Donnerstag, Mai 22

Erkundigungen in der freisinnigen Arbeitsgruppe zu Europa.

Die Schweiz ist von Europa umgeben, die FDP ist von Europa umgewühlt. Das ewig ungewisse Verhältnis zur Europäischen Union holt die Partei immer wieder ein, das ist eine jahrzehntealte Gewissheit.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

So hat sich die Parteileitung in den vergangenen Tagen auffällig unauffällig verhalten. Als der Bundesrat über das Stromabkommen informierte, als er eine Schutzklausel gegen die Zuwanderung aus der EU präsentierte und auch als er sich gegen das Ständemehr bei einer möglichen Abstimmung aussprach – aus der sonst sehr aktiven FDP-Zentrale kam keine Mitteilung.

Was hätte sie auch sagen sollen? Die FDP besetzt mit Ignazio Cassis das Departement für auswärtige Angelegenheiten, aber zumindest beim Ständemehr waren die FDP-Bundesräte gespalten. Und so ist es in der Europafrage auch die Partei. Nach dem Ständemehr-Entscheid offenbarte sich auf der Plattform X die innerparteiliche Divergenz. Als Matthias Müller, Jurist und Vizepräsident der Zürcher FDP, von einem «schweren Fehlentscheid des Bundesrats» schrieb, gab ihm Christa Markwalder, frühere Nationalrätin und Präsidentin der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz, zurück: Sie frage sich, warum ein «hochdekorierter Jurist» den «juristisch korrekten Entscheid des Bundesrats» kritisiere – «unglaublich». Und der FDP-Nationalrat Simon Michel erklärte seinem Kollegen Christian Wasserfallen, dessen gerade publizierte Haltung führe «zum Ende des bilateralen Weges»: «Das willst du auch nicht, oder?»

Wo die FDP steht, soll erst im Oktober ein Parteitag entscheiden. Was die FDP will, soll bis dahin eine zwölfköpfige Arbeitsgruppe herausfinden – zu der sechs vertragskritische und sechs -freundliche Mitglieder gehören, etwa Matthias Müller, Christian Wasserfallen und Simon Michel. In einem gemeinsamen Bekenntnis schreibt die Gruppe: «In unserer Arbeit wie in der öffentlichen Debatte pflegen wir den respektvollen Widerspruch. Wir hinterfragen die Analysen, nicht die Intentionen unserer Mitstreiterinnen und -streiter. Wenn wir einzeln Position beziehen, sprechen wir nie für die ganze Partei.» Es klingt wie ein Aufruf zur Selbstdisziplinierung.

Europa ist ein schwieriges Terrain für die FDP, weil sie nicht wie die GLP geschlossen dafür oder wie die SVP geschlossen dagegen ist: Die einen Freisinnigen gewichten die wirtschaftlichen Vorteile einer Einbindung höher, die anderen die politischen Nachteile. Entsprechend stark wirken parteinahe Pressure-Groups wie die Economiesuisse (dafür), das Aussendepartement mit Bundesrat Cassis (dafür) oder das Kompass-Europa-Netzwerk (dagegen) auf die Partei ein. Anders als die mindestens so heterogene Mitte kann sich die FDP deshalb nicht einfach an Europa vorbeiwursteln.

All das weiss Thierry Burkart, der Parteipräsident. Er hält sich vorerst zurück und gehört auch nicht zur Europa-Gruppe: «Hätte ich mich in Unkenntnis des Vertragspakets bereits festgelegt, hätte ich die Partei gespalten.» Burkart steht vor einer schier unmöglichen Aufgabe: Er muss die Partei in einer Frage einen, die sie seit Jahrzehnten auseinandertreibt.

Der Klappsitz am Rande

Noch im Kalten Krieg war für den Freisinn klar, dass sich die Schweiz zwar wirtschaftlich in Europa integrieren sollte, politisch aber nicht. Mit der Mauer fiel auch diese Gewissheit. Nicht nur dem FDP-«Schattenaussenminister» Ernst Mühlemann, einem legendären Nationalrat aus dem Thurgau, wurde das eigene Land zu klein. «In Strassburg vergeht kein Tag, ohne dass man nicht mit einem Ministerpräsidenten oder einem Aussenminister oder Vizeminister zusammensitzt», sagte er über seine Arbeit im Europarat. «Das ist einfach nicht zu vergleichen mit dem Laubsägelihuus, wo Herr Felber und Herr Kellenberger sitzen.» René Felber war Bundesrat, Jakob Kellenberger sein Staatssekretär. Mühlemann verkörperte den neuen europäischen Geist in der FDP. Die Delegierten strichen die Option «Alleingang» aus dem Parteiprogramm, FDP-Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz sagte: «Unser Platz in Europa kann nie und nimmer der Klappsitz am Rande sein.» Man sehnte sich nach einer neuen Zeit- und Grössenrechnung.

