In München hat ein sogenanntes Kapitalanleger-Musterverfahren begonnen. Es geht um Schadenersatzansprüche von Anlegern, die beim Zusammenbruch des Finanzdienstleisters Wirecard viel Geld verloren haben. Sie zielen vor allem auf EY.
In der ebenso komplexen und wie langwierigen juristischen Aufarbeitung des Jahrhundertskandals um den einstigen deutschen Zahlungsdienstleister und Börsen-Star Wirecard hat am Freitag ein weiteres wichtiges Kapitel begonnen: Das Bayerische Oberste Landesgericht in München hat die Verhandlung in einem sogenannten Kapitalanleger-Musterverfahren aufgenommen. Dabei geht es um die Frage, ob Anleger Schadenersatzansprüche aufgrund von falschen, irreführenden oder unterlassener Kapitalmarktinformationen haben.
Anleger zielen auf EY
Beklagte sind die Buchprüfungsgesellschaft Ernst & Young (EY), die während Jahren die Bilanzen von Wirecard geprüft hatte, einzelne Prüfer von EY, der ehemalige Wirecard-Chef und -Grossaktionär Markus Braun, weitere einstige Wirecard-Manager sowie der Wirecard-Insolvenzverwalter Michael Jaffé. Letzterer ist auf der Liste der Beklagten, weil sich die Kläger eine Chance auf Schadenersatz aus der Insolvenzmasse des Konzerns aufrechterhalten wollen.
Der damalige DAX-Konzern Wirecard meldete am 25. Juni 2020 Insolvenz an, nachdem 1,9 Milliarden Euro, die in den Büchern standen, nicht oder nicht mehr auffindbar waren. Der Zusammenbruch erregte riesiges Aufsehen und bescherte den Aktionären von Wirecard enorme Kursverluste. EY hatte während Jahren die Bilanzen von Wirecard geprüft und bestätigt. Erst im Juni 2020 verweigerten die Prüfer das Testat für den Jahresabschluss 2019, was den Zusammenbruch auslöste.
Im Mai 2022 hat das Landgericht München I in einem Zivilverfahren die Bilanzen der Wirecard AG der Jahre 2017 und 2018 nachträglich für nichtig erklärt und damit einer Klage des Insolvenzverwalters Jaffé stattgegeben.
Eine Vielzahl von Anlegern versucht derweil, auf zivilrechtlichem Weg Schadenersatz einzufordern. und reichte dazu Einzelklagen beim Landgericht München I ein. Im März 2022 leitete das Landgericht deshalb ein Kapitalanleger-Musterverfahren ein. In einem solchen Verfahren können Tatsachen- und Rechtsfragen, die sich in mindestens zehn individuellen Schadensersatzprozessen gleichlautend stellen, einheitlich und mit Bindungswirkung für alle Kläger entschieden werden.
Einer klagt für alle
Im Fall Wirecard gibt es nach Angaben des Gerichts knapp über 8500 Verfahren, die alle beim Landgericht München I hängig sind und Schadenersatzforderungen von insgesamt rund 750 Millionen Euro enthalten. Im März 2023 hat das Bayerische Oberste Landesgericht einen dieser Kläger, den Anleger Kurt Ebert, zum Musterkläger bestimmt. Er wird vertreten durch die Münchner Kanzlei Mattil und durch Rechtsanwalt Elmar Vitt. Letzterer ist Geschäftsführer der auf Prozessfinanzierung spezialisierten Firma Jurfin, die nach eigenen Angaben auch die Kosten für das Verfahren von Ebert und einer Anzahl weiterer Wirecard-Klagen trägt.
Ebert hat laut Jurfin lange hochrangige Berufserfahrung im Bereich Banken und Kapitalanlagen. Er habe «im Vertrauen auf die Testate der beklagten Ernst und Young Wirtschaftsprüfungs GmbH für die Wirecard AG erheblichen Schaden bei seinen Anlagen erlitten». Alle einzelnen Verfahren sind ausgesetzt worden, um die Klärung von Grundsatzfragen im Musterverfahren abzuwarten.
