Montag, Dezember 23

Das Interessanteste an Putins jährlicher Ansprache an sein Volk ist nicht, was er sagt, sondern das, was er verschweigt.

Gewohnheitsmässig fasste der russische Präsident Wladimir Putin am 19. Dezember die «Ergebnisse des Jahres» in der auf ihn zugeschnittenen Sendung «Direkter Draht» zusammen. Es lohnt sich, diese Selbstdarstellung mit den tatsächlichen Ergebnissen von Putins Politik abzugleichen.

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Putin versicherte, was er immer tut, dass mit der Wirtschaft im Land alles in Ordnung sei. Und warum steigen die Preise? Weil die Russen viel essen, 80 Kilogramm Fleisch pro Person und Jahr, während der Rest der Welt es nur auf 42 Kilo bringe. Da kommt der Krieg offensichtlich gerade recht, um Langeweile und Stagnation den Garaus zu machen. «Wenn alles ruhig und stabil ist, sind wir gelangweilt und brauchen Bewegung», hatte das Staatsoberhaupt eingangs erklärt.

Hingegen sagte er nicht, dass es keinen Platz gibt, um gefallene Soldaten zu begraben, und dass die Leichen monatelang an der Front liegen, zum Teil in Schützengräben, in denen die noch Lebenden stehend auf den eigenen Toten gegen die Ukrainer kämpfen.

Es gebe in Russland, so Putin, auch keine Arbeitslosigkeit, und die Bevölkerung beginne wieder mehr zu verdienen. Dass 11,8 Millionen Menschen ein Einkommen unterhalb des Existenzminimums haben und jede fünfte Familie mit Kindern nur für Lebensmittel ausreichend Geld hat und für nichts sonst: Davon sprach Putin nicht.

Kräftiger Vormarsch an der Front

Zugleich versprach der Präsident, alles wiederherzustellen, was er in der Ukraine zerstört und besetzt hat, es werde auch eine Strasse um das gesamte Asowsche Meer gebaut. Hingegen hat er nicht versprochen, in Russland etwas zu bauen oder irgendetwas wiederherzustellen. Übrigens erhalten die Bewohner des von der Ukraine besetzten Bezirks Sudscha keine Bescheinigungen für neue Wohnungen, da mehr als 150 000 Menschen in der Region evakuiert wurden und die Erteilung einer solchen Zahl von Bescheinigungen «eine erhebliche Abwanderung der Erwerbsbevölkerung aus dem Gebiet Kursk» zur Folge hätte, wie örtliche Behörden sagten.

Wladimir Putin lobte erneut ein unbezwingbares Raketensystem namens Oreschnik, im Russischen der Haselstrauch. Er ist davon so begeistert, dass es wünschenswert wäre, eine Rakete zu ihm nach Hause zu liefern, damit er sie dort in Ruhe bewundern kann.

Er erwähnte auch, dass es einen kräftigen Vormarsch an der Frontlinie gebe und Russland «jeden Tag mehrere Quadratkilometer an Territorium einnimmt». Der Präsident hat auch versprochen, dass Russland die Region Kursk zurückbringen wird, aber er hat nicht gesagt, wann und an wen.

Natürlich ist auch dieses Jahr das wichtigste Thema die Geburtenrate, was überaus verständlich ist, wenn der Präsident so hart an der erhöhten Sterblichkeitsrate der Bevölkerung arbeitet. Die Unterstützungsmassnahmen für das Kinderkriegen seien nach wie vor unzureichend, meinte Putin, und die Regionalchefs sollten sich von morgens bis abends mit dieser Frage beschäftigen.

Bereits früher im Jahr riet die Staatsduma den Frauen des Landes, vor dem 18. Lebensjahr ein Kind zu gebären, und erklärte, dass Kondome «das Übel der neunziger Jahre» seien, dass hormonelle Verhütung schlimmer sei als Abtreibung und dass Abtreibung verboten werden sollte. Im Föderationsrat wurde vorgeschlagen, Schülerinnen, die ein Kind zur Welt gebracht haben, bei der Aufnahme eines Studiums die maximale Zahl von Zusatzpunkten zu geben.

Um die Geburtenrate zu erhöhen, werden Moskauer Frauen zu Fruchtbarkeitstests angehalten. Frauen, die in öffentlichen Einrichtungen in der Region Moskau arbeiten, werden gezwungen, einen Fragebogen mit Informationen über ihr Sexualverhalten, ihre Menstruation und die Zahl der Kinder, die sie zu bekommen gedenken, auszufüllen. Diejenigen, die den Fragebogen nicht vollständig ausfüllen, müssen sich «persönlich mit Ärzten treffen und die gleichen Fragen freiwillig-gezwungen beantworten».

