Freitag, Oktober 18

Der russische Autor Wladimir Sorokin hat das Zerstörungspotenzial des Putinismus früh erkannt, und doch fühlt er sich schuldig. Gespräch über ein unberechenbares Land, das ein Eldorado für Schriftsteller ist.

Wladimir Sorokin, 68, ist der bedeutendste russische Schriftsteller der Gegenwart – und es wäre erstaunlich, wenn seine Bücher nicht auch in einer fernen Zukunft gelesen würden. Sein berühmtester Roman, «Der Tag des Opritschniks», hat den Status einer literarischen Prophezeiung erlangt. Sorokin verbindet darin die Welt von Iwan dem Schrecklichen mit dem Putinismus zu einer düsteren Zukunftsvision: Russland unter der Willkürherrschaft einer Geheimpolizei, an deren Spitze der allmächtige «Gossudar» steht. Das Buch, das Sorokin 2006 veröffentlicht hat, spielt im Jahr 2027.

Der Autor hat den Putinismus entlarvt, bevor er sich richtig entfaltet hat. Aber noch etwas Merkwürdiges ist passiert: Der russische Machtapparat fühlte sich erkannt und identifizierte sich mit dem Roman, ungeachtet oder gerade wegen der Schilderung von ungehemmter Gewalt und Sadismus. Es sei «wie das Handbuch des Kremls» geworden, sagt Sorokin.

Die Literatur wurde zur Vorlage der Wirklichkeit. Aber die russische Wirklichkeit ist auch die Bedingung für Sorokins Werk. Was wäre gewesen, wenn er in der Schweiz geboren wäre, fragte sich Sorokin in einem russischen Interview von 2010. «Ich hätte etwas erfinden, Kriminalchroniken lesen und harte Drogen nehmen müssen. In Russland genügt es, auf die Strasse zu gehen, um in die metaphysischen Abgründe einzutauchen.»

In einem Essay für den «Spiegel» schrieb er über die russischen Künstler: «Sie alle sind irrational und letztlich nicht zu verstehen. Darum sind sie das Andere, das die westliche Kultur fasziniert und interessiert.» Es ist auch eine Selbstbeschreibung.

Berlin-Charlottenburg, früher Nachmittag. Wladimir Sorokin öffnet die Tür, die Füsse stecken in Hausschuhen. Fast warnend verkündet er, dass er sehr langsam spreche. Während des Interviews drücken seine alterslosen Hände an einem Massageball herum.

Herr Sorokin, als wir diesen Termin vereinbart haben, haben Sie nicht einen Tag vorgeschlagen, sondern eine Zeit: 13 Uhr. Warum ist das eine gute Zeit zum Sprechen?

Nun, ich arbeite normalerweise nur von halb zehn bis halb eins. Danach kann man reden.

Wir befinden uns in Ihrer Wohnung. Ist Berlin ein Exil, oder sind Sie freiwillig hier?

Ich mag das Wort Emigrant nicht. Emigration ist eine radikale Sache, und sie ist meist erzwungen. Jetzt gibt es keinen Eisernen Vorhang, die Grenze zu Russland ist offen, ich kann jederzeit dorthin gehen, und man wird mich hineinlassen. Ich betrachte mich also nicht als Emigrant. Es gibt natürlich viele Russen, die strafrechtlich verfolgt werden, aber ich noch nicht.

Aber auch Sie wurden vom Staat drangsaliert. Die Putin-Jugend hat Ihre Bücher bei einer Aktion in Moskau in eine riesige Toilette aus Pappmaché geworfen.

In eine gigantische!

Gigantische, Entschuldigung.

In der Toilette wurden Hunderte von Büchern zerrissen. Das war 2002, nachdem der Komponist Leonid Desjatnikow und ich einen Vertrag mit dem Bolschoi-Theater für die Oper «Rosenthals Kinder» unterzeichnet hatten. Das war die Reaktion dieser Pro-Putin-Bewegung. Ihre Toiletten-Performance wurde mit Musik aus «Eugen Onegin» begleitet, um irgendwie zu unterstreichen: «Haut ab aus dem Bolschoi-Theater.»

Sie lachen jetzt. Haben Sie die Aktion nicht auch als Drohung verstanden?

Am Anfang war es lustig. Es war, als ob ich mich in einer meiner eigenen Geschichten befinden würde. Aber dann wurde sofort ein Strafverfahren gegen mich wegen Verbreitung von Pornografie eingeleitet. Das dauerte acht Monate, während deren ich mich geweigert habe, auszusagen. Und dann war Russland Gastland bei der Frankfurter Buchmesse 2003. Plötzlich wurde mein Fall ad acta gelegt.

Sie haben in einem Gespräch mit dem «Spiegel» gesagt, es sei schon immer gefährlich gewesen, ein russischer Schriftsteller zu sein, alle Klassiker seien im Konflikt mit der Obrigkeit gewesen.

Ja, in der Sowjetzeit wurden sie physisch vernichtet, heute wird das Schreiben vernichtet. Aber nicht nur. Schriftsteller werden verhaftet und mit abenteuerlichen Begründungen ins Gefängnis gesteckt. Die Bücher verschiedener Autoren sind aus den Bibliotheken und aus dem Verkauf genommen worden. Ich selbst stehe auf einer Liste von über 200 Autoren, die wegen LGBT-Propaganda vom Markt genommen wurden. Oscar Wilde, Stefan Zweig und Fjodor Dostojewski sind auch auf dieser Liste. Es ist grotesk.

Sie beschreiben Russland als Bären, der in einer Höhle vermodert und fürchterlich stinkt, oder als Zombie. Ist Russland so verrückt, dass man es nur noch als Groteske beschreiben kann?

Ja. In Russland gibt es eine Superkonzentration von Groteske und Paranoia. Und das kann man nicht in linearer Prosa beschreiben, es braucht einen Super-Gogol.

In Ihrer Literatur findet eine permanente Auseinandersetzung mit Putin und dem gegenwärtigen Russland statt. Das heisst, das System ist auch ein Katalysator für grossartige Literatur. Wie gehen Sie damit um, dass die Gewalt Kreativität freisetzt?

Russland war für Schriftsteller schon immer ein Eldorado. Vielleicht ist die Schweiz eine Art Gegenpol: Alles ist ruhig, stabil, voraussehbar. Das Leben läuft nach einem demokratischen Szenario ab, das Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauert. Russland ist ganz anders, es ist ein Land der absoluten Unberechenbarkeit. Hin und wieder gibt es sanftere Zeiten, aber oft ist es dunkel und hart wie jetzt. Die Demokraten haben in den 1990er Jahren den Leichnam der Sowjetunion nicht vergraben. Diese Leiche – und damit der Totalitarismus – ist zum Leben erwacht und erschreckt als ein Zombie die Russen und die ganze Welt.

Sie sagen, in Russland könne man die Dinge nicht vorhersehen. Gleichzeitig unternehmen Sie diesen Versuch in der Literatur immer wieder.

Wer die Wahrheit finden will, braucht ein Teleskop, um in die Zukunft zu sehen – und eines für die Vergangenheit.

Die Vergangenheit kann man studieren. Wie entwickeln Sie aber den Sinn für die Zukunft? Ihr Roman «Der Tag des Opritschniks» von 2006 wird von der Literaturkritik fast wie eine Prophezeiung behandelt: Sie hätten den Schrecken des Putin-Regimes vorweggenommen.

Das sagen nun viele. Als der Roman herauskam, meinten die meisten hingegen, das sei nur meine Phantasie. In einer deutschen Zeitung schrieb ein Journalist, der Roman sei wohl im Zustand eines schweren Katers geschrieben worden. Als die Jahre allmählich vergingen, kamen immer mehr russische Stimmen, die sagten: Eigentlich entwickelt sich unser Leben immer mehr wie in diesem Buch. Russland schottet sich ab, Zensur und Gewalt nehmen zu, die Geheimpolizei durchdringt die Macht. Als Schriftsteller bin ich glücklich, aber als russischer Bürger bin ich traurig.

Glauben Sie, dass Sie ein spezielles Sensorium für die Zukunft haben?

Ich nicht, nein. Manchmal kommt es vor, dass man etwas errät, aber es geschieht alles unbewusst. Ich glaube, dass jeder Schriftsteller, wenn er nicht nur für Geld schreibt, eine Art innere Antenne hat. Aber sie wird nicht von ihm kontrolliert. Manchmal kann sie einige Vibrationen aus der Zukunft empfangen. Das ist ein völlig mysteriöser Prozess.

Was passiert dann?

Das Verrückte ist, dass die Dinge nicht unbedingt da auftreten, wo sie der Schriftsteller verortet. Orwell hat in «1984» über Engsoz, ein zukünftiges Regime in England, geschrieben. Aber diese Vorstellung wurde nicht in England realisiert, sondern anderswo. Ich würde sagen, dass das, was jetzt in Russland passiert, nicht wie der «Tag des Opritschniks» ist, sondern wie «1984».

«Der Tag des Opritschniks» beginnt damit, dass Mitarbeiter einer Geheimpolizei das Haus eines Oligarchen anzünden und seine Frau brutal vergewaltigen. Die «Opritschniki» feiern auch homosexuelle Orgien und nehmen Drogen, trotzdem ist gerade dieses Buch bei Kreml-Mitarbeitern auf grosse Zustimmung gestossen. Wie erklären Sie sich dieses bizarre Phänomen?

Ich habe dieses Buch aus der Perspektive eines Opritschniks geschrieben, und ich habe mich beim Schreiben tatsächlich mit ihm identifiziert, wie ich mich mit jeder meiner Hauptfiguren identifiziere. Oft wurde ich dafür kritisiert, dass ich mich als Erzähler nicht gegen meinen Protagonisten gestellt habe. Aber das geht nicht. Wenn der Autor die Hauptfigur hasst, wird er sie nie beschreiben können. Ich muss meiner Hauptfigur gegenüber tolerant sein und ihr alle Freiheiten lassen.

Und doch, was ist Ihre Erklärung für diese Identifikation im Kreml?

Es ist rätselhaft und auch nicht. Ich habe vor etwa zehn Jahren von Leuten, die mit der russischen Elite in Kontakt sind, gehört, dass es diese Identifizierung gibt. Und dass die Kreml-Leute die Ironie dieses Buches überhaupt nicht verstanden haben. Für mich zeigt dies nur eines: dass die Menschen an der Spitze Russlands absolut unmoralisch sind.

Nach der russischen Invasion in der Ukraine schienen Sie optimistisch, schrieben von einem «Albtraum von Putin». – Jetzt sieht es allerdings eher so aus, als seien die Russen der Albtraum der Ukraine. Sind Sie immer noch hoffnungsvoll, dass der Krieg das Ende des Putin-Regimes besiegeln könnte?

Ich habe keinen Optimismus. Klar ist, der Krieg hat sich in die Länge gezogen, allerdings hat Putin auch nicht gewonnen. Er wollte Kiew in einer Woche erobern, das hat nicht geklappt. Aber ich habe eine Vorahnung, dass dieser Krieg noch in diesem Jahr zu Ende geht.

Wieso glauben Sie das?

In Tat und Wahrheit sind in Russland alle kriegsmüde: die Politiker, die Menschen, die Militärs und auch die Business-Eliten. Die Front verändert sich seit langem nicht mehr radikal, es tritt eine Dead-End-Situation ein. Aber ich könnte natürlich auch falsch liegen.

Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie vom Tod von Alexei Nawalny gehört haben?

Er ist ein echter Held unserer Zeit. Ich glaube, Nawalny hat ein bewusstes Opfer gebracht. Er hat sich engagiert und beschlossen, sich selbst als Lackmustest dafür zu benutzen, wozu die russische Gesellschaft fähig ist. Er hat gezeigt, dass diese Gesellschaft ziemlich schwach ist. Sein Beispiel hat die übergrosse Mehrheit der Russen nicht mitgerissen.

Was bleibt von diesem Test?

Die Auswirkungen dieses Opfers werden sich mit der Zeit bemerkbar machen. Und Nawalnys Bild wird die Menschen beeinflussen. Aber Ereignisse zeigen oft erst verzögert eine Wirkung. Es ist, wie wenn ein Stern explodiert und verschwindet, aber die Protuberanzen gehen in verschiedene Richtungen.

Sie sehen die Schuld, dass Putin an der Macht ist, auch als russische Kollektivschuld. Was bedeutet dies für den einzelnen Russen?

Das ist ein grosses Thema. Tatsache ist, dass die russische Gesellschaft heute atomisiert ist. Die Machtpyramide hat sich seit dem 16. Jahrhundert nicht grundlegend verändert: Es gibt einen Herrscher an der Spitze, dann den Sicherheitsapparat, die Elite weiter unten und das Volk ganz unten. In der Zeit der siebzigjährigen Sowjetmacht wurden eigenständig denkende und unabhängige Menschen gezielt vernichtet. Darauf folgte eine kurze Periode mit einem wilden Kapitalismus, der Versuch von Demokratie. Danach kamen Leute vom KGB an die Macht, und sie haben diese mittelalterliche Pyramide wiederhergestellt, um eine verängstigte und über Jahrzehnte terrorisierte Bevölkerung wieder zu unterwerfen. Was können wir von dieser Gesellschaft erwarten? Sie erinnert mich an einen furchtbar vergewaltigten Menschen. Es ist noch zu früh, von diesen Leuten etwas zu erwarten. Sie müssen erst einmal aufhören, nur eine Bevölkerung zu sein, und eine Gesellschaft werden.

Wie gehen Sie mit dieser Schuld um?

Ich fühle mich schuldig, weil ich zu hoffnungsvoll war. Ich habe geglaubt, dass Russland in die westliche zivilisierte Welt segeln und ein normales demokratisches Land werden würde. Dabei gab es klare Anzeichen dafür, dass das nicht passieren würde. Und diese Schuld begleitet mich. Aber ich hoffe trotzdem, dass ich die Zeit erleben werde, in der sich die Dunkelheit des Totalitarismus auflösen wird. Mich erinnert das heutige Russland auch an die düsteren 1980er Jahre, als Juri Andropow Chef des KGB war. Damals habe ich meinen Roman «Die Schlange» in Paris veröffentlicht, obschon ich wusste, dass ich dafür im Gefängnis landen könnte. Mir wurde klar, dass ein russischer Schriftsteller zwei Möglichkeiten hat: zu schreiben oder Angst zu haben.

Haben Sie keine Angst?

Jetzt?

Generell.

Ich habe viele Ängste. Wie jeder normale Mensch.

Sie schreiben viel über Sex. In Ihrem neuen Buch, «Doktor Garin», hat der Protagonist sogar Sex mit einer riesigen Matrjoschka. Warum ist Ihnen die explizite Schilderung von Sex so wichtig?

Tod und Sexualität sind zwei Elefanten, auf denen die Welt ruht. Das ist nicht meine Entdeckung.

Aber Sie haben Spass daran.

Ja, ja, natürlich. Ich habe diesen Roman im Jahr der Pandemie geschrieben, in unserem Landhaus in Moskau, 2020. Er war mein Medikament gegen die Pandemie.

Wir haben nun viel über dunkle Aspekte geredet. Was ist das gute Russland?

Schwer zu sagen. Positiv wäre es, wenn sich Russland von dem Druck der Vergangenheit befreien würde. Unsere Vergangenheit schleicht sich an uns alle heran wie ein riesiger Gletscher: das Mittelalter und die Sowjetzeit. Dieser Gletscher drückt. Wir müssen uns von der dunklen Vergangenheit befreien.

Was ist mit der russischen Kultur?

Ja, die Kultur ist vielleicht das Gegengewicht. Nabokov hat gesagt: «In einem Land mit einer brutalen Polizei und einem monarchischen Regime wurde eine einzigartige Kultur geboren.» Es stimmt, es ist eine wunderschöne Kultur. Sie ist unser Reichtum, sie inspiriert uns, und sie ist Teil der Weltkultur. Wenn ich unsere grossen bärtigen Schriftsteller – Tolstoi, Dostojewski, Tschechow – hinter mir habe, fällt mir die Arbeit leicht.

Rezension des neusten Sorokin-Buches: Gogol auf Drogen

ben. Der jüngste Roman von Wladimir Sorokin, «Doktor Garin», strotzt vor Übermut. Wir sind im Jahr 2050: Im Sanatorium Altai-Zedern behandelt der Arzt Platon Iljitsch Garin, bekannt aus Sorokins Roman «Der Schneesturm», acht besondere Patienten. Sie heissen unter anderem Angela, Silvio, Donald und Wladimir. Es sind zwar Politikrentner, aber doch keine richtigen Menschen, sondern Arschgesichter – bestehend aus Gesicht, Hintern und Ohren.

Zu den Beschäftigungen der Patienten gehören Furzwettkämpfe, und die hauptsächliche Behandlungsmethode von Doktor Garin sind wohlige Stromschläge auf den Hintern, von denen Angela und Co. nicht genug kriegen können. Ausgeführt werden sie mit einem schwarzen Stock namens Blackjack. Fast idyllisch geht es zu und her, bis das Sanatorium von einer kasachischen Atombombe zerstört wird und sich Doktor Garin auf eine Odyssee durch Zentralasien begeben muss. Seine angeschlagenen Schützlinge verliert er auf der Reise. Donald, Wladimir und Silvio bleiben im russischen Bernaul: Sie entscheiden sich, permanent als Zirkusclowns aufzutreten.

Doktor Garin landet in einem von Orks geführten Straflager, in dem er Holzstücke in Form von Smartphones anfertigen muss. Der Sinn dieser Tätigkeit bleibt ihm lange verborgen, bis zum Tag, an dem die Orks aus all den Holzteilen eine riesige Axt errichten, um sie während einer kolossalen Sexorgie zu verbrennen.

Überhaupt gibt es ziemlich viel Sex: Der ohnehin erotisch geprüfte Doktor Garin darf weitere Erfahrungen sammeln, etwa mit einer riesenhaften Matrjoschka und einer Albino-Orkfrau, die ihm schliesslich zur Flucht verhilft.

Höherer Schwachsinn oder Wahnsinn? Der Roman ist wild und virtuos, bestimmt nichts für Freunde eines strengen Realismus. Eher Gogol auf Drogen, eine russische Hypergroteske. Die Anklänge an Rabelais’ «Gargantua und Pantagruel» aus dem 16. Jahrhundert sind offensichtlich. Für Platon Iljitsch Garin gibt es ein Happy End. Der Doktor muss weiterleben, denn Sorokin hat für ihn schon die nächste Mission parat. Der dritte Teil der Garin-Trilogie ist bereits geschrieben.

Der Corona-Eskapismus ist in «Doktor Garin» spürbar. Das Leben lag still, es blühte die Phantasie – zumindest bei Wladimir Sorokin. Allerdings hat der Autor die russische Gegenwart auch nicht einfach abgestreift. Er schleppt sie, wie die russische Geschichte, weiter mit sich herum. Und lässt sich von ihr beflügeln. Wer Sorokin seherische Qualitäten attestiert, muss allerdings zur Kenntnis nehmen: Die Orks leben auch noch im Jahr 2050.

Während die Literatur unter Corona-Bedingungen überschäumte, hatte die russische Invasion in der Ukraine auf den Autor eine ganz andere Wirkung. Ein Jahr lang habe er nichts mehr geschrieben, sagt Sorokin im Gespräch, bis zu seinem Aufenthalt in der Schweiz. Der Autor war für einen Monat in Sils-Maria, im Nietzsche-Haus. Geholfen hätten «Nietzsches Geist» und die hibernalen Bedingungen Graubündens. Er habe da den «echten russischen Winter» erlebt, sagt Sorokin.

Die Schweiz, dieses stabile verschonte Land, scheint ihn ohnehin zu faszinieren, fast wie ein Anti-Russland. Irgendetwas gebe es in der Schweiz, was es sonst in keinem Land gebe. Was? Er finde dafür kein Wort und keine Beschreibung, sagt Sorokin geheimnisvoll. Ob es etwas Positives sei? Nicht nur, sagt Sorokin leicht verlegen.

Wladimir Sorokin hat im Gespräch vor allem Russisch, aber auch Deutsch und Englisch geredet. Die Übersetzung aus dem Russischen machte Irina Rastorgujewa. Die Schriftstellerin wurde 1983 in Juschno-Sachalinsk, Russland, geboren. Sie lebt als freie Autorin in Berlin und publiziert regelmässig in der NZZ.

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