenne das Städtchen gut, wohne nur zehn Minuten entfernt, komme normalerweise mehrmals pro Woche her, um Cafés, Freunde oder den Markt zu besuchen. Als ich mich an diesem Nachmittag umsehen will, wird mir schon an der ersten Strassensperre bedeutet, dass ich umzukehren habe und auf dem Rückweg weder anhalten noch, um Missverständnisse zu vermeiden, aussteigen dürfe. Überall am Strassenrand stehen in Altadena dieser Tage handgemalte Schilder: «Plünderer werden erschossen.»
Das Kojoten-Rudel zieht vorbei
Vielen mag sich beim erstbesten Gedanken an Los Angeles ein bestimmtes Bild einstellen: endlose Staus und endlose Strände, Fitnesswahn und natürlich Hollywood. Oberflächliche Freundlichkeit. Glitzer, Glamour, Plastik: ein von Menschenhand herangezüchtetes Paradies auf Erden. Dabei ist Los Angeles, natürlich, viel mehr.
Der Historiker Dan Flores schreibt, dass sich in Los Angeles die «weitaus grösste Schnittstelle zwischen Wildnis und Stadt in ganz Nordamerika befindet – ein insgesamt über 1120 Kilometer langes Gebiet, in dem urbane Siedlungen nahtlos übergehen in wildes Buschland und tiefe Schluchten, die sich bis weit in die San-Gabriel-, San-Bernardino- und Santa-Monica-Berge hineinschneiden». Jeden Abend zieht mit einem Jaulen aus vielen Dutzend Kehlen ein Kojoten-Rudel an meinem Haus vorüber, das nur zehn Autominuten von Downtown Los Angeles mit seinen Wolkenkratzern entfernt liegt.
Altadena ist ein Mikrokosmos dieser Verschränkung von Weltmetropole und Wildnis. Zwei (für europäische Verhältnisse) gewaltige Autobahnen markieren die Stadtgrenzen im Westen und im Süden. Im Norden zieht sich eine (für kalifornische Verhältnisse) gewaltige Bergkette nach Osten bis weit hinein in die Mojavewüste. Wanderer bevölkern zu allen Tages- und Jahreszeiten die Hänge und Schluchten – in einer von diesen betreibt die Raumfahrtbehörde Nasa umgeben von urwüchsiger Flora ein Forschungsinstitut. Auf dem Hausberg Mount Wilson rühmt sich ein Observatorium des Besitzes zweier der ältesten und lange Zeit grössten Teleskope der Welt.
Hier entstand eine schwarze Mittelschicht
In Südkalifornien ist das um 1875 gegründete Altadena eine relativ alte Siedlung. Bungalows im Craftsman-Stil und mediterrane Einfamilienhäuser zieren seit über hundert Jahren die Strassen. Knorrige Eichen und üppige Avocado-Bäume wachsen in Hainen in jedem Park oder einzeln in jedem Vorgarten. Trotz dieser Idylle war Wohnen in Altadena lange erschwinglich, und es galt zudem als politisches Refugium.
War es schwarzen Menschen auch in Kalifornien über Jahrzehnte in vielen Gemeinden untersagt, Immobilien zu besitzen, nahm sich ein Teil Altadenas von dieser brutalen Politik aus. Strukturellen Rassismus gab und gibt es auch in Altadena. Doch immerhin konnten schwarze Zugezogene sich hier niederlassen, Familien gründen, ein Leben leben, die erste schwarze Mittelschicht der Region heranbilden. Dieses Altadena existiert nun nicht mehr.
Die Fakten: Seit dem 7. Januar haben mehrere Brände rund um Los Angeles etwa 25 000 Hektaren verschlungen. Mindestens 28 Menschen sind umgekommen, über 16 000 Gebäude niedergebrannt, darunter Wahrzeichen wie einige Häuser des aus Österreich stammenden Architekten Richard Neutra, der mit seinen Glas- und Stahlkonstruktionen in den 1930er bis 1950er Jahren die südkalifornische Architektur geprägt hat wie niemand sonst.
