Donnerstag, Oktober 3

Eine neue Ukraine-Konferenz bringe nichts, solange die Kriegsparteien nicht verhandeln wollten, sagt Thomas Greminger, Direktor des Genfer Zentrums für Sicherheitspolitik. Moskau sei für Schweizer Initiativen offener, als das offizielle Narrativ den Anschein mache.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sieht den Moment für Friedensgespräche für die Ukraine gekommen, dieses Mal mit Russland. Teilen Sie seine Einschätzung?

Es ist positiv, dass ein westlicher Politiker von Scholz’ Statur dazu aufruft, Friedensgespräche vorzubereiten. Im Moment fehlt allerdings weiterhin die Bereitschaft der Kriegsparteien, sich an den Verhandlungstisch zu setzen. Auf beiden Seiten ist eine Tendenz zur Eskalation zu beobachten. Das zeigen der ukrainische Vorstoss auf Kursk wie auch die intensivierten Angriffe der Russen auf zivile Ziele und die Energieinfrastruktur in der Ukraine. Vor den amerikanischen Wahlen wird sich an der Situation nichts ändern. Es gibt in jüngster Zeit zwar Signale, dass sich Kiew auf Waffenstillstandsverhandlungen vorzubereiten scheint. Aber der Zeitpunkt bleibt offen. Die Ukraine muss zuerst Klarheit haben, wie die künftige Politik der USA aussehen wird.

Während Russland auf dem Schlachtfeld Fakten schafft . . .

Beide Seiten versuchen, auf dem Schlachtfeld Vorteile zu erringen. Die Russen wollen offensichtlich die beiden Regionen im Donbass unter ihre Kontrolle bringen. Die Operation der Ukrainer in Kursk ist ebenfalls ein Versuch, das militärische Moment auf ihre Seite zu ziehen – und damit vorteilhafte Voraussetzungen für Waffenstillstandsverhandlungen zu erreichen.

Eine zweite Ukraine-Konferenz ergibt also auf absehbare Zeit keinen Sinn?

Solche Grossanlässe bringen nichts, solange die grundsätzliche Verhandlungsbereitschaft der Kriegsparteien fehlt. Diese wird nicht durch Spitzentreffen geschaffen. Es braucht vertrauliche formelle und informelle Gespräche. Wenn dann mal ein Prozess in Gang gekommen ist, mag eine grosse Konferenz wieder Sinn ergeben. Das kann die Verhandlungsparteien unter Druck setzen, möglichst flexibel zu sein und das internationale Völkerrecht zu respektieren.

Ohne weitere Vorarbeiten werden also auch die Resultate des nächsten Spitzentreffens bescheiden ausfallen.

Ja. Ich schliesse zwar nicht aus, dass man sich darauf einigt, zunächst Teilaspekte wie die Ernährungssicherheit oder die Nuklearsicherheit zu verhandeln. Aber auch innerhalb dieser Themen müssen die Kriegsparteien bereit sein, effektiv zu verhandeln. Das heisst auch, sich mit den Russen an den Tisch zu setzen, im informellen oder vertraulichen Rahmen.

Waren Scholz’ Aussagen lediglich ein Wahlkampfmanöver?

Ich finde das Signal vernünftig. Gleichzeitig bleibt Deutschland weiterhin der zweitwichtigste militärische Unterstützer der Ukraine. Es ist demnach keine Entsolidarisierung. Aber die Aussagen des Bundeskanzlers haben sicher auch einen innenpolitischen Hintergrund. Es ist klar, in welche Richtung der politische Mainstream in den östlichen Bundesländern geht.

Die Schweiz versucht, nach dem Bürgenstock weiterhin eine Rolle zu spielen. Wie beurteilen Sie diese Bemühungen?