Inzwischen werden in Russland systematisch Entbindungskliniken geschlossen und an ihrer Stelle Krankenhäuser für Kriegsveteranen eröffnet. Für die Instandsetzung von Kindergärten und Schulen ist kein Geld vorhanden. So sind 37 Prozent der Schulen stark reparaturbedürftig, und 50 Prozent entsprechen nicht den Brandschutznormen.

All die Sorge der Politiker um die Menschen hat dazu geführt, dass Russland in der Weltrangliste der Lebensdauer auf Platz 108 liegt, gleichauf mit Rwanda und Samoa. Ende 2024 wird der Bevölkerungsverlust die Zahl von 600 000 Menschen erreichen.

Merkblätter für Ehefrauen

Vermutlich schreckt auch der von Putin nicht erwähnte Anstieg der häuslichen Gewalt vom Kinderkriegen ab. Nach einem Bericht der russischen Non-Profit-Organisation Nasiliju.net («Keine Gewalt») wird alle zehn Minuten ein Gewaltverbrechen in einer russischen Familie begangen. Die Hauptopfer sind die Ehefrauen der Angreifer, an zweiter Stelle stehen andere weibliche Verwandte, Kinder leiden unabhängig vom Geschlecht gleichermassen.

Um zu verhindern, dass die Zahl der getöteten Frauen mit der Ankunft der Männer aus dem Krieg noch schneller steigt, wurde damit begonnen, Merkblätter zu verteilen, in denen die Ehefrauen der Kämpfer darüber informiert werden, wie sie sich ihren Männern gegenüber verhalten sollen, wenn diese von der Front zurückkehren. Ihnen wurde geraten, keine Kritik zu üben, sich nicht daran zu stören, wenn die Männer in Kleidern und Schuhen schlafen, sowie empfohlen, die Änderung der sexuellen Vorlieben der Heimkehrer zu akzeptieren. Den anderen wurden keine Merkblätter ausgehändigt – sie sollen überleben, wie sie wollen.

In Bezug auf die medizinische Versorgung merkte Putin an, dass die Situation in anderen Ländern noch schlimmer sei. Er verschwieg, dass es in Russland einen Mangel an Medikamenten gibt, auch an lebenswichtigen. Dass russische Generika viel schlechter sind und schwere Nebenwirkungen haben, dass es einen Mangel an CT-, MRT-, Ultraschall- und Beatmungsgeräten gibt und dass es aufgrund der westlichen Sanktionen unmöglich geworden ist, Ersatzteile für die vorhandenen Geräte zu kaufen.

Mittlerweile sprach der russische Präsident über Verhandlungen mit der Ukraine, auch wenn er nicht mit Selenski verhandle, da der Präsident der Ukraine illegitim sei – schliesslich hat er nicht die Verfassung für sich umgeschrieben, und es gibt keine Bestimmung, die die Befugnisse des Präsidenten im Kriegsfall erweitert. Bei Putin selbst ist das eine andere Sache – er hat alles umgeschrieben und ist jetzt der legitimste Präsident der Welt.

Er erzählte auch, wie Verwundete darum bäten, in die Schlacht zurückzukehren, was auch verständlich ist, denn nächstes Jahr wird ein Gesetz in Kraft treten, das Menschen mit Behinderungen das Recht auf eine Entschädigung für den Kauf von technischen Rehabilitationsmitteln – Rollstühlen, Prothesen und anderen Hilfsmitteln – aberkennt. Ganz abgesehen davon, dass es zu Hause ohnehin verflucht langweilig ist.

Putin vergass auch nicht zu erwähnen, dass er herzliche Beziehungen zu den Führern Chinas und Indiens pflege. Aus irgendeinem Grund vergass er jedoch Nordkorea. Und er fügte hinzu, er stehe in ständigem Kontakt mit dem türkischen Präsidenten Erdogan, könne sich aber nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal mit ihm gesprochen habe.

Teure Propaganda

Nach vier Stunden Plauderei erinnerte er sich plötzlich daran, dass «Schweigen Gold ist», erzählte ein paar vulgäre, unlustige Witze und sagte, dass er weniger scherzhaft geworden sei und fast ganz aufgehört habe zu lachen. Doch er würde seine Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, nicht – nein: nie ändern, er bedaure nur, dass er nicht früher angegriffen habe.

Ganz nebenbei wurde auch das grösste Unglück Russlands aufgedeckt – Pornografie im Internet. Dazu erklärte der Präsident, dass Pornos auf der ganzen Welt gesehen würden und «wir» deshalb «eine Alternative anbieten müssen!». Womöglich ist das der Grund, warum der «Direkte Draht» mit Putin in sämtlichen russischen Schulen und den Schulen in den besetzten Gebieten, in Kindergärten, Krankenhäusern, Internaten und anderen öffentlichen Einrichtungen ausgestrahlt wurde.