Zehntausende andere Gebäude werden erst nach aufwendigen Entkernungen und Restaurierungen wieder bewohnbar sein, Hunderttausende Menschen lange nicht in ihr Heim zurückkehren können. Weil in den USA vor allem mit Holz gebaut wird, bleibt von den 10 000 in Altadena zerstörten Häusern nur wenig: Asche und ausserdem ein lichter Wald aus schmalen Backsteintürmen – der Wohnzimmerkamin ist das einzige feuerfeste Element in einem kalifornischen Haus.
Nicht die Holzbauten sind das Problem
Im Jahr 2023 hatten 93 Prozent aller neuen Wohnbauten in den USA einen Holzrahmen, in den europäischen Ländern nur etwa 20 bis 30 Prozent. Die Architektur-Professorin Lyannie Tran von der Polytechnischen Hochschule in Pomona, einem anderen Vorort, erklärt, dass sich mit Holz günstiger und schneller bauen lasse als mit Ziegelsteinen oder anderen mineralischen Materialien. Damit solle nicht gesagt sein, dass diese Art zu bauen für die vielen grossen Brände im Staat verantwortlich sei. Der Holzbau sei streng reguliert. Kalifornien würde nicht seltener in Flammen stehen, wenn wir weniger Holz, stattdessen mehr Beton oder Stahl verbauten. Für die Brände gebe es andere Gründe.
«Hin und wieder begeht jemand Brandstiftung, oder es schlägt ein Blitz ein», erklärt der Historiker Will McPherson. «Doch für die grosse Mehrheit der grössten Brände sind defekte oberirdische Stromleitungen verantwortlich.» Nur ein Drittel aller Leitungen im Staat verläuft unter der Erde. Würden die grossen Versorgungsunternehmen auch den Rest vergraben, liessen sich die meisten Brände vermeiden, doch die Kosten von etwa zwei bis sechs Millionen Dollar pro Meile müssten an die Verbraucher weitergereicht werden.
Langfristig liesse sich mit solchen Investitionen viel Geld sparen, auch eine sicherere Zukunft garantieren. Kurzfristig ist es attraktiver, jährlich viele Milliarden für die Feuerbekämpfung auszugeben, anstatt den Wählern immer noch höhere Lebenshaltungskosten zuzumuten. Selbst im liberalen Kalifornien, wo die Demokraten sich vor den Republikanern kaum fürchten müssen, zahlt man lieber morgen mehr, als heute präventiv zu investieren.
Kein typisches Brandopfer
Die Kleinstadt Chico liegt gute drei Stunden nordöstlich von San Francisco. Hier haben McPhersons Eltern im November 2018 ihr Haus im Camp-Fire verloren, dem bis heute destruktivsten Brand Kaliforniens. Der Grund: ein defekter Strommast. Die McPhersons hatten Glück, konnten schon zwei Jahre später in ihr neues Haus auf demselben Grundstück einziehen.
Vater Steve betont, dass die Familie kein typisches Brandopfer sei. Man war gut vorbereitet und konnte nach dem Brand monatelang bei Verwandten unterkommen. Eine Schwägerin, die in der Versicherungsbranche arbeitet, half mit ihrem Fachwissen, und McPhersons älteste Tochter, die Juristin ist, vermittelte einen hervorragenden Rechtsbeistand.
Als die Elektrizitätsgesellschaft PG&E den betroffenen Familien in Chico ein Vergleichsangebot vorlegte, unterzeichneten viele sofort. Die McPhersons allerdings hatten Zugang zu einem forensischen Ökonomen, der dafür sorgte, dass sie das Vierfache des ursprünglichen Angebots ausbezahlt bekamen.
So geht es nicht vielen. Nach grossen Umweltkatastrophen wird in Florida, Texas, New York und Kalifornien gerne geschwärmt, wie ergreifend es sei, dass in der Not alle füreinander einstünden. Dabei ist dem sprichwörtlichen amerikanischen Individualismus, der in Kalifornien kaum weniger ausgeprägt ist als in Oklahoma, nur wenig so verhasst wie uneigennützige Grosszügigkeit.