Die FDP blieb selbst dann Europa-euphorisch, als die EWR-Verhandlungen mühsamer wurden – und der Bundesrat den EWR deshalb nur noch als «Trainingslager» für einen Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (der heutigen EU) bezeichnete. Plötzlich war man auch im freisinnigen Establishment nicht nur zur wirtschaftlichen, sondern auch zur politischen Integration bereit.

So geeint, wie es schien, war die FDP aber schon damals nicht. Otto Fischer, der langjährige Gewerbeverbandsdirektor und Nationalrat, war einer der wichtigsten Mitkämpfer von Christoph Blocher gegen den EWR. Die Bundesräte seien «himmeltraurige, verachtenswürdige, miese Typen (. . .), die unser Land in Brüssel verkaufen wollen», rief er aus.

Zwar hatten ursprünglich 231 Delegierte der FDP für einen EWR-Beitritt gestimmt und nur 27 dagegen. Aber die freisinnige Basis war weniger überzeugt, trotz grossem Lobbying stimmten laut Nachbefragung nur 62 Prozent der Freisinnigen für einen Beitritt. Die Journalisten Alan Cassidy und Philipp Loser widmen in ihrem Buch «Der Fall FDP» ein ganzes Kapitel dem «Problem Europa».

Spätestens als die Partei an einem Parteitag im Jahr 1995 auch noch den EU-Beitritt und damit die absolute politische Integration als Ziel ausgab, wurde sie auf Jahrzehnte hinaus gespalten. «Ich hatte einen unsäglichen Aufwand betrieben, um eine Position zu erreichen zwischen allen Flügeln in der Partei», sagte der damalige FDP-Präsident Franz Steinegger später einmal. Er hatte unbedingt verhindern wollen, was dann geschah, denn er war sich der Konsequenzen bewusst. Auf dem Weg zum Hotel sagte er einer Journalistin, die EU-Beitritts-Erklärung werde die FDP drei Wählerprozente kosten. «In so einem Moment steht man blutt da.»

«Kaum nennenswert besser»

Der «unsägliche Aufwand» (Steinegger), um die Partei zu einen, dauert bis heute an – unterbrochen nur durch die friedlichen Jahre des Bilateralismus. Er wird in der Europa-Gruppe fortgeführt, die das ganze Spektrum des Freisinns abbildet. Auf der einen Seite stehen die vertragsfreundlichen Parteileute, angeführt von dem Solothurner Unternehmer und Nationalrat Simon Michel. Er ist Vorstandsmitglied von Economiesuisse und CEO eines Unternehmens, das seine Produkte für Medizintechnik in die ganze Welt exportiert. Er verlinkt eifrig Zeitungsartikel und zitiert aus der Bundesverfassung, um gegen die EU-Kritiker zu argumentieren. Vielleicht weiss die FDP noch nicht, wie sie zu den EU-Verträgen steht, Michel aber hat sich schon entschieden.

Auf der anderen Seite stehen vertragskritische Freisinnige wie der Berner Nationalrat Christian Wasserfallen, der auf der Plattform X (ähnlich wie Michel) eifrig Beiträge seiner Gegner kommentiert und zudem einen eigenen Blog betreibt. Dort hat er seine persönliche Vernehmlassung der neuen Verträge ebenfalls bereits abgeschlossen. Mitte Februar deklinierte Wasserfallen das Vertragspaket durch. Damit er auch sicher richtig verstanden würde, nahm Wasserfallen die Conclusio bereits im Titel vorweg: «EU-Verhandlungspaket: kein Mehrwert vorhanden».

Die Europa-Gruppe ist theoretisch paritätisch zusammengestellt, sechs zu sechs. Aber bereits ist man sich etwa bei den Befürwortern einig, dass es darum gehen müsse, einen Kritiker von den Verträgen zu überzeugen. Die Untergruppen haben eigene Chefs, teilweise soll es getrennte Sitzungen geben, so wird es erzählt.

