Montag, November 17

Einst stand bei Nha Trang eine sowjetische Militärbasis. Heute ist der vietnamesische Küstenort ein Ziel für russische Familien geworden, die ihr Leben nicht für Putins Krieg hingeben wollen.

Ein Polizist, ein Armeeoffizier und eine Sängerin kommen in eine Bar. Alle drei sind Russen. Die Bar steht in Vietnam. Und das ist kein Witz.

Der Polizist ist nun Koch und grilliert Schaschlik-Spiesse. Dem Offizier gehört die Bar. Und die Sängerin hat dort ab und zu einen Auftritt. Sie alle flohen in die Küstenstadt Nha Trang, nachdem ihr Präsident die Ukraine hatte angreifen lassen. Sie wissen nicht, ob sie je heimkehren können, wann der Krieg enden wird, die russische Gesellschaft heilen kann.

«Putin hat mein Land gestohlen. ‹Mein Moskau› gibt es nicht mehr», sagt die Sängerin, sie heisst Tori, das ist ihr Künstlername. Der frühere Polizist Anton sagt: «Russland war einst eine grossartige Nation. Aber wir haben es verbockt.»

Eine Militärbasis der Sowjetunion

Die Russen sind überall in Nha Trang. Am Strand, in den Cafés, auf den Strassen. Sie joggen, stillen ihre Babys oder fahren mit den Kindern Motorrad wie die Einheimischen, aber mit Helm.

Manche kamen ein paar Wochen, ein paar Monate. Manche von ihnen sind geblieben. Ferien für immer.

Sie sind in guter Gesellschaft. Die Küstenstadt Nha Trang liegt unweit des gigantischen Armeestützpunkts Cam Ranh. Während des Vietnamkriegs ab 1965 errichteten die Amerikaner dort einen Militärflughafen. Ab 1979 nutzte die Sowjetunion das Gelände und vergrösserte es um das Vierfache. Cam Ranh wurde ein bedeutender Luft- und Seestützpunkt für die Sowjetunion. Die Amerikaner hatten Okinawa, die Russen Cam Ranh. Tausende Militärberater und Soldaten liessen sich in Cam Ranh nieder, manche blieben.

Bis 2002 verpachtete Vietnam den Hafen an Russland, noch heute darf die russische Armee dort ihre Kriegsschiffe tanken.

Cam Ranh ist nun vor allem bekannt für den gleichnamigen Flughafen, die Nähe zu Nha Trang mit seinen Stränden und Luxusresorts. Vor dem Krieg gab es täglich Charterflüge ab Moskau. Russen fühlen sich hier rasch wohl. Es gibt russische Bäckereien, Restaurants, russische und internationale Schulen. Vieles ist auf Kyrillisch angeschrieben.

Wie viele Russen permanent da sind, ist unklar, denn ihr Aufenthaltsstatus ist prekär. Viele fahren alle paar Wochen, wenn ihr Touristenvisum abläuft, für eine Nacht über die Grenze nach Laos.

Flucht der Eliten

So auch der Offizier Igor. In Moskau hat er in der Pharmabranche gearbeitet, besass mehrere Wohnungen und Autos. In Nha Trang hat er eine Bar und liefert Schaschlik-Spiesse mit Tomaten-Zwiebel-Salat an russische Expats aus. Er ist gerne Gastgeber, lächelt sanft in seinen Bart, bittet um eine gute Bewertung auf Google.

«Wenn ich zurückgehe, werde ich bestraft», sagt er. Anton, dem früheren Polizisten, der jetzt kocht, droht dasselbe. Der grosse Mann mit dem kantigen Gesicht war bei der Anti-Terror-Einheit, lebte in einer Stadt 60 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt und nennt die Ukrainer seine «Brüder». Wie Igor hat auch Anton seine Frau und die Kinder mitgenommen. Er hat sich ihre Vornamen auf den Unterarm tätowiert. Als er über sie spricht, ist es das einzige Mal an dem Abend, an dem er nicht zynisch ist. Er ist früh Vater geworden, mit 23, jetzt ist er 33.

«Kinder sind nicht blöd», sagt er, während er sich eine neue Zigarette anzündet. Auch Kinder wüssten, was in der Ukraine geschehe, schauten Videos auf ihren Handys. Als sie ihn gefragt hätten, warum sie nicht nach Russland zurückkehrten, habe er ihnen gesagt: «Dort droht Knast und Krieg, hier hat es Strand und Sonne. Was wollt ihr lieber?»