Es ist schade, dass die Schulen nicht darauf hinweisen konnten, dass der Propagandaunterricht bereits 12 Prozent des Lehrplans einnimmt, dass Fragen über die «SWO», wie die sogenannte «Spezielle Militäroperation» verschämt abgekürzt wird, sogar in die einheitlichen Abschlussprüfungen eingehen. Und dass die 91 Milliarden Rubel, die während der bald drei Kriegsjahre für die «patriotische Erziehung» ausgegeben wurden, für den Bau von sechzig neuen supermodernen Schulen hätten verwendet werden können. Eine solche Schule mit allen notwendigen Ausrüstungen, modernen Apparaturen, einer geräumigen Turnhalle und hellen Klassenzimmern kostet den Haushalt etwa 1,5 Milliarden Rubel. Vom Schaden, den die heutige Propaganda für die Qualität der Bildung anrichtet, ganz zu schweigen, er ist ungleich teurer.

Die neue Strategie für die kulturelle Entwicklung in den nächsten Jahren sieht die vollständige Unterordnung der Kultur unter den Staat vor. Der Kreml will Schriftsteller und Regisseure dazu zwingen, den Ukraine-Krieg zum Hauptthema ihrer Arbeit zu machen, und es wird geplant, Schriftsteller als «literarische Fallschirmjäger» an die Front zu schicken. Vor diesem Hintergrund werden aktiv «SWO-Museen», «Z»-Installationen und «Patriotische Ecken» geschaffen. Das Kulturministerium ist für die Einrichtung solcher «Museen» zuständig.

Daher ist alles wie immer: Youtube wird blockiert, ein souveränes nur russisches Internet getestet, künstliche Intelligenz mit traditionellen Werten geschaffen. Die Strafverfolgungsbehörden stecken in der Krise – dem Land fehlen mehr als 150 000 Beamte. Seit Anfang 2024 hat die Zahl der schweren und der besonders schweren Straftaten ein 13-Jahres-Hoch erreicht. Die Zahl der organisierten kriminellen Gruppen nimmt zu, ebenso wie der illegale Waffenhandel.

Politisch Verfolgte

Neue repressive Gesetze werden eingeführt – auf legislativer Ebene haben die Abgeordneten die Beschlagnahmung des Eigentums von Personen, die wegen politischer Artikel strafrechtlich verfolgt werden, erlaubt, die Rechtsvorschriften über «unerwünschte» Organisationen und «Extremisten» erweitert und neue diskriminierende Massnahmen gegen «ausländische Agenten» eingeführt.

Nach Angaben des russischen nichtstaatlichen Menschenrechtsmedienprojekts OVD-Info werden bis Ende 2024 in Russland 2976 Personen aus politischen Gründen strafrechtlich verfolgt, von denen 1407 inhaftiert sind. Dieses Jahr wurden 620 politisch motivierte Strafverfahren eingeleitet. Die Zahl der Freiheitsentzüge stieg um 25 Prozent. Neun Personen, die in politisch motivierte Straftaten verwickelt waren, starben in Haft oder an den Folgen der Haft. 22 Menschenrechtsverteidiger waren in politisch motivierte Strafverfahren verwickelt, 62 Blogger und Journalisten sind inhaftiert.

Anwälten wurde der Zugang zu ihren Mandanten verweigert, sie wurden durchsucht, unter Druck gesetzt und in ihrer Arbeit anderweitig behindert. 195 Organisationen wurden auf die Liste der «unerwünschten» und 150 Vereinigungen und Bürger auf die Liste der «ausländischen Agenten» gesetzt. Unter anderem wurden 95 Minderjährige in das Register der Terroristen und Extremisten aufgenommen. Die meisten von ihnen wurden zu Realstrafen verurteilt.

Aber keine Sorge – das neue Jahr steht vor der Tür. «General Frost» erwartet die Kinder im Museum auf dem Poklonnaja-Hügel in Moskau; in der Region Kemerowo erleben die Vorschulkinder ein «Neujahr an der Front». In Sewastopol werden die Kinder «mit dem Partisanen-Weihnachtsmann» ins Jahr 1941 geschickt.

Enttäuschend ist nur, dass die Preise für Särge seit Beginn des Krieges um 74 Prozent gestiegen sind. Aber auch dafür gibt es – sicher, ganz sicher – «eine Alternative».

Irina Rastorgujewa wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk in Russland geboren und lebt als freie Autorin in Berlin. Zuletzt erschien bei Matthes & Seitz ihr Buch «Pop-up-Propaganda. Epikrise der russischen Selbstvergiftung».

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