Sonntag, Oktober 6

Nur eine einzige längere Ferienreise gönnte sich Anton Bruckner, dessen 200. Geburtstag die Musikwelt am 4. September feiert. Von seiner Fahrt durch die Schweiz nahm der Komponist vielfältige Eindrücke mit – sie dürften sogar in seine Musik eingeflossen sein.

Wer reist, wagt die Fremde – in der Hoffnung auf Erlebnisgewinn. Die meiste Zeit seines Lebens jedoch orientierte sich Anton Bruckner an ihm vertrauten Routen und Landschaften. Von den kleineren Gemarkungen in Oberösterreich, seiner Heimatprovinz, abgesehen, wo er sich in frühen Jahren als Hilfslehrer verdingte, war sein erster wirklicher Lebensmittelpunkt Linz, ab 1868 dann Wien. «Heimatlich» wurde ihm regelmässig im Stift St. Florian bei Linz zumute, seiner einstigen Lehrstätte und späteren kompositorischen Werkstätte im Sommer. Und dorthin führte ihn auch seine letzte Reise: zur letzten Ruhe in einem Sarkophag in der Krypta, genau unter «seiner» Orgel.

Bruckner nutzte die Donauschifffahrt, später die Eisenbahn; man traf ihn in Steyr an, in Vöcklabruck. Unumwunden sei gesagt: Das Ausgreifende seiner Musik bringt man nur schwerlich in Einklang mit dem wenig Raumgreifenden seiner Reisen. Andererseits kann man womöglich gerade die räumliche Selbstbeschränkung als Voraussetzung für sein sinfonisches Schaffen werten, das ihn in bis dahin unerhörte Dimensionen führte.

Die insgesamt drei Reisen, die Bruckner ins weiter Entfernte und ihm Unbekannte unternahm, nach Nancy und Paris 1868 sowie zwei Jahre später nach London und 1880 in die Schweiz, bescherten ihm als Organisten – sagen wir besser: als Orgelkünstler – wahre Triumphe. Und auch hier hat es den Anschein, als habe er das sehr Überschaubare seiner Existenz ins Unabsehbare seiner Musik transzendiert. Laut Ohrenzeugen erfüllte er, wann immer er auf der Orgel improvisierte, den sakralen Raum mit einer Klangwelt, die seinen Hörern wie das Tonbild des Unermesslichen vorkommen musste.

Berge und Orgeln

Was aber lockte Bruckner in die Schweiz? Um 1880 hatte die Eidgenossenschaft noch einen Nachholbedarf in Sachen gehobener Musikkultur, was Bruckner nicht verborgen geblieben sein dürfte. An ein öffentliches Konzertleben wie in Wien, München, Leipzig, Berlin oder Karlsruhe war in den Städten der Schweiz noch nicht zu denken. So wurde zum Beispiel erst 1893 der Grundstein der Tonhalle in Zürich gelegt – zwei Jahre später wurde sie von Bruckners Erzrivalen Johannes Brahms inauguriert. Auch das Casino Bern musste noch zehn Jahre bis zu seiner Eröffnung als Konzerthaus warten. Ähnlich stand es in St. Gallen; dort öffnete die Tonhalle erst 1909 ihre Pforten.

Ebenso begann in Genf ein anspruchsvolles Konzertleben erst drei Jahre nach Bruckners dortigem Aufenthalt, und das allein aufgrund einer Initiative des vermögenden britischen Konsuls, der in der Stadt Calvins und der Uhrmacher 1883 die musikalische Gesellschaft «Harmonie nautique» gründete, zwischen 1891 und 1894 die Victoria Hall als kantigeres Gegenstück zur runden Londoner Royal Albert Hall errichten liess und der Stadt schenkte.

Seit 1876 gab es in Basel immerhin das «Stadtcasino» genannte Konzerthaus mit einer vorzüglichen Akustik. Jedoch dominierten das Chorwesen, die Liedertafeln und berühmte Orgeln das Musikleben in diesen Städten; in dieser Hinsicht führend war zudem das Zürcher Singinstitut, für das Hans Georg Nägeli, einer der bedeutendsten Musikpädagogen der Zeit und Gründer des Sängervereins von 1826, über siebenhundert Lieder komponiert hatte. Für Bruckners bis dahin vorliegende Sinfonien hätte die Schweiz hingegen noch kaum adäquate Aufführungsmöglichkeiten geboten.

