Mittwoch, Oktober 9

Guyanas Wirtschaft wächst dank neu entdeckten Erdölfunden rasant. Beim Pro-Kopf-Einkommen hat der Kleinstaat Deutschland bereits überholt. Bei den Bürgern kommt das Geld allerdings nicht an.

Bis vor kurzem war Guyana eines der ärmsten Länder Südamerikas. Das Pro-Kopf-Einkommen des Karibikstaates war kaum höher als jenes in Bolivien oder Nicaragua. Das änderte sich 2015, als der Ölkonzern ExxonMobil vor der Küste riesige Ölvorkommen entdeckte. Vier Jahre später begann das Unternehmen mit der Ölförderung.

Rund 650 000 Barrel pro Tag fördert Guyana heute – fast so viel wie Venezuela, das Nachbarland mit den grössten Erdölreserven der Welt. Pro Kopf seiner nur 800 000 Einwohner verfügt Guyana heute über die höchsten Reserven der Welt. Schon bald wird Guyana nach Brasilien und Mexiko der drittwichtigste Erdölproduzent Lateinamerikas sein. Gerade hat Exxon die Lizenz für ein sechstes Förderfeld 150 Kilometer vor der Küste erhalten. In drei Jahren will der Konzern dann mit 1,3 Millionen Barrel pro Tag so viel Öl produzieren wie Katar heute.

Der Ölboom lässt die Wirtschaft rasant wachsen: Seit 2020 hat sich das Bruttoinlandprodukt Guyanas verdreifacht. Im vergangenen Jahr wuchs Guyana um 62 Prozent, in diesem Jahr werden es rund 30 Prozent sein. Und das Wachstumstempo soll weitergehen: Der Internationale Währungsfonds (IWF) rechnet damit, dass Guyana bis mindestens 2028 jährlich um durchschnittlich 20 Prozent wachsen wird.

Das Pro-Kopf-Einkommen wird so hoch wie in den USA sein

Seit 2022 fliessen Öleinnahmen in den Staatshaushalt. Dank diesen ist das Pro-Kopf-Einkommen des Karibikstaates heute höher als das Deutschlands.

In der Hauptstadt Georgetown ist vom neuen Reichtum noch nicht viel zu sehen: Wer Wolkenkratzer, Einkaufszentren und Luxusrestaurants wie in den Ölstaaten des Nahen Ostens erwartet, wird enttäuscht. Die 200 000 Einwohner der Hauptstadt haben den Ölboom bisher vor allem durch steigende Preise für Wohnen, Transport und Lebensmittel zu spüren bekommen. Die Inflationsrate ist mit 6,6 Prozent (2023) für das geringe Einkommen der meisten Menschen hoch.

In der Bevölkerung wächst die Ungeduld. In fast allen Gesprächen – sei es mit dem Taxifahrer, der Umweltaktivistin oder dem Ökonomieprofessor – heisst es irgendwann: Von den Öleinnahmen kommt kaum etwas bei den Menschen an. Es gebe zu wenig Arbeitsplätze, klagen viele. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 12 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit ist doppelt so hoch. Einwanderer aus Venezuela, Kuba und Brasilien verdrängen als billige Arbeitskräfte die Einheimischen.

An der Küste und entlang des Deltas des Essequibo-Flusses ist ein riesiges Öllieferzentrum entstanden. Das Interesse ausländischer Konzerne ist gross. In der Ölförderung, also im Upstream-Bereich, dominiert ExxonMobil mit seinem Konsortium aus Hess Corp. (USA) und Cnooc (China). Die gesamte Ölzulieferindustrie ist bereits im Land, darunter auch viele europäische Unternehmen.

Die Regierung will Guyana zum Katar Lateinamerikas machen

Wohin Guyana mit dem plötzlichen Reichtum steuert, ist noch offen: Die Partei des indischstämmigem Präsidenten Irfaan Ali hat gerade den Marxismus aus den Statuten gestrichen. Guayana soll nicht mehr planwirtschaftlich geführt werden. Das Ideal sei – so heisst es jetzt – eine «zentralisierte Demokratie». Ali schwebt vor, aus Guyana eine Kopie von Katar zu machen. Dafür rollt er Investoren den roten Teppich aus.

Die einfachen Menschen hingegen werden weniger umworben. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung Guyanas lebt im Ausland. Die besser Qualifizierten haben vor allem in Nordamerika Arbeit gefunden. Die Regierung versucht nun, Ärzte und Krankenschwestern aus Bangladesh anzuwerben, weil sie im Land fehlen. Jetzt rächt sich, dass Grossbritannien seit Jahren aktiv Krankenhauspersonal aus Guyana, aber auch aus der übrigen englischsprachigen Karibik abwirbt.

Negative Vorbilder dafür, wie es Guyana nicht machen sollte, hat die Regierung in der Nachbarschaft: Venezuela ist trotz grossen Ölreserven ein Land, aus dem die Bevölkerung seit zehn Jahren in Massen auswandert. Auch Trinidad und Tobago – eine Flugstunde entfernt – ist ein abschreckendes Beispiel. 100 Jahre lang wurden dort Öl und Gas gefördert. Jetzt gehen die Vorkommen zur Neige. Heute ist die Bevölkerung arm und einer brutalen Clan-Kriminalität ausgesetzt.