Optimistischer klingen in diesen Tagen die Befürworter der Verträge. Die Meinung in der Partei werde eher wohlwollend ausfallen, sagt auf der einen Seite Damien Cottier, der Neuenburger Nationalrat und FDP-Fraktionschef im Bundeshaus, der ebenfalls in der Europa-Gruppe sitzt. Er war einst «Kabinettschef» des europafreundlichen Bundesrats Didier Burkhalter, im vergangenen Wahlkampf wurde er von der Europäischen Bewegung Schweiz unterstützt, als einer von nur zehn FDP-Politikern in der ganzen Schweiz. Entsprechend fällt auch seine Bewertung der neuen Verträge aus: «Die EU hat weitgehende Konzessionen gemacht, was bedeutet, dass die Unterhändler gut verhandelt haben.»

Auf der anderen Seite hadert Matthias Müller, der als Vizepräsident der Zürcher Kantonalpartei in die Europa-Gruppe delegiert wurde, mit der «institutionellen Dimension» der Verträge. So bedeute die Pflicht zur laufenden Übernahme von EU-Recht ein «schmerzhaftes Zugeständnis der Schweiz». Er ist generell skeptisch, die «Weltwoche» hat ihn bereits als einen der «schärfsten Kritiker» der Verträge gelobt. Müller selbst betont, er habe sich noch nicht festgelegt, er wolle zuerst herausfinden, ob die ökonomischen Vorteile nicht vielleicht doch überwögen: «Zuerst gilt es, die Verträge en détail zu lesen. Ich gehe nicht stur in diese Arbeitsgruppe hinein.»

Die Einschätzungen weichen semantisch und auch inhaltlich voneinander ab – denkbar sei es, dass sich die Gruppe in gewissen Punkten einige, in anderen jedoch Differenzen deklariere. Eine Option wäre ein «Ja, aber . . .», das gesicherte europäische Beziehungen in einer unsicheren Welt empfiehlt, auch wenn das einen (institutionellen) Preis hätte. In der Gruppe weiss man, dass die Partei möglichst viel Konsens braucht. Als die FDP noch eine grosse Volkspartei war, erklärte sie ihre inhaltliche Breite zum Vorteil. Seit die Partei kleiner geworden ist, wird die Breite zunehmend zur Hypothek.

Auf der Suche nach gemeinsamen Akkorden

Es kann zumindest niemand behaupten, in der Europa-Gruppe wäre man sich der Bedeutung der eigenen Arbeit nicht bewusst. So versucht etwa der Nidwaldner Ständerat Hans Wicki trotz offenkundiger EU-Skepsis aus der Polyfonie freisinnige Akkorde herauszuhören. Erstaunlich ist das, weil Wicki im Komitee der Kompass-Initiative sitzt, die ein obligatorisches Ständemehr für das neue Vertragspaket verlangt. Wicki sagt, über den Grossteil der Abkommen sei man sich in der Partei einig. Diskutieren müsse man vier bis fünf Punkte. Er nennt die Ausgleichsmassnahmen, die die EU verhängen kann, wenn die Schweiz in einem Schlichtungsverfahren unterliegen sollte. Und natürlich: die dynamische Rechtsübernahme.

Wer sich in diesen Tagen durch die Partei telefoniert, hört heraus, wonach gesucht wird: eine gemeinsame Position, die scharf genug ist, dass sie verstanden wird – und unscharf genug, dass sie die Partei nicht weiter auseinandertreibt. Im Oktober wird an einer Versammlung die finale Entscheidung gefällt. Bis dahin muss sich die Partei bei aller Ambivalenz auf eine simple Position zum Vertragspaket einigen: Ja oder Nein.

Wobei in diesen Tagen eine zusätzliche Möglichkeit durch die Europa-Gruppe geistert. Mehrere Mitglieder können sich vorstellen, dass die FDP ihrer Basis für die Abstimmung eine Stimmfreigabe empfiehlt. Das könne den Schaden am ehesten begrenzt halten, sagt jemand aus der Gruppe. Aber ob das wirklich eine Option ist, sich nicht klar zu positionieren in einer der wichtigsten Fragen der kommenden Jahre?

Wenn es stimmt, dass die Europafrage die Schweiz seit Jahrzehnten spaltet, dann bildet die FDP die Stimmungslage im Land ab. In diesem Sinn ist sie eine wahrhaft schweizerische Volkspartei.

Exit mobile version