Um deren öffentliche Präsentation war es ohnedies schlecht bestellt, bedenkt man allein die desaströse Erstaufführung seiner 3. Sinfonie in Wien im Dezember 1877 unter Bruckners unzulänglichem Dirigat, als das Publikum reihenweise den Saal verliess und einige Orchestermusiker während der Aufführung ihr Lachen nicht unterdrücken wollten.

Bruckner folgte denn auch keiner offiziellen Einladung aus der Schweiz. Kein Förderer oder wohlwollender Geistlicher erwartete ihn. Dafür lockte einmal mehr die Qualität der Orgeln des Landes, von der er gehört – und der Anblick des Montblanc, von dem man ihm wiederholt vorgeschwärmt hatte.

Wohl waren ihm im Salzkammergut erhebende Alpenpanoramen vor Augen gestanden, aber von den ihm vertrauteren Anhöhen Oberösterreichs aus schienen die Alpen eher ein optisches Gerücht, das sich nur allzu rasch im Dunst und aller Ferne auflöste. Bruckner war von seiner Herkunft her eher mittlere Regionen und nicht das Hochgebirge gewöhnt. Es ist nicht einmal gesichert überliefert, dass er je die Höhen des Semmering bei Wien aufsuchte. Die Anhöhe, die das Stift von Klosterneuburg schulterte, dürfte ihn an St. Florian erinnert haben oder an den Pöstlingberg oberhalb von Linz und bereitete ihm genügend Ausblicke. Und doch, um 1879/80 muss das Wort «Schweiz» eine immer magischere Anziehungskraft auf Bruckner ausgeübt haben.

Den Ausschlag gab dann das für diesen Komponisten Ungewöhnlichste: schieres Erholungsbedürfnis, Abstand von der Arbeit. Soeben hatte er die dritte Fassung des Finales seiner Vierten, der «Romantischen», beenden können. Noch am 6. Juni 1880 fand unter seiner bei Kirchenmusik weitaus sichereren Stabführung die endlich erfolgreiche Wiener Aufführung seiner d-Moll-Messe in der Hofkapelle statt – mit der rasch berühmt werdenden Motette «Locus iste». Das zuvor vollendete Streichquintett blieb vorerst unaufgeführt. Zudem trug er sich mit Entwürfen zu einer sechsten Sinfonie, wobei nicht sicher ist, ob er diese Skizzen auf seiner Reise in die Schweiz mit sich führte.

Vermutlich nicht, denn es war ihm ernst mit der «Erholung» – auch wenn sich die musikalischen Einfälle in seinem Kopf weitergesponnen haben dürften. Denn dergleichen geistig-künstlerische Arbeit bedarf nicht immer der umgehenden Verschriftlichung. Ein Jahr später würde er die Sechste dann vollenden: die erste seiner Sinfonien, die er im Nachhinein keiner Revision mehr unterzog. Wirkten in ihr die Echos der Schweizreise nach? Oder ist das einfältig gefragt?

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Nein, Tonspuren des Alphorns finden sich nicht in der Sechsten, auch nicht das Rauschen der Rhone, der Arve oder der Aare, des Rheinfalls bei Schaffhausen. Er hörte dies alles, daran lässt seine Reiseroute keinen Zweifel. Ging es also doch in die Sinfonie ein, dieses Rauschen, transponiert, in das Scherzo, das Finale dieser von Rätseln durchwirkten Sechsten, verfremdet, gebrochen und dabei melodisch gebunden, von Pausen durchsetzt, vom Ruf der Bläser in ein immer neu anhebendes musikalisches Leben geweckt? Hören wir in diesen Sätzen etwas gelöste Heiterkeit, die sich dieser Reise verdankte – irgendwie?

Zuerst eine Liebelei

Als Reisebeginn sah sein Pass frühestens den 9. August 1880 vor; den peinlich genauen Reiseplan liess er vier Tage später erstellen, von wem ist unklar, gewiss nur: von einem Schweiz-Kundigen. Sicher ist auch: Den Anfang dieser vermeintlichen Erholungsreise hat Bruckner selbst bestimmt; denn sie nimmt ihren Ausgang in St. Florian, wo er dieses Mal nur eine Woche blieb, um am 20. August aufzubrechen. Zunächst aber noch nicht in die Schweiz – er schien sie sich aufsparen zu wollen.

Erst ging es zu den Passionsspielen in Oberammergau, wo man sogar – umsonst, wie sich herausstellte – König Ludwig II. erwartete. Bruckner sah die Aufführungen am 22. und 23. August und hatte nur Augen für eine der vier «Töchter Jerusalems», die siebzehnjährige Putzmachertochter Maria Bartl. Für längere Augenblicke schien sie ihn, den Mittfünfziger, sogar von seinem weiteren Reisevorhaben mit Ziel Montblanc und Schweizer Orgeln abzulenken. Wie so oft vor dieser Maria und noch bei etlichen nach ihr: Bruckner verliebte sich in seine Liebesempfindung, kurzzeitig – er, der doch sonst unendliche Geduld mit seiner Kunst aufzubringen vermochte. Nun war er einmal mehr entflammt; die Liebelei nahm ihren raschen Lauf, überdauerte in dem Fall aber die Zeit seiner Schweizreise. Und das war für seine Verhältnisse viel.

Die Daten dieser Reise sind genau überliefert. Im «Akademischen Kalender der österreichischen Hochschulen für 1880», der ihm seit 1868 zustand als Wiener Musik-Akademiker am Konservatorium, dann auch an der Universität, machte er sich Notizen von der Reise, spärliche zwar, aber mehr als auf seinen vorherigen Grossreisen nach Nancy, Paris und London. Zahlenbesessen, wie er war, registrierte er Datum um Datum. Am 25. August findet er sich in Lindau wieder, setzt über den Bodensee nach Romanshorn über und betritt Schweizer Boden – übrigens auf dieselbe Weise wie sein Idol Richard Wagner 31 Jahre zuvor auf seiner Flucht aus Deutschland.

Mit der Eisenbahn fährt Bruckner weiter über Winterthur nach Schaffhausen, um von dort nach Zürich zu gelangen. Dort bleibt er zwei volle Tage, vom 26. bis 28. August. Er bringt es bis Pfäffikon und Rapperswil, aber nichts hält für ihn dem Vergleich stand mit den Kirchen Zürichs, genauer mit der Orgel im Grossmünster. Was ihn frappiert: die Kargheit des Inneren, der absolute Kontrast zu St. Florian und dessen barocker Üppigkeit, die ihm vertraut ist. Und doch lässt sich Zwinglis Geist vereinbaren mit den Orgelkompositionen Bachs, also mit der Bruckner so intim vertrauten Welt des Kontrapunkts.

Er tauscht sich mit dem Organisten der Kirche, Gustav Weber, aus, wie er überhaupt den Kontakt mit allen Organisten suchen wird, auf deren Orgeln er wie gewohnt, improvisierend brilliert. Er spielt sich ihnen gegenüber nicht auf, nicht gegenüber Anton Häring in Genf, nicht gegenüber Louis Daniel Delessert in Lausanne, nicht gegenüber Eduard Vogt in der Cathédrale Saint-Nicolas in Freiburg und auch nicht gegenüber Johann Jakob Mendel in Bern. Denn er lernt rasch ihre Kunst schätzen und würdigen, auch wenn ihnen gewissermassen das Hören vergeht, wenn der Hoforganist des Kaisers von Österreich, als den er sich nicht ohne Stolz gern ausweist, zu spielen beginnt.

Die Erhabenheit der Natur

Wohl kam er aus dem übergross gewordenen Habsburgerreich in die kleine Schweiz, aber gerade dort suchte Bruckner offenbar die wahre Grösse, um die es ihm auch in seinen Sinfonien zunehmend ging, und zwar in der alpinen Landschaft. Dass er auf der Reise nach Genf auch noch die Habsburg sah, passte für ihn ins Gesamtbild. Auch wird man ihm in Lausanne vermutlich gesagt haben, dass seinerzeit das alte gotische Münster in Gegenwart Rudolf von Habsburgs eingeweiht worden war.

Doch verblassten für ihn solche geschichtlichen Informationen vermutlich rasch angesichts der natürlichen Majestät der Alpen, in die er sich sogar hineinwagte – mit dem Zug, das Arve-Tal aufwärts bis nach Chamonix über die Hochebene von La Roche und Bonneville. Da fand er sich unversehens in Frankreich wieder, im Land seines ersten ausländischen Triumphs als Organist anno 1868.

Nur dass sich der Montblanc zunächst vor ihm verbarg, verhüllt in Regenwolken. Doch als Ersatz boten sich ihm die Grotten im Glacier des Bossons an, auch in sie wagte er sich, bis ins Innere des Gebirges und des scheinbar ewigen Eises dringend. Tage darauf sah er das Montblanc-Massiv dann doch, von La Flégère aus, später dann nochmals von Lausanne. Nun hatte er sie vor Augen: die reine Erhabenheit, der offenbar sein Sehnen galt und sein Trachten als Komponist.