Schon am Morgen nach dem Ausbruch der Brände in Los Angeles waren Hunderte von Mietangeboten überall in der Stadt doppelt so teuer wie am Tag zuvor, obwohl die Mieten zu Krisenzeiten nur um maximal 10 Prozent erhöht werden dürfen. Wohnungen werden seitdem überall in der Stadt zwangsgeräumt, um für zahlungskräftigere und neuerdings obdachlose Interessenten Platz zu schaffen.
Offenbar aus Prinzip – und dies nur nebenbei – wusch einer meiner Nachbarn in der ersten Woche der Brände selbst dann noch jeden Tag ein anderes seiner etlichen Autos mit aller Gründlichkeit, um im Anschluss mit dem Gartenschlauch demonstrativ sowohl den Bürgersteig als auch die Strasse vor seinem Haus abzuspritzen, als der Feuerwehr in Altadena längst das Löschwasser ausgegangen war. Das Recht, jederzeit alles das tun zu dürfen, was man will, auch wenn es noch so grosser Unfug ist, wird einem nirgendwo in diesen kindischen USA so bald genommen werden.
Ascheberg und Kaminskelett
Manche in Altadena werden ähnliches Glück haben wie die McPhersons. Sie werden ihr Haus wiederaufbauen und vielleicht sogar ihre exorbitanten Versicherungsprämien zahlen können. Viele andere – nach jahrelanger Gentrifizierung vor allem die verbliebenen schwarzen Anwohner – werden ihr Grundstück samt Ascheberg und Kaminskelett an Spekulanten verkaufen müssen, die das idiosynkratische Altadena billig in eine überteuerte Trabantenstadt verwandeln werden.
Eigentlich ist es Wahnsinn, unter diesen Bedingungen hier zu leben, in Südkalifornien. Doch anstatt uns mit dem Land auseinanderzusetzen und wirklich zu lernen, wie man hier leben könnte, haben wir uns damit abgefunden, dass unser Jahr aus einer unablässigen Folge von Wirbelstürmen, Erdrutschen, Überschwemmungen, Dürren und Grossbränden besteht. Von jenem seit 150 Jahren überfälligen Erdbeben ganz zu schweigen, an das wir kaum einen Gedanken verschwenden, obwohl es der Stadt Los Angeles wahrscheinlich ein Ende bereiten wird.
Auch das Eaton-Fire begann mit einem defekten Hochspannungsmast. Wenn wir also schon nicht unsere Stromleitungen vergraben, könnten wir uns immerhin auf alte indigene Landbewirtschaftungsmethoden besinnen. Kontrollierte Kulturbrände beispielsweise entfernen Unterholz, verjüngen einheimische Pflanzen, verbessern die Bodenfruchtbarkeit, schaffen Lebensräume für Wildtiere und verringern das Risiko grösserer Brände.
Weil es zu einem derart nachhaltigen Zusammenleben mit der Natur so bald nicht kommen wird, bleibt die Flucht in die Nostalgie. Auf dem Heimweg halte ich natürlich doch noch einmal an. Gregory Ain, ein anderer grosser Name der südkalifornischen Architektur-Moderne, plante in den späten 1940er Jahren hier in der Highview Avenue in Altadena 60 Einfamilienhäuser, die mit ihrer leichten und flexiblen Einfachheit aus Stahl und Glas ein fortschrittliches und auch erschwingliches Wohnen im Einklang mit einheimischer Natur für wirklich alle inspirieren sollten.
Im Zeitalter der «roten Angst», die jede nur annähernd egalitäre Idee sofort erstickte, liessen sich nur 28 der «Park Planned Homes» verwirklichen. 21 davon verbrannten im Eaton-Fire und mit ihnen auch das Andenken an Gregory Ains so vielversprechende Bemühungen um ein ganz anderes Los Angeles. Jetzt kann es eigentlich nur noch besser werden. Oder noch schlimmer.
Kevin Vennemann ist Autor und Übersetzer. Er lebt in Los Angeles und lehrt am Scripps College in Claremont, Kalifornien. 2012 erschien im Suhrkamp-Verlag sein Buch «Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles».