Das Cook County Jail in Chicago ist eines der grössten und berüchtigtsten Gefängnisse der USA. In den letzten Jahren haben sich die Bedingungen verbessert. Doch ein Besuch hinterlässt ein beklemmendes Gefühl von Ausgeliefertsein.
Der riesige Gefängniskomplex mit seinen 5000 Insassen steht an der California Street und wird deshalb auch «Hotel California» genannt. Aber mit seinen fensterlosen Fassaden, den hohen Mauern und den Eisenzäunen strahlt er alles andere als sonnige Gastfreundschaft aus. Die riesigen Stacheldrahtrollen auf den Mauern sollen natürlich die Insassen an der Flucht hindern. Aber sie wirken auch in die andere Richtung: Man getraut sich fast nicht hinein. Sogar der Taxifahrer hält vorsichtshalber erst weit nach dem Eingang.
Hier weht ein anderer Wind
An der Mauer des Gefängnisses steht «Department of Corrections», obwohl die meisten Insassen erst in Untersuchungshaft und juristisch noch unschuldig sind. Im Schnitt müssen sie fünf Monate hier absitzen, viele bleiben aber bedeutend länger eingesperrt.
Nachdem man als Besucher den Eingangsbereich erreicht hat, «Empfang» wäre zu freundlich ausgedrückt, und während man sich desorientiert umschaut, wird man von der Frau hinter der Scheibe angeschnauzt: «Was wollen Sie?» – «Ich bin für einen Besuch angemeldet.» – «Haben Sie einen Brief?» – «Nein. Nur eine Mail.» – «Ohne offiziellen Brief können Sie nicht herein.» – «Aber . . .» – «Stellen Sie sich hinten an.»
Hier herrscht offensichtlich ein anderes Klima als draussen. Die Machtverhältnisse sind klar. Glücklicherweise gehört man zu den Privilegierten, und die Sache klärt sich. Im Vorfeld des Besuches wird eine Liste mit verbotenen Gegenständen ausgehändigt. An erster Stelle stehen Granaten und Bomben. Das versteht sich. Aber warum keine Erlaubnis für Zahnseide? Weil man jemanden damit strangulieren könnte? Auch Wachs, Lehm oder jegliches Material, das als Gussform verwendet werden könnte, gelten als Schmuggelware. Vielleicht, weil sich damit ein Schlüssel kopieren liesse.
Verboten sind auch Kaugummis, Leim, Farbe, Folien, Landkarten, Bus- oder Flugtickets, Blumen und Würfel. Bei der Suche nach den Gründen wird man innerlich schon zum Ausbrecher. Es bleibt nichts, was man hineinnehmen könnte. Selbst das Handy muss in einem Schliessfach verstaut werden. Kurz der Gedanke: «Wenn sie mich aus Versehen hierbehalten, könnte ich nicht einmal jemanden anrufen.»
Sogar Spiegel gelten als gefährlich
Die «Division 5» steht leer. Die Zahl der Häftlinge wurde in den letzten Jahren stark reduziert. 2007 betrug sie noch 11 000, das Gefängnis war für seine Überbelegung berüchtigt. Heute ist es noch rund die Hälfte. Einer der Direktoren, der nicht namentlich genannt werden will, sagt, das könne sich jederzeit wieder ändern. Deshalb behielten sie den Trakt als Reserve, die im Notfall sofort wieder betriebsbereit wäre.
Die leblose Leere der grauen Korridore und Räume wirkt beklemmend. In den Waschräumen erwähnt der Direktor, dass das Wasser weder kalt noch heiss, sondern lauwarm sei. Die Spiegel wurden abmontiert. «Sie gingen dauernd zu Bruch», sagt der Direktor. Er spricht auch vom Risiko, sich und andere durch die Scherben zu gefährden. Es ist allerdings eine bedrückende Vorstellung, dass Insassen sich nicht mehr anschauen können. Sie kommen sich auch in dieser Hinsicht abhanden.
Die nächste Abteilung ist bewohnt. Die Insassen tragen die Gefangenenkluft mit den Buchstaben DOC, für Department of Corrections. Jedes Mal, wenn einer von ihnen vorbeigeht, wird der Besucher aufgefordert, nicht in der Mitte des Korridors zu gehen, sondern der Wand entlang, mit dem Direktor und der Wächterin rechts, falls ein Häftling plötzlich ausfällig oder aggressiv würde. «Falls Sie jemand provoziert», sagt die Wächterin, «am besten gar nicht reagieren.»
Man muss jederzeit mit Gewalt rechnen
Frage an die Wärterin: «Ist die Arbeit hier belastend?» – «Soll ich ehrlich sein?», fragt sie zurück. «Es kommt auf die Belastbarkeit an. Aber es ist oft schwierig am Abend, den inneren Film abzustellen.» Es herrscht eine erstaunliche Stille im Cook County Jail, wenige Leute sind zu sehen. Gerade ist Schichtwechsel, und in diesem heiklen Moment müssen alle in ihre Zellen zurück. Viele Gesichter sehen schwer gezeichnet aus. Das Gefängnis gilt als grösste psychiatrische Einrichtung der USA, obwohl sie keine ist.
Unter der ruhigen Oberfläche brodelt es. Kürzlich tauchte ein Film auf, der zeigt, wie ein Wärter – allein, entgegen den Vorschriften – einen Schlafraum betritt und plötzlich von einem Insassen mit einem Faustschlag niedergestreckt und, am Boden liegend, mit den Füssen weiter traktiert wird, bis andere Gefangene intervenieren. Es gibt allerdings auch eine andere Aufnahme: Ein Gefangener sagt einem Wärter, dass er einen Arzt sehen möchte. Anstelle einer Antwort schlägt ihm der 52-jährige «Correctional Officer» mit einer Handschelle ins Gesicht.
Bei einem Büro mit einer Wächterin hinter der Glaswand klebt eine Notiz an der Wand: «Bitte keine Zettel unter der Türe hindurchschieben.»
Hinter den Gefängnismauern wimmelt es von Drogen
In einem anderen Raum sitzen zwei Angestellte, die den Entlassenen gebrauchte Winterkleider und Naloxon-Sprays mitgeben. Diese können bei Opioid-Überdosierungen in die Nase gesprüht werden. Offenbar nehmen die meisten mehrere Sprays mit. Auf die Frage, ob denn auch im Gefängnis selbst viel Drogen zirkulieren würden, reagieren die Frauen mit Verlegenheit. Aber der Direktor bestätigt, dass dem so ist, vor allem Fentanyl. Auch hier müssen sie die Sprays oft einsetzen. «In den Gemeinschafts- und Schlafräumen gibt es Überwachungskameras, aber nicht in den Toiletten und den Zellen, wo nur jeweils zwei Insassen untergebracht sind», sagt er. Es kann also eine Weile dauern, bis ein Bewusstloser entdeckt wird.
Weiter geht es zum Gebäude der Division 11; wegen der hellen Mauern wird es «Weisses Haus» genannt. In einem der Schlafräume findet gerade eines der regelmässigen Gruppengespräche statt. «Ich komme jeden Tag hierher», sagt eine der Frauen, die hier einsitzt. «Manche müssen teilnehmen, als Teil der Strafminderung. Aber die meisten wollen es von sich aus.»
Sie sprechen jedes Mal über ein anderes Thema: Gesundheit, Drogen, psychische Probleme, Kinder. Es gibt eine Geburtsabteilung auf dem Gefängnisgelände, aber ist das Kind auf der Welt, muss es die Mutter weggeben, solange sie in Haft ist. Eine Frau berichtet von ihrem Gefühl der Leere und Sinnlosigkeit. Am Vortag haben sie über «Dating» gesprochen. Es sei nicht einfach, nach einem Gefängnisaufenthalt noch genügend Selbstbewusstsein aufzubringen, um einen Partner zu suchen, sagt eine Teilnehmerin.
Das Atelier als Oase
Die Frauen treffen sich in einem Schlafsaal mit etwa einem Dutzend Kajütenbetten. Hier sei es heller und luftiger als in den engen Zellen, sagt eine von ihnen. Aber es gebe dafür weniger Privatsphäre. Die Präferenz hänge von der Person ab. Manche hätten lieber ihre vier Wände. Wenn die Mitinsassin nett sei, könne das super sein. Wenn nicht – die Hölle.