Auch auf den Orgeln liess sich ihr Klangbild herstellen, wenn auch keine der Orgeln, auf denen er bislang in der Schweiz gespielt hatte, fünftausendzweihundertdreissig Pfeifen aufwies wie «seine» Orgel zu St. Florian. Doch dann kam Freiburg, und in der Stiftskirche von St. Nikolaus begegnete er der Mooser-Orgel mit ihren vierundsiebzig Registern und nahezu achttausend Pfeifen. Er vergass sich beim Spielen und hätte beinahe den Ablauf seines minuziös ausgearbeiteten Reiseplans gefährdet. War denn nicht auch ein solcher Plan, eine solche Reise eine – Komposition?

Es erwarteten ihn in der Schweiz noch weitere natürliche Erhabenheiten. Man hatte ihm nur vom Montblanc erzählt in Wien, nicht aber von jenem Panorama, das er von seiner nächsten Station aus, in Bern, erblicken konnte, wo er am 7. September 1880 abends eintraf – immer noch, trotz der Orgelablenkung von Freiburg, genau nach dem vorgezeichneten Reiseplan. Bern, die Bundesstadt, das war nicht gerade Wien mit seinen Riesenpalais und der räumlichen Grosszügigkeit der neuen Ringstrasse; dafür bot sich ihm das ansprechende Bild bürgerlicher Beschaulichkeit, lebendiges Mittelalter, dessen Häuser man nicht geschleift, sondern über die Zeit bewahrt hatte.

Macht schlummerte in dieser Stadt; dass man sich einen Bärenzwinger hielt, sagte alles. Und diese Brunnen überall, der Schützen- und der Dudelsackpfeiferbrunnen, der Zähringerbrunnen und die Türme, der Käfigturm, der Zeitglockenturm. In Wien kannte er dergleichen nicht, keine Kram- und keine Marktgasse, die hier auf Gewerbefleiss hindeuteten, was ihn an Linz, an Steyr erinnert haben mag. Er wohnte im Zunfthaus zu den Zimmerleuten und notierte sich die Postgasse 22, weil nämlich ein «Fräulein dorthin gegangen sei zu dort wohnenden Freundinn».

Und wieder die «Fräulein»

Hat Bruckner wirklich schon hier, in Bern, Babette Schreiber kennengelernt, die Schwester des Hoteliers von Rigi Kulm? So hat es Luise G. Bachmann, eine musikalisch versierte, jedoch dem Nazismus früh verfallene österreichische Musikliteratin 1947 in die Welt gesetzt: in ihrer Eduard Mörike nachempfundenen Novelle «Anton Bruckners Schweizerreise». Doch das ist fraglich. Gesichert ist dagegen seine Begegnung mit dem Titularorganisten des Berner Münsters, Johann Jakob Mendel, aus Darmstadt stammend, der in Paris bei Luigi Cherubini studiert hatte und als Organist an der Sorbonne tätig war, bevor er 1830 ans Berner Münster berufen wurde.

Dort hatte sich Mendel zunächst zusammen mit dem jungen Orgelbauer Friedrich Haas, einem Schüler des bedeutenden Orgelkonstrukteurs Eberhard Friedrich Walcker, um die Restaurierung und Erweiterung der Münsterorgel verdient gemacht. Als Bruckner ihn in Bern aufsuchte, beging Mendel sein Fünfzig-Jahr-Jubiläum. Sein Ruf als Organist konnte sich mit jenem Bruckners messen. Seine Improvisationen an der Orgel waren berühmt; man sagte, dass Elisabeth von Preussen, die Gemahlin Friedrich Wilhelms IV., eigens nach Bern gereist sei, um Mendel zu hören.

Für Bern hatte sich Bruckner nur ganze eineinhalb Tage Zeit genommen und hat doch augenscheinlich viel gesehen und erlebt, nicht zuletzt den Blick von der sogenannten Kleinen Schanze auf die Berner Alpen, auf die Blümlisalp, das Breithorn, Mönch, Jungfrau und Eiger. Hat er auf der Münsterorgel tatsächlich eine Fuge über ein Thema aus Wagners «Ring des Nibelungen» improvisiert, auf die Mendel dann mit der seinen antwortete? Ungewiss, wie so viele Details in Bruckners Biografie.