Mir ist im Moment noch nicht klar, in welche Richtung die Schweizer Aussenpolitik gehen will. Es gibt grundsätzlich zwei Optionen. Entweder halten wir an der Logik des Bürgenstocks fest und betätigen uns hauptsächlich als Fürsprecherin für die Positionen der Ukraine. Damit ist die Schweiz politisch im westlichen Lager abgestützt – und auch bei unseren wichtigsten Wirtschaftspartnern. Oder wir versuchen, eine Strategie der Fazilitation zu verfolgen, also Bemühungen, den Konflikt über einen inklusiven Prozess zu lösen. Das ist natürlich mit politischen Risiken verbunden. Es würde implizieren, dass wir diskret auch auf Russland zugehen. Nur als Fürsprecherin für eine Seite aufzutreten, reicht nicht, wenn man sich als Vermittlerin engagieren will.

Russland hat schon früher klargemacht, dass es keine Vermittlerrolle der Schweiz will und diese nicht mehr als neutral betrachtet.

Das ist das offizielle russische Narrativ, das insbesondere das Aussenministerium in Moskau immer wieder lautstark verbreitet. In der Realität hat Russland gegenüber der Schweiz eine differenzierte Haltung. Das sehen wir auch bei den informellen Kanälen für den Dialog, die wir unterhalten. Wo es die Russen interessiert, machen sie mit. Als ich im Frühling das letzte Mal in Moskau war, spürte ich eine Bereitschaft, auf allfällige Initiativen der Schweiz zu reagieren. Aber diese müsste aktiv darauf hinarbeiten. Das ist auch diskret möglich. Wenn man merkt, dass es nicht klappt, kann man es immer noch sein lassen. Klar ist jedoch auch, dass ohne den Willen beider Parteien eine Fazilitation nicht möglich ist.

Zuletzt haben sich einige Kleinstaaten hinter die Bürgenstock-Deklaration gestellt. Baut die Schweiz an einem Potemkinschen Dorf?

Dieser Ansatz ist vermutlich nicht besonders zielführend. Die eigentliche Absicht wäre es ja gewesen, dass sich wichtige Länder des globalen Südens hinter eine konstruktive Lösung stellen.

Trotz positiven Signalen haben dies China und Brasilien nicht getan. Hat sich die Schweiz von diesen Staaten an der Nase herumführen lassen?

Die Schweiz hat einen ernsthaften Versuch unternommen, möglichst inklusiv zu sein. Sie war damit auf dem Bürgenstock nur beschränkt erfolgreich, wie sich gezeigt hat. Die Konferenz hat keine grossen Fortschritte erzielt, um die Länder des globalen Südens einzubeziehen. Aber es war den Versuch wert. Die Bürgenstock-Konferenz war ein grosser Erfolg, um die Schweiz im Lager der westlichen, gleichgesinnten Staaten zu positionieren. Das Spitzentreffen hat die Zweifel bezüglich unserer Loyalität gegenüber westlichen Werten ausgeräumt. Das hat seinen politischen Wert gehabt.

Die Bürgenstock-Konferenz war für die Schweiz ein Balanceakt. In einem Bericht empfiehlt eine Studienkommission des Verteidigungsdepartements (VBS) nun, die Neutralitätspolitik flexibler zu handhaben. Teilen Sie diese Schlussfolgerungen?

Die Schweiz hatte in der Neutralitätspolitik schon immer relativ grosse Freiheiten. Es ist schade, dass sie die im Jahr 2023 angelaufene Diskussion über die Neutralität nicht zu Ende geführt hat. Der bundesrätliche Bericht, der eine Neukonzeption hätte sein sollen, ist dann lediglich zu einer Postulatsantwort geworden. Die Studiengruppe des VBS strebt nun mehr Kooperationen mit militärisch gleichgesinnten Staaten, Nachbarländern, der Nato und der EU an. Das ist aus einer sicherheitspolitischen Logik heraus nachvollziehbar. Spielraum gibt es sicher auch beim Wiederexport von Rüstungsgütern. Die rote Linie sind für mich die Pflichten des internationalen Völkerrechts für neutrale Staaten, die man nicht aufweichen kann. Dazu gehört es etwa, eine Kriegspartei mit militärischen Mitteln zu unterstützen.

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