Freitag, Oktober 4

Sasa Alavanja ist einer der letzten Laternenmänner Europas. Mit seinem sanften Licht taucht er die verwinkelten Gassen der kroatischen Hauptstadt in einen warmen Schein. LED-Lampen wären wartungsfrei und leuchteten intensiver – bedeuten sie das Ende einer romantischen Ära?

Es ist vier Uhr nachmittags, die Sonne steht tief. Ein Mann geht durch die Gassen, der Stab in der Hand überragt ihn um zwei Kopflängen. Sein Schritt hallt auf dem Pflaster, führt ihn an verstrebten Fenstern und efeubewachsenen Mauern vorbei. Ins Gemäuer eingelassen sind Laternen auf verschnörkelten Armen. Der Mann berührt sie mit der Spitze seines Stabs, als könnte er zaubern. Zaghaft flackert darin ein Licht auf, das bald kräftiger wird und in ein honiggelbes Schimmern übergeht. 249 Gaslaternen beleuchten den Hügel von Zagrebs Altstadt. Die aneinandergereihten Tupfer erinnern an die Perlen einer Halskette.

Sasa Alavanja, 44 Jahre alt, ist seit über zwanzig Jahren Laternenanzünder in Zagreb. Er trägt eine Weste, eine gute Stoffhose und einen Umhang aus warmer Wolle mit verstärkten Knopflöchern. Die Uniform sitzt, die eng anliegende Schirmmütze lässt die Ohren frei. Sasa ist in Zagreb geboren und aufgewachsen. Seine dunkelblauen Augen erinnern an Sommertage an der dalmatinischen Küste. Nach der Schule bewarb er sich als Laternenanzünder. «Ich dachte, dass die Arbeit sicher nicht allzu anstrengend ist.»

Heute ist er Zagrebs erfahrenster Laternenanzünder – und damit eine Institution. Tagein, tagaus geht er durch dieselben Gassen, egal, ob der Regen peitscht oder die Vögel zwitschern. Er arbeitet im Turnus mit Tomislav Miletic, dem zweiten städtischen Laternenmann. Bereits seit über 160 Jahren werden die Laternen in Zagreb manuell entzündet. Einen so traditionsreichen Beruf auszuüben, macht Sasa stolz. «Schon als Kind hat mich der Laternenanzünder beeindruckt.» Zwei ältere Männer kommen im Schuss um die Ecke. «Unser Nazigaci!», sagt der eine und klopft Sasa anerkennend auf die Schulter. Es ist das kroatische Wort für Laternenanzünder. Eine Bezeichnung, die für Zagrebs hippe Generation kaum noch eine Bedeutung hat.

Die Verwaltung drängt auf Elektrifizierung

Die ersten Gaslaternen in Zagreb erstrahlten am 31. Oktober 1863 um 19 Uhr. Seither werden die Laternen von Hand entzündet. Laternenanzünder ist also einer der ältesten Berufe der Stadt. «Der Brauch ist uns wichtig, wir wollen ihn bewahren», sagt Luka Vresk, Ingenieur und Kommunikationsbeauftragter der Betreiberfirma Gradska plinara Zagreb. Das kulturelle Erbe zu erhalten, wird jedoch zusehends schwieriger. Elektrisches Licht oder LED haben zahlreiche Vorteile: Sie kosten weniger, sind umweltfreundlicher und können mit geringerem Aufwand gewartet werden. Und sie leuchten intensiver. «Eine Gaslampe ist ein reines Orientierungslicht», sagt Luka Vresk. «Um dunkle Ecken auszuleuchten oder Strassenschilder zu erhellen, eignen sie sich nicht.» Die Stadtverwaltung hat schon mehrmals signalisiert, dass sie auch die Altstadt gern elektrifizieren würde. Die anderen Stadtteile sind es längst. «Doch wir kämpfen für unsere Laternen», so Luka Vresk.

Zagrebs Altstadt teilt sich in zwei Hälften. In der Fussgängerzone der Unterstadt reihen sich Bars und Pubs aneinander, die Oberstadt liegt auf dem Hügel und gehört den Kirchen und Museen. Die dreissig Höhenmeter überwindet man auf steilen Treppen oder mit der Standseilbahn. Die Zagreberinnen und Zagreber nennen sie liebevoll «die alte Dame». Ihr Endpunkt mündet in einen Platz neben dem Lotrscak-Turm.

Eine Touristengruppe wird auf Sasa aufmerksam. Die Besucher bewundern seine Uniform, bitten um ein Selfie. Sasa strafft die Schultern, posiert routiniert. Sasas Stab wirft manche Fragen auf. «Einige halten ihn für eine Fischerrute», sagt Sasa. Ein Anflug von Schalk blitzt in seinen Augen. «Mich gibt es auf unzähligen Fotos in der ganzen Welt.» Touristengruppen aus dem asiatischen Raum sind besonders fasziniert von der Tatsache, dass die Lampen in Zagreb noch manuell entzündet werden. «Wahrscheinlich, weil in ihren Heimatländern fast alles per Knopfdruck funktioniert», sagt Luka Vresk.

Zwei Frauen Mitte zwanzig stupsen sich aufgeregt an. Die eine bittet darum, selbst eine Laterne zu entzünden. Sasa überreicht ihr den Stab. Entschlossen tritt sie näher heran, im Innern züngelt eine Flamme. Sie verschiebt den Regler, der die Zufuhr öffnet. Das Gas entzündet sich an der Flamme und fliesst in den Glühstrumpf – das typische warme Licht flackert auf und erhellt ihre Gesichter.

Die beiden Frauen kommen aus Bulgarien, es ist ihr erster Besuch in Zagreb. Sie sind begeistert: «Die Stadt ist durch und durch europäisch – und gleichzeitig so entspannt und friedlich.» Tatsächlich: Abseits des belebten Platzes kehrt sofort eine tiefe Ruhe ein. Sasa geht Schritt für Schritt, Laterne für Laterne seiner Arbeit nach. Manchmal hat der Wind die Anzündflamme gelöscht. Dann verlängert Sasa seinen Stab und lässt mit dem Feuerzeug einen Funken sprühen. Jede entzündete Laterne ist ein kleiner Erfolg.

Weichgezeichnetes Strassenbild

Strassenlampen gehören zum öffentlichen Stadtbild von Zagreb wie Hydranten, Kanaldeckel oder Parkbänke. Sie sind rein funktional, ihr Dasein erfüllt einen bestimmten Zweck. Städtereisende nehmen die derartige Ausstattung einer Stadt kaum wahr. Zagrebs Laternen sind da eine Ausnahme: Die skurrile Tätigkeit des Lampenanzünders lenkt den Blick auf sie. Sogar ihr warmes Licht wird zum unaufdringlichen Protagonisten. Es blendet nicht, wirft keinen Lichtkegel an die Mauern, erzeugt keine Silhouetten – und verzaubert gerade deshalb; ähnlich wie ein Bühnenbild. Der Lichtglanz zeichnet die Gebäude weich, ein Gefühl von Dimension und Tiefe entsteht. Das lässt viel Raum für Verborgenes: Auf dem Platz der St.-Markus-Kirche patrouillieren in der Nacht Angestellte eines Sicherheitsdienstes. Neben dem sakralen Bau steht eine Baracke, die die Männer für ihre Pause nutzen. Die Laterne direkt darüber bleibt auf ihre Bitte hin dunkel. So fallen die Securitas-Leute weniger auf – und sie können ungestört dösen.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Strassen und Gassen in Europas Städten mit schummrigen Öllaternen beleuchtet. Dann die Sensation: Am 1. April 1814 brachte ein Laternenanzünder in London die erste Gaslaterne zum Leuchten. Die öffentliche Gasbeleuchtung verbreitete sich rasch, denn ihre Vorzüge lagen auf der Hand: Gaslaternen leuchteten intensiver und verbreiteten keinen Gestank. In Prag beispielsweise schwärmten an die 120 Laternenanzünder aus, um die rund 7500 Gaslaternen in der ganzen Stadt zu entzünden. Heute existieren in ganz Europa nur noch in Zagreb und Breslau ständige Laternenanzünder.

«Nun kommen wir zu meinem Lieblingsort», verkündet Sasa. Der beschauliche Gric-Park schmiegt sich an den äussersten Rand der Oberstadt. Schmale Kieswege, ein Springbrunnen und Parkbänke – der ideale Ort, um sich kurz zurückzuziehen. Sasa hat dafür keine Zeit. Er schreitet von einer prunkvollen Laterne zur nächsten; ein junger Mann bleibt stehen und beobachtet ihn interessiert. An der Brüstung zeigt Sasa mit ausladender Handbewegung auf das Panorama. Die roten Ziegeldächer der Unterstadt leuchten im Abendlicht, darunter öffnet sich das Land in die Ebene.