Sicher ist, dass nun Luzern auf ihn wartete – und der Organist Ambros Meier in der Stiftskirche St. Leodegar im Hof. Aber erst einmal notierte Bruckner: «Frl. Marie Studer in Mauters (Malters) bei Luzern gesprochen auf der Fahrt von Bern nach Luzern»; das war am 8. September. Sein 56. Geburtstag lag gerade vier Tage zurück, da war er noch in Genf gewesen und hatte ein Orgelkonzert in Saint Pierre besucht. Die Frauenwelt von Luzern schenkte ihm weitere Blicke: «In einem zweistöckigen Haus sah ein Fräulein am ersten Fenster zwei mal herab. Wunderbar!»

Eigentlich hätte er ins nahe Tribschen pilgern sollen; denn wo immer Richard Wagner sich aufgehalten hatte, hier zumal, war für Bruckner heiliges Terrain. Überliefert ist jedoch anderes, eben eine Begegnung mit Babette Schreiber, offenbar einer einstigen Klavierschülerin von Clara Schumann, irgendwo in Luzern, die ihm Augen und Ohren öffnete nebst einer weiteren Perspektive: über den Vierwaldstättersee hinüber nach Vitznau, dann mit der Zahnradbahn hinauf zu Babettes Bruder und zum Rigi-Kulm-Hotel, wo er am 9. September 1880 übernachtete.

Zu vermuten steht, dass dieser Aufenthalt auf der Rigi für Bruckner der landschaftliche Höhepunkt seiner Schweizreise war. Dieser Sonnenunter- und -aufgang, dieses Panorama – hier musizierte das Licht in allen Farbwerten. Es mag ihm bekannt gewesen sein, dass Wagner mit seinen Gästen zum Pilatus hinaufzustürmen pflegte, was Bruckner schon deshalb unmöglich gewesen wäre, weil sich bei ihm ein Fussleiden einstellte. Ohne die Zahnradbahn – wieder lobte er sich den Erfindergeist im Transportwesen – hätte er dieses optische Schauspiel nie erleben können.

Danach konnte es nur noch Flachland für ihn geben, und so reiste er gleich einen Tag später nach München ab, nach Linz, ohne Umweg über Bayreuth, was bei aller Entfernung nahegelegen hätte, wusste er doch vom «Meister der Meister», was ihm die Schweiz gewesen war: Zuflucht, «Asyl», fruchtbarster Urgrund.

Bewahrte Erinnerungen

Eine «Alpensinfonie», wie sie Richard Strauss 1915 vollendete, hat Bruckner nicht von seiner Schweizreise mitgebracht, auch kein Lied, keinen Chorsatz. Und doch ist anzunehmen, dass seine Erlebnisse, die Erhabenheit der Bergwelt, die Schaudererfahrungen in Gletscherhöhlen und die Klänge der Orgelwelten in Schweizer Kathedralen, in das Te Deum (WAB 45) Eingang gefunden haben, das er im Mai des Folgejahres entwarf. Glaubhaft, wenn auch nicht zu beweisen, ist ebenfalls, dass sie die Vollendung der Sechsten beflügelt haben und vielleicht auch in die Konzeption der Siebten vom Frühherbst 1881 eingeflossen sind.

Bruckners Meisterschaft, die er bei Antritt der Reise in die Schweiz längst erreicht hatte, war auch eine Meisterschaft im Setzen von Pausen in seinen Partituren. Diese Reise nun, sie war seine längste (Schaffens-)Pause gewesen, drei Wochen lang, in denen ihm die Natur zu Sinfonien der Anschauung geworden war. Er nahm die Erinnerung daran mit, auch wenn sich die Notizen im «Akademischen Kalender» dazu ausschweigen. Ebenfalls zurück nach Wien begleiteten ihn die Erinnerungen an die erste Liebelei bei Antritt der Reise, an Maria Bartl, die eine der vier Töchter Jerusalems in Oberammergau, vermehrt um die weiblichen Augenpaare, die sich an Luzerner Fenstern gezeigt hatten, wie jene Marie Studers und Babette Schreibers. Doch das eigentliche Sehen, Erblicken, Erkennen – es blieb einmal mehr Bruckners Gehör vorbehalten.

Rüdiger Görner ist Professor em. für neuere deutsche Literatur mit vergleichender Literatur- und Kulturwissenschaft in London. Er publizierte unter anderem Bücher über Rainer Maria Rilke, Georg Trakl und Oskar Kokoschka. Jüngst erschien seine Biografie «Bruckner. Der Anarch in der Musik».

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