Montag, September 30

Heinz Baumann / ETH-Bildarchiv

Ein Architekt fordert einen respektvollen Umgang mit der ungeliebten Autobahnbrücke. Sie erinnert an eine Zeit, als die autogerechte Stadt Richtschnur war.

Auch ein Bauwerk, das heute als Sünde gilt, wird irgendwann als selbstverständlich wahrgenommen. Das trifft besonders für die Sihlhochstrasse zu. Seit einem halben Jahrhundert thront sie auf 93 Pfeilern über Zürichs minderem Fluss, wie Hugo Lötscher die Sihl einmal nannte. Samt den Rampen auf beiden Seiten misst das vierspurige Stück Autobahn von der Brunau bis zum Sihlhölzli 2,5 Kilometer. Dort ergiesst sich der Verkehr in das städtische Strassennetz.

Die Einheimischen haben sich daran gewöhnt und nehmen die Autobahn über ihren Köpfen kaum mehr als ungewöhnlich wahr. Das war sie allerdings bereits bei der Fertigstellung. Kein Magistrat durchschnitt Anfang Oktober 1974 ein Band. Ohne Musik und Ehrengäste wurde die Sihlhochstrasse bei «Nacht, aber ohne Nebel», wie die NZZ bemerkte, dem Verkehr übergeben.

Sie war nach fünf Jahren Bauzeit schon bei der Eröffnung von der Zeit überholt worden. Aus Furcht vor Protesten gab die kantonale Baudirektion den Zeitpunkt der Inbetriebnahme erst am Tag zuvor bekannt. Selbst die NZZ schrieb damals, fast einhellig werde der Autobahnabschnitt als massiver und störender Eingriff ins Stadtbild beurteilt: Das «schlechte Gewissen über die Sihlhochstrasse» sei am Platz.

Autobahndreieck statt Badi am Letten

Ähnlich verschämt ging nur die Freigabe des Milchbucktunnels im Sommer 1985 über die Bühne, kurz nach der Eröffnung der Zürcher Nordumfahrung. Dieser Tunnel endet ebenso abrupt an der Wasserwerkstrasse über der Limmat. Sihlhochstrasse und Milchbucktunnel sind die realisierten Teile des Expressstrassen-Ypsilons und der Idee, den Durchgangsverkehr auf Autobahnen durch die Stadt zu leiten.

Grundlage bildete der Generalverkehrsplan für Zürich aus den 1950er Jahren. 1962 sah die Verkehrspolitik des Bundes vor, die Autobahnen aus dem Nordosten, dem Westen und dem Süden mitten in der Stadt Zürich in der Form des Ypsilons miteinander zu verknüpfen.

Die Sihlhochstrasse sollte weiter oberhalb der Sihl an der Militärkaserne und der Sihlpost vorbei und über die Perronhalle des Hauptbahnhofs zu einem Dreieck Letten führen, das an der Stelle der Badanstalt Oberer Letten vorgesehen war.

Doch mittlerweile hatte die Stimmung gedreht. Das zeigte ebenfalls vor fünfzig Jahren wenige Tage vor der Eröffnung der Sihlhochstrasse die Abstimmung über eine Volksinitiative gegen das «Expressstrassen-I». Nun sollte die Autobahn ohne Westast nach Altstetten vom Sihlhölzli unter Sihl und Hauptbahnhof hindurch zum Platzspitz führen. Nach einem heftigen Abstimmungskampf lehnten die Stimmberechtigten der Stadt diese Variante ab, wurden aber von der Bevölkerung im übrigen Kanton überstimmt.

Die Pläne blieben dennoch Papier, der Widerstand wäre zu gross gewesen, und es reifte die Erkenntnis, dass sich der rasch steigende Strassenverkehr so nicht bewältigen lässt. Doch die offensichtliche Fehlplanung zeigte ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Erst vor einem Jahr entfernten die eidgenössischen Räte das Zürcher Y aus den Plänen des Schweizer Autobahnnetzes. Im vergangenen Februar strich es dann auch der Bundesrat definitiv: Diese Lösung sei nicht mehr zeitgemäss, schrieb er.

Prägend für Zürich

Doch für Martin Jakl ist die Geschichte nicht einfach abgeschlossen. Der 47-jährige Architekt widmete 2018 seine Masterarbeit in der Studienrichtung Urban Design an der Technischen Hochschule Berlin unter dem Titel «Aktenzeichen Y ungelöst» dem Zürcher Ypsilon und im Besonderen der Sihlhochstrasse. Der kurze Abschnitt der Expressstrasse sei ein wichtiges Denkmal für die Stadt Zürich und zeuge wie kaum ein anderes Bauwerk vom raschen Wandel der städtebaulichen Leitbilder, schrieb er in der Einleitung.

Was hat ihn dazu bewogen, gerade dieses Thema aufzugreifen? «Auch wenn mir die autogerechte Planung fernliegt: Es ist spannend, sich mit den Strukturen auseinanderzusetzen, die daraus entstanden sind, die sehr prägend waren und es bis heute sind», sagt er im Gespräch mit der NZZ. Auch das Gedankenspiel, wie man heute mit ihnen umgeht und welche Chancen sie bieten, habe ihn interessiert. Und dann die Denkweise einer Zeit, die im Vergleich zur heutigen völlig anders war, wobei Jakl sofort anfügt, dass sich das wieder ändern könne.

Seine Analyse ist denn auch alles andere als eine simple Abrechnung mit einer Fehlentwicklung. Diese gründete bis weit in die 1960er Jahre auf einer fast ungeteilten und kaum hinterfragten Euphorie über das neue Massenverkehrsmittel Auto in allen Bevölkerungsschichten.

«Der Bau der Sihlhochstrasse war eine Gestik, die einen gewissen Respekt verdient», sagt Jakl, der eine Zeitlang in Wiedikon lebte. Sein Blick ist teilweise ambivalent. Es sei schlicht einzigartig, wie da eine Autobahn über den zweitgrössten Fluss brutal mitten ins Herz von Zürich vorgetrieben worden sei, sagt er. In seiner Arbeit würdigt er aber durchaus die Baukunst, etwa die Eleganz der Auf- und Abfahrtsrampen beim Sihlhölzli.

Jakls Absicht war jedoch keine Verteidigungsschrift. Er arbeitete aufgrund der Planungsgeschichte heraus, wie es zum Zürcher Y gekommen ist. Sein Fazit: Man überliess das Zepter lange allein den Ingenieuren, die den Umbau der Städte zugunsten des fliessenden Strassenverkehrs bewerkstelligen sollten.

Die Architekten und Städtebauer meldeten sich erst zu Wort, als es schon zu spät war, dann aber deutlich. Allen voran kritisierte der Doyen der Schweizer Raumplanung, Hans Marti, das Konzept, die Nationalstrassen bis in die Städte zu bauen. Einen Kommentar in der «Schweizerischen Bauzeitung» zum Expressstrassen-Y überschrieb er 1961 mit dem Titel «Machen Sie diesen Blödsinn nicht», den auch Jakl seiner Arbeit vorangestellt hat.

Darin spürt er den Zeugen für jene noch ungebrochen autofreundliche Zeit an anderen Orten in Zürich auf. Etwa die ikonische Fussgängerspinne des Architekten Werner Stücheli über dem Bucheggplatz, auch eine Zürcher Verkehrsmaschine. Erstellt zu Beginn der 1970er Jahre, diente sie zuerst der strengen Trennung der verschiedenen Verkehrsteilnehmer; heute darf man die Strasse auch über einen Zebrastreifen queren. Oder das Geschäftshaus «Zur Palme» im Bankenviertel mit seiner inszenierten, schneckenförmigen Rampe zum Parkdeck.

Bald war absehbar, dass das nicht einfach wird mit dem Autobahn-Y. Deshalb baute Zürich noch die Westtangente durch die Stadt. Gewissermassen als Folge der unvollendeten Sihlhochstrasse erhielt Zürich mit der Hardbrücke noch eine zweite Hochstrasse quer über das Industriequartier. Baulich zwar ähnlich, unterscheidet sie sich jedoch stark von der Strasse über der Sihl. Die Hardbrücke war immer mit dem städtischen Umfeld verwachsen. Sie diente auch dem öffentlichen Verkehr, der Bus fuhr von Anfang an darüber, seit 2017 auf ihrem südlichen Teil auch das Tram.

Bildete die Brücke zuerst die Grenze zwischen dem Wohnquartier einerseits und dem Industriegebiet westlich davon, ist sie heute eher ein identitätsstiftendes Element im sich rasch wandelnden Stadtkreis 5. Jakl schreibt vom «Wahrzeichen eines aufstrebenden, urbanen Quartiers».

Die Sihlhochstrasse blieb dagegen eine Autobahn in der Stadt, durch die erhöhte Lage ohne jeden Bezug zum Quartier. Die stört zwar optisch, aber sonst nicht übermässig. Lärmschutz war bei ihrer Planung noch kein Thema. Erst während des Baus wurden erste Massnahmen umgesetzt, die mit der umfangreichen Instandstellung um die Jahrhundertwende deutlich verbessert wurden.

Neubau oder Abbruch?

Doch auch ein Bauwerk aus Beton, zumal eine Tragkonstruktion, hat ein Ablaufdatum. Nach der Sanierung gab man der Sihlhochstrasse eine Restnutzungsdauer bis 2050. Anders gesagt: Sie hat heute zwei Drittel ihrer Lebensdauer erreicht. Irgendwann wird mindestens eine Kernsanierung fällig, faktisch wohl eher ein Neubau.

Doch will Zürich das, jetzt, wo die Stadt umfahren werden kann und die Sihlhochstrasse ein Zubringer zum Zentrum bleibt? Wird der Bund überhaupt dessen teure Rekonstruktion bezahlen? Immerhin waren die Brückenstummel über der Sihl Schauplatz spektakulärer Unfälle.

Ein Abriss stand mehrfach zur Diskussion. Letztmals 2005, als der Kanton nochmals einen Anlauf nahm, die Autobahnverbindungen in Zürich zu vollenden. Allerdings ist der vorgesehene Ersatz für die Sihlhochstrasse, eine unterirdische Durchgangsachse von der Brunau bis nach Dübendorf, inzwischen auch weg. Der Regierungsrat speiste den «Stadttunnel», der im kantonalen Richtplan figuriert, zwar beim Astra ein. Doch der Bundesrat lehnte es ab, ihn in seine Strassenplanung aufzunehmen.

Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die Brücke als Ausdruck ihrer Zeit ein erhaltenswertes Baudenkmal ist. Dazu zählt heute nicht nur, was wir als schön empfinden, wie ein Schloss oder ein altes Bauernhaus. Laut der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege sind Denkmäler «ortsgebundene Objekte, die geschichtlichen Zeugniswert haben». Nichts veranschaulicht besser als die Sihlhochstrasse die Bereitschaft, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Städte dem Strassenverkehr zu opfern.

Schon die NZZ schrieb nach der Eröffnung, sie sei als «Denkmal einer Generation zu sehen, die in einem vielleicht zu einseitigen, aber jedenfalls Achtung abnötigenden Einsatz und Optimismus möglichst vielen ein Leben in Wohlstand und individueller Freiheit – unter anderem mit dem Auto für jedermann – zu ermöglichen hoffte».

Ein unbequemes Baudenkmal

Ist die Sihlhochstrasse ein Baudenkmal? «Auf jeden Fall», antwortet Martin Jakl. Er ging in seiner Arbeit auch dieser Frage nach und entlehnte dafür aus der Fachliteratur den Begriff des unbequemen, auch ungeliebten oder unerwünschten Denkmals. Das trifft auf die Brücke über der Sihl zu, stand sie doch «schon zum Zeitpunkt ihrer Eröffnung emblematisch für das Scheitern der autogerechten Stadt», wie er in seiner Arbeit schrieb.

Er wünscht sich jedoch auch für das als unbequem oder hässlich empfundene Denkmal einen respektvollen Umgang, ein Weitererzählen der Geschichte: Die Sihlhochstrasse solle als Chance verstanden werden, Einzigartiges zu schaffen. Mit einem Abbruch mache man es sich zu einfach, widerspricht er dem Ruf nach Tabula rasa.

Doch was ist möglich zwischen Ausradierung und Rekonstruktion? Für Jakl steht im Vordergrund, sich Gedanken zu machen, was mit dem Flussraum der Sihl geschehen soll. Etwas provokativ meint er, immerhin sei es heute ein künstlich beschattetes Gewässer, was angesichts der zunehmenden Hitzetage ein Vorteil sein könnte. Auch eine Freiraumnutzung ähnlich wie der Highline-Park in Manhattan sei eine spannende Möglichkeit.

Ideen, was man mit der Sihlhochstrasse anfangen könnte, gab es, nicht immer ernst gemeint, schon in den Anfängen. Als interessantes Beispiel einer Aneignung nennt Jakl das kurze Stück Stadttunnel im Zürcher Hauptbahnhof, das gerade zu einer Veloverbindung hergerichtet wird. Wichtiger als eine Umnutzung fürs Wohnen oder für kulturelle Zwecke ist für ihn der Umgang mit dem Bauwerk als Teil eines aussergewöhnlichen Freiraums.

Dass er sich weiter darüber Gedanken macht, liegt daran, dass seine berufliche Hauptbeschäftigung heute ungefähr das Gegenteil von dem ist, was die Erbauer der Sihlhochstrasse taten. Als Jakl 2018 in das Amt für Städtebau in Winterthur eintrat, galt seine erste Aufgabe den Auswirkungen auf die Stadt, wenn die Autobahnumfahrung auf sechs Spuren erweitert wird. «Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Zürcher Y war dabei für mich sehr wichtig», sagt er. Er habe recherchiert, weshalb die Autobahn seinerzeit so nahe an Winterthur geplant wurde, was heute grosse Probleme mit dem Lärmschutz schaffe.

Das Ergebnis ist bekannt. Winterthur will die Umfahrung bei Töss unterirdisch in den nahen Hügel verlegen. Das Konzept, das eine Neugestaltung von Winterthurs Süden erlaubt, hat überzeugt. Das Bundesamt für Strassen adoptierte es, und der Kantonsrat verankerte den Vorschlag im Richtplan.

Im Fall der Sihlhochstrasse ist die Sachlage zwar anders. Eine Verlegung ist nicht möglich, und der Strassenverkehr bleibt. Martin Jakl ist jedoch überzeugt, dass mit fortschreitendem Alter des Bauwerks unweigerlich die Diskussion darüber näher rückt, was mit ihm geschehen soll. Auch ein Abbruch könne respektvoll sein, sagt er im Gespräch. Aber nur, wenn man sich vorher der Auseinandersetzung darüber stelle. Dafür sei es allmählich Zeit.

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