Die Isolationshaft wurde 2016 abgeschafft. Aber während der Pandemie habe man möglichst viele in Einzelzellen untergebracht, sagt der Direktor. Es sei offensichtlich gewesen, dass das den meisten nicht guttue.
Im nächsten Trakt haben Häftlinge die Wände bemalt, vor allem mit Imitationen von berühmten Gemälden wie der Trinkerin von Picasso oder den zerfliessenden Uhren von Dalí. Auch ein dramatisches Bild aus der Pandemie-Zeit ist dabei, mit einer zusammengekauerten Kranken auf dem Asphalt, während ein Gebäude in Flammen steht. Hier im Cook County Jail kam es zu einem der grössten Covid-19-Ausbrüche im Land mit etwa 800 Fällen. Sieben Personen starben.
Die «murals», die Wandgemälde, stammen aus einem Kunstprogramm für Insassen. Das Atelier wirkt wie eine Oase. Ein junger Latino arbeitet konzentriert am Porträt der Sängerin Selena Gomez, das er anhand eines Fotos aus einem Magazin anfertigt. An der Wand hängt sein letztes Gemälde «Lowrider» – das Bild eines tiefergelegten Autos, ganz in Rot. Er sagt, er sei seit seinem Eintritt jeden Tag hier, wenn er nicht Wäscherei-, Küchen- oder Putzdienst habe. Neben ihm ist ein Insasse in eines der herumliegenden Bücher vertieft: einen Malkurs für Anfänger.
Das Messer ist angekettet
Gleich nebenan liegt die Küche des «Recipe for Change»-Programms. Hier können Insassen eine Kochlehre absolvieren. «Der Andrang ist enorm», sagt Adriano Bruzzone, der Leiter des Programms. «Für die 20 Stellen haben wir über 300 Bewerbungen.» Einer der Teilnehmer, ein etwa vierzigjähriger Afroamerikaner, schneidet gerade Gemüse. Das Messer ist sicherheitshalber angekettet. Er ist begeistert. «Das gibt mir die Möglichkeit, ein Diplom zu erlangen, mit dem ich nach meiner Entlassung einen Job finde.» Er hat wie in einem normalen Restaurant als Tellerwäscher angefangen und arbeitet sich jetzt hoch. Gestern haben sie Dumplings gekocht, heute steht Gulasch auf dem Plan. Die Qualität des Essens ist besser als diejenige der Gefängnisküche, es wird an Insassen verkauft, die es sich leisten können.
Anschliessend können wir einen Blick in die Zelle des Kochlehrlings werfen. Sie ist auffällig aufgeräumt und sauber. «Das ist auch dank der Ausbildung», sagt er. Das Fenster gibt – durch einen engen Maschendrahtzaun – einen Ausblick auf den Hof frei. Er ist winzig, aber wirkt wohltuend inmitten der dicken Mauern und des Neonlichts.
In einem Nebenzimmer büffeln vier Junge mit einer Lehrerin gerade Mathe. Sie versuchen, einen Schulabschluss nachzuholen. «Gut ist, dass auf dem Diplom der Name einer normalen Schule stehen wird», sagt einer der Schüler. «So sieht niemand, woher es in Wirklichkeit stammt.»
Fluchtversuche zwecklos
Der Aufenthalt in diesen Ausbildungsräumen ist wie Luftholen. Aber dann geht es wieder ins Untergeschoss, wo nur künstliches Licht hereinkommt und die Insassen darauf warten, zum Gerichtstermin gefahren zu werden. Die Belastung, die Anspannung und die Angst sind körperlich spürbar. Einige der Gefangenen, die sich oder andere gefährden könnten, wurden in grosse Zellen gesperrt und blicken verstört durch das Gitter. Einer hockt zusammengesunken auf einer Bank, den Kopf in der Armbeuge versteckt, und stampft unaufhörlich mit dem Fuss auf den Steinboden.
Eine letzte Frage an den Direktor: Ist eigentlich schon einmal jemandem die Flucht gelungen? «Ja, leider», sagt er. «Sie haben Deals mit Aufsehern abgeschlossen. Aber sie wurden alle rasch wieder geschnappt.»
Was für ein befreiendes Gefühl, eine Stunde später einfach hinaus in die Freiheit spazieren zu können.