Russlands Präsident Wladimir Putin hat im September 2022 eine Teilmobilisierung angekündigt. Daraufhin schuf der Staat ein ausgeklügeltes System, das es durchschnittlichen Männern schwermacht, sich dem Militärdienst zu verweigern. Der Sold ist für russische Verhältnisse enorm hoch – zwei bis fünf Millionen Rubel bei Vertragsschluss, das sind bis zu 50 000 Franken. Trotzdem melden sich zu wenige, der Staat sucht händeringend nach Soldaten, schickt Straftäter an die Front.

Massenhaft sind seither Männer im wehrfähigen Alter allein oder mit ihren Frauen und Kindern ins Ausland geflohen. Wie viele, darüber gibt es nur Schätzungen, sie reichen von 700 000 bis zu 1 Million, und manche sagen, es seien noch viel mehr. Sie gehen nach Polen, Georgien, Zypern, aber auch Bali, Thailand, Vietnam. Die, die gehen, haben die Ressourcen dafür – das Geld, das Wissen, die Kontakte. Oft arbeiten sie in der IT-Branche oder digital, es sind Programmierer, Innenarchitektinnen, Akademiker. Russland verliert einen Teil seiner talentiertesten Leute – vielleicht für immer.

Krieg ist nicht mein «Vibe»

Auch Adam hat der Krieg zum Nomaden gemacht. Ihn trifft man nicht in einer Bar an, dafür morgens am Strand, wo er den Tag mit Kraftübungen beginnt. An der Strandpromenade hat es Fitnessgeräte im Freien, abends trainieren hier die vietnamesischen Senioren, aber morgens hat Adam die Anlage für sich allein. Es ist bereits 30 Grad warm, Adam ist barfuss, tätowiert. Über der Brust trägt er den Stil einer Rose, auf dem Hals entfalten sich die Blätter und gehen in Engelsflügel über.

«Krieg ist nicht mein Vibe», sagt er. Er beschäftige sich lieber mit sich selbst, seine Gedanken habe er unter Kontrolle, nicht aber, was «in der Ukraine oder in Gaza» geschehe. Wenn er darüber nachdenke, setze das zu viel negative Energie frei.

Adam ist seit zwei Monaten in Nha Trang, zuvor war er in Phuket, unter den Palmen in Goa und in Himachal Pradesh in den Bergen. Dass er nirgends Wurzeln schlägt, stört ihn nicht, er brauche immer wieder einen Neuanfang. «Wenn mich die Leute grüssen auf der Strasse, fragen, ‹wie geht’s, wie geht’s deiner Familie›, dann muss ich weg.»

Adam lebt dort, wo er für wenig Geld gut leben kann: Das Penthouse mit Meerblick in Nha Trang kostet umgerechnet 300 Dollar monatlich. Er arbeitet «mit Social Media» und als Masseur. Dass er mit seiner Weltenbummelei der russischen Mobilmachung entflieht, ist bestimmt so, doch Adam weicht aus, so genau kenne er sich nicht aus mit den behördlichen Anforderungen. Sowieso: «Ich sehe mich nicht als Russe», sagt Adam. «Ich bin Weltbürger.»

Der «grosse Bruder» Vietnams

Realitätsflucht, vielleicht, und wenn, ist es verständlich. Die Russen in Nha Trang haben gute Laune. Warum auch nicht? Die Sonne scheint, die Wellen rauschen. Im Café nebenan gibt es Russenzopf zum Flat White, der Kellner grüsst auf Russisch und heisst Alexander. Im Regal steht Populärliteratur in kyrillischer Übersetzung, Harry Potter, Haruki Murakami oder «Das Café am Rande der Welt», wie passend.

Es ist eine schöne, saubere Parallelwelt, eine Welt für Expats und Touristen. Eine Strassenkreuzung hinter dem Café liegt der Grossmarkt, dort kostet der Kaffee ein Viertel so viel, Händler verkaufen alles von Hühnern bis Haarnadeln. Wer keinen Stand hat, kauert am Boden und bietet den Fisch auf einer Plane am Boden an. Russen verirren sich kaum in die laute und düstere Halle, in der man besser geschlossene Schuhe trägt.