Rund 19 000 weitere Personen, die bisher keine individuellen Verfahren eingeleitet haben, haben ebenfalls Schadenersatzansprüche zum Kapitalanleger-Musterverfahren angemeldet. Damit wird die Verjährung unterbrochen und sie können je nach Ausgang zu einem späteren Zeitpunkt Ansprüche geltend machen. Zur Summe der möglichen Ansprüche dieser Gruppe gibt es keine Angaben.
Im – separaten – Wirecard-Insolvenzverfahren wiederum haben rund 50 000 Aktionäre Schadenersatzansprüche im Umfang von 8,5 Milliarden Euro angemeldet; wie viel davon auch im Musterverfahren geltend gemacht wird, lässt sich laut Gericht nicht feststellen.
Nur Grundsatzfragen
Im Musterverfahren werden nur Grundsatzfragen geklärt, nicht einzelne Schadenersatzansprüche. Es geht darum, ob falsche, irreführende oder ausbleibende Kapitalmarktinformationen, zum Beispiel in Jahresabschlüssen, Schadenersatzansprüche begründen. EY bezeichnete die auf sie bezogenen Schadenersatzklagen auf Anfrage als unbegründet. Braun wiederum hat sich im noch immer laufenden Wirecard-Strafprozess stets als unschuldiges Opfer dargestellt, der von anderen im Konzern hintergangen worden sei.
Umstritten ist schon die Frage, ob ein Bilanztestat überhaupt Gegenstand eines Kapitalanleger-Musterverfahrens sein kann. Nur wenn dies vom Gericht bejaht wird, hätten die Anleger Aussichten , Schadenersatz von EY oder einzelnen Prüfern zu erstreiten. Zudem käme es in einem nächsten Schritt darauf an, ob die Wirtschaftsprüfer fahrlässig oder vorsätzlich gehandelt haben; bei Fahrlässigkeit ist die Haftung beschränkt.
Ein Monsterverfahren
Die Kläger zielen vor allem auf EY, da bei Braun und den anderen Managern kaum noch Geld vorhanden sein dürfte. Allerdings wird das Musterverfahren selbst noch nicht zu Schadenersatz führen, sondern nur klären, ob und gegen wen Schadenersatzansprüche begründet sind. Auf dieser Basis müssten die Kläger die individuellen Verfahren wieder aufnehmen und ihre konkreten Anspräche einzeln geltend machen. Als Alternative wäre allerdings auch ein Vergleich möglich.
Es ist davon auszugehen, dass das Musterverfahren auch ein Monsterverfahren wird – in jeder Hinsicht. Weil wegen der vielen Beteiligten jeder Gerichtssaal zu klein wäre, hat das Gericht für das Verfahren die Wappenhalle, das ehemalige Empfangsgebäude des einstigen Flughafens München Riem, angemietet. Die Kanzlei Mattil hielt fest, das Musterverfahren werde «erfahrungsgemäss einige Jahre in Anspruch nehmen». Allein der von Mattil im Sommer 2023 als Grundlage für das Verfahren eingereichte Schriftsatz umfasste rund 800 Seiten.
Strafprozess läuft weiter
Unter den vielen Strängen der juristischen Aufarbeitung des Wirecards-Skandals zählt das Musterverfahren zu den wichtigsten. Der andere zentrale Strang ist ein Strafprozess, der Ende 2022 begonnen hat. Dort sind Markus Braun und zwei weitere ehemalige Wirecard-Manager angeklagt. Die Anklagen lauten auf gewerbsmässigen Bandenbetrug, Marktmanipulation, falsche Darstellungen in Geschäftsberichten und Untreue. Ein Ende des Prozesses ist noch immer nicht abzusehen.
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