Die USA haben die reichste Unternehmerfamilie mit Sanktionen belegt

Vor wenigen Wochen haben die USA Sanktionen nach der Global Magnitsky Human Rights Accountability Act gegen den guyanischen Unternehmer Nazar Mohamed und seinen Sohn Azruddin verhängt. Das sei die härteste Stufe der Sanktionsmöglichkeiten aus Washington, erklärt ein Diplomat. Die USA werfen der reichsten Familie des Landes Korruption, Goldschmuggel im grossen Stil und Geldwäsche vor. Reich wurde die Familie als Zulieferer und Partner von ExxonMobil. Der Sohn Azruddin zeigt sich unbeeindruckt und präsentiert in den sozialen Netzwerken täglich seine neuesten Luxusautos.

Mike Singh von Transparency International in Georgetown sagt, dass Guyana sich zu einem Staat wie Angola entwickeln werde. Das Land ist der zweitgrösste Ölproduzent Afrikas. Doch dort sind wegen der hohen Korruption von den Öleinnahmen vor allem die Präsidentenfamilie und deren Günstlinge reich geworden. Die Bevölkerung dagegen ist arm geblieben. Guyana steht auf der Rangliste der Korruption von Transparency International auf Platz 87 von 180 Staaten weltweit. Angola schneidet deutlich schlechter ab mit Rang 121.

Der Internationale Währungsfonds erlaubt sich zu dem Thema Transparenz in seinem Länderbericht nur den dezenten Hinweis auf «Bedenken hinsichtlich der Regierungsführung». Sonst sehen die Experten aus Washington die Aussichten für Guyanas Wirtschaft sehr positiv «bei überschaubaren Risiken». Sie empfehlen der Regierung in Guyana «angesichts des schieren Umfangs der erwarteten Öltransfers und Steuerausgaben als politische Priorität die Vermeidung der «holländischen Krankheit».

Das ist ein ökonomisches Phänomen, welches die Niederlande in den 1960er Jahren erlebten, als dort grosse Erdgasvorkommen entdeckt wurden. Die Gasexporte führten zu einer Aufwertung des niederländischen Guldens, was die gesamte übrige Industrie belastete, da sie weder auf den Exportmärkten noch gegenüber Importen konkurrenzfähig blieb.

Doch nur wenige Länder waren bisher erfolgreich bei der Vermeidung der «holländischen Krankheit». Norwegen ist die grosse Ausnahme. Die Regierung Guyanas will das kopieren und hat einen Fonds aufgelegt, der sich aus den Öleinnahmen speist und sein Kapital im Ausland anlegen soll. So soll die Aufwertung der Landeswährung verhindert werden. Der Wirtschaftsprofessor Thomas Singh sagt: «Dieser Fonds ist nur gut, wenn er unabhängig ist und extern kontrolliert wird.» Doch die Regierung verfüge darüber, wie sie wolle.

Die Regierung hat keine Strategie

Der Journalist Anand Persaud, Chefredakteur der «Stabroek News», der wichtigsten Tageszeitung, kritisiert: Die Regierung gebe Geld für den Bau von Schulen und Krankenhäusern aus, für die es aber kein Personal gebe. Vor den Wahlen könnte die Regierung sogar zu Transferzahlungen in Form von Geldgeschenken greifen, um ihre Popularität zu steigern. Doch damit überhitze sie die Wirtschaft. «Niemand stellt die Frage, was mit unseren gigantischen Öleinnahmen mittel- und langfristig geschehen soll.» Der Chefredaktor fordert, dass die Regierung Geld ausgibt, um aus der Erdölabhängigkeit herauszukommen und die Risiken der «holländischen Krankheit» zu verringern.

Ein Vorbild wären die USA, die vor 150 Jahren mit ihren Öleinnahmen eine eigene Industrie, Dienstleistungen und Forschung aufbauten. Doch das ist nicht einfach, da die Wirtschaft Guyanas einerseits aus wenig produktiver Landwirtschaft (Reis, Zucker) besteht. Andererseits ist das Land ein wichtiger Produzent von Gold und Diamanten, die vor allem in kleinen Familienbetrieben abgebaut werden. Die grösste Industrieanlage ist eine veraltete Bauxitfabrik im Landesinneren, die von Chinesen betrieben wird.

Wie wird Guyana wohl in zehn Jahren aussehen? Der Journalist Persaud ist skeptisch, ob Guyana ein Katar Lateinamerikas werden kann. Er erwartet einen chaotischen Bauboom. Dagegen werde wenig in Bildung oder humanitäre Entwicklung investiert. «Wenn der Ölreichtum versiegt, werden die Menschen immer noch keine Arbeit haben. Stattdessen wird eine neue Unterschicht entstanden sein.»

Mark Kirton, Professor für internationale Beziehungen, sieht das Risiko für die Entwicklung Guyanas auch woanders. Die absehbaren Erdöleinnahmen haben das Interesse im Nachbarland geweckt. Venezuelas Machthaber Nicolás Maduro hat einen alten Grenzkonflikt wieder neu belebt. Venezuela beansprucht zwei Drittel des Territoriums Guyanas für sich – und damit auch die Ölvorkommen vor der Küste. Das Regime hat die Provinz Essequibo zu einem venezolanischen Bundesstaat erklärt. Es will dort Pässe für die Bevölkerung ausstellen und Erdölizenzen versteigern.

Für das autoritäre Regime in Venezuela wird die Aggression gegen Guyana immer ein Instrument sein, um von der eigenen Krise abzulenken. «Das werden Investoren als Risiko sehen und könnte sie abschrecken», befürchtet Kirton. Um sich zu schützen, müsse Guyana neue Verbündete in der Welt suchen. Sonst könnte der Ölboom gefährdet sein.

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