Gaslampen als verstaubte Rarität

In der Schweiz war die Stadt Bern Vorreiterin der öffentlichen Gasbeleuchtung: Am 25. April 1843 liess sie die erste automatische Gaslaterne erstrahlen. Der technische Fortschritt gefiel nicht allen, wie der Historiker Andrej Abplanalp schreibt. Plötzlich musste man sich in Berns Lauben auch nachts grüssen. Auch aus theologischer Sicht geriet die öffentliche Beleuchtung mancherorts in Verruf: Sie wurde als Eingriff in die Ordnung Gottes angesehen. Heute sind Gaslaternen in europäischen Städten eine verstaubte Rarität, aber es gibt sie noch. Zum Beispiel in Berlin: In der deutschen Hauptstadt leuchten noch 23 000 Gaslaternen, die sich automatisch entzünden. Jährlich werden bloss 1500 bis 2000 Laternen vom Gasbetrieb auf Strom umgestellt.

Nach eineinhalb Stunden sind alle Laternen entzündet. Sasas Werk ist vollbracht. Er geht in die Cafébar, bestellt eine Tasse Kaffee, plaudert mit dem Mitarbeiter hinter dem Tresen.

Sasas grösster Stolz ist sein Sommerhäuschen im Süden. Dort kultiviert er Äpfel und Trauben. Er ist verheiratet, sein Sohn Mikael ist zehn Jahre alt. Manchmal entzünden sie die Laternen zu zweit. Er hofft, dass man Laternenanzünder auch in Zukunft noch braucht.

Temporär hat die Stadt den Rundgang bereits gekürzt: Wegen des hohen Gaspreises entzünden Sasa und Tomislav derzeit fünfzig Laternen weniger als üblich. Die Betreiberfirma steht unter Druck – der Vertrag mit der Stadt wird jedes Jahr neu ausgehandelt. Sasa verlässt die Altstadt durch das Steinerne Tor. Neben einem Bildnis der Mutter Gottes brennen Kerzen. Menschen sitzen auf Holzbänken und beten. Sasa schreitet durch den Rundbogen und bekreuzigt sich zweimal.

Sterbendes Licht am frühen Morgen

Der nächste Morgen ist hell und freundlich. Sasa wartet schon. Sonntags trägt er immer Uniform, unter der Woche nur bei besonderen Gelegenheiten. Er führt den Stab zum Regler, zieht ihn zu sich heran. Die Leitung zum Glühstrumpf wird unterbrochen – das Licht stirbt. Sasa vertraut den Hügel wieder dem natürlichen Licht an. Eine Katze schlüpft geschwind ins Gebüsch, als sie seine Schritte hört. Ein Priester in schwarzer Kutte eilt den Gehweg entlang. Die schmale Treppe in die Unterstadt ist etwas versteckt, hinter einem herunterhängenden Zweig blitzt ein Graffito hervor. Mitten auf den Stufen hält Sasa inne, legt den Kopf in den Nacken: Auch diese Laterne will gelöscht sein. Er durchquert den menschenleeren Opatovina-Park, vorbei am «Tolkien’s House» – der Geruch von abgestandenem Alkohol liegt noch in der Luft. Der Dolac-Markt ist bereits belebt. Ein Verkäufer entlädt Kisten mit Blumen, ein Strassenwischer säubert mit dem Reisigbesen den Platz. Und Sasa? Der grelle Morgen hat so manche Verstecke ans Licht gezerrt. Das ist der Lauf der Welt. Doch mit dem Löschen der Laternen besiegelt Sasa jene Geheimnisse, die die Nacht nicht preisgegeben hat. Seinen Kleinwagen hat er am Rand der Altstadt parkiert. Er setzt sich hinters Steuer, lässt den Motor an, hebt die Hand zum Abschied. Bereits heute Abend macht er die Stadt für die nächste Inszenierung bereit.

Diese Reportage wurde möglich dank der Unterstützung der Kroatischen Zentrale für Tourismus: https://croatia.hr/de-de.

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