Auch Krieg passt nicht so recht in die Expat-Bubble. Viele wollen nicht darüber reden, können es nicht mehr hören, sagen bloss, in Vietnam seien sie «emotional frei» und in Russland herrsche «schlechte Stimmung».

Das ist auch Selbstschutz. Hanoi hat russische Staatsbürger mehrfach wegen Kritik am Krieg auf Geheiss Moskaus deportiert. Dazu kommt, dass es in der russischen Exilgemeinschaft in Nha Trang auch Kriegsbefürworter gibt – und Meinungsverschiedenheiten können zu Schwierigkeiten führen, wie zum Beispiel einem Schulverweis der Kinder. Es ist auch der Grund, warum alle Russen in dieser Geschichte anonym bleiben.

In Vietnam wird Russland als «grosser Bruder» bezeichnet. Tatsächlich war die Sowjetunion lange eine Schutzmacht und ein Alliierter für das nach 1950 frisch unabhängige und zerstrittene Vietnam – der vietnamesische Unabhängigkeitskämpfer Ho Chi Minh hatte in Moskau studiert. Im Krieg des kommunistischen Nordvietnam gegen den Süden und ab 1965 die Amerikaner leistete die Sowjetunion Militärhilfe. Die Partnerschaft wurde durch die Entfremdung Chinas und Russlands noch enger, bis China Ende der siebziger Jahre fürchtete, seinen Einfluss in Asien zu verlieren – und 1979 Vietnam angriff.

Auch nach dem Ende der Sowjetunion blieben die Beziehungen Vietnams zu Russland gut. Bei Uno-Abstimmungen, die den russischen Angriffskrieg verurteilen, enthält sich Vietnam. Vietnamesische Medien bezeichnen den Krieg denn auch nicht als Invasion.

Ein normales Leben

Trotzdem sind russische Dissidenten nach Vietnam geflohen, solche, die anderer Meinung sind als Putin und dafür ins Gefängnis kommen könnten – oder auch nur wegen ihrer sexuellen Orientierung. Es ist ein Grund, warum die Sängerin Tori ihr geliebtes Moskau verlassen hat. Sie mag Männer wie Frauen, und weil sie offen damit umgeht, setzt sie sich auf Social Media üblen Beschimpfungen aus.

Putin sieht Homosexualität als Bedrohung für den Staat. Vor einem Jahr hat Russland ein Gesetz verabschiedet, das die «internationale LGBT-Bewegung» für extremistisch erklärt. LGBT-Aktivisten riskieren bis zu zehn Jahre Haft.

Tori ist heute Abend in Igors Bar gekommen, weil sie hier in zwei Wochen einen Auftritt hat und die Anlage testen will. Igor bringt ihr Schawarma und ein Tiger-Bier, sie nimmt einen Schluck, schliesst ihr MacBook und Mikrofon an und legt los.

Sie singt «Tainted Love», dann «Back to Black», früher sang sie mehr russische Lieder, trat bei Gesangswettbewerben im russischen Fernsehen auf. Anton und Igor stehen am Eingang, rauchen, helfen, die Anlage richtig einzustellen, schauen ihrer Freundin zu. Die kleine, zierliche Frau trägt Latzhose, ein rotes Tuch in den kurzen Haaren, wirkt auf den ersten Blick jünger als Mitte dreissig.

Tori ist schon zwei Jahre hier, noch ist sie nicht warm geworden mit Vietnam. Vielleicht wird sie es nie, sie träumt von Europa, die Vietnamesen sind ihr zu aufdringlich, Vietnam zu laut. Ihre liebste Zeit beginnt ab zwei Uhr nachts, wenn Ruhe einkehrt. Wenn die Vietnamesen aufstehen, geht sie zu Bett. Sie kann von der Musik leben, gibt Gesangsunterricht, legt auf, singt, das sei die Hauptsache.

«Ich kann mir keine vergoldete Toilette leisten, aber es reicht, und ich habe enge Freunde hier, so gute wie noch nie», sagt Tori und blickt zu Anton und Igor.

Tori sitzt oft mit den beiden in der Bar, sie rauchen billige vietnamesische Zigaretten, trinken Bier und sprechen über den Krieg in der Ukraine, über den Zustand Russlands und ob mit dem Tod Nawalnys auch die Hoffnung gestorben ist. Ändern können sie dadurch nichts. Aber sie fühlen sich so weniger allein.

Tori sagt: «Wir wollen alle ein normales Leben führen.»

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