Donnerstag, April 24

Man empfing Karl den Grossen, schrieb prachtvolle Handschriften und fälschte ab und zu Dokumente: Das Kloster Reichenau war einer der bedeutendsten Orte der europäischen Geschichte. Eine Ausstellung in Konstanz führt in seine Blütezeit.

Woher er kam, weiss niemand. Wahrscheinlich aus Irland, vielleicht auch aus Spanien oder aus dem Westen des Frankenreichs. Manche glaubten, er stamme aus Gallien, aus Paris. Aber eigentlich spielte das keine Rolle. Für ihn selbst sowieso nicht. Und für die Menschen, die ihn verehrten, noch weniger. Pirmin war ein frommer Mann, ein Bischof. Zusammen mit ein paar Mönchen zog er quer durch Europa und verkündigte den christlichen Glauben.

Anfang des 8. Jahrhunderts soll Pirmin an den Bodensee gekommen sein. Die Gegend scheint ihm gefallen zu haben. Von einer Anhöhe aus blickte er auf den Untersee und sah eine kleine Insel: die Reichenau. Er bat den Landvogt, zu dessen Besitz sie gehörte, ihm das Stück Land zu überlassen, damit er dort ein Kloster gründen könne. So erzählt es die Legende.

Der Landvogt soll Pirmin gewarnt haben: Auf der Insel könne man nicht leben. Da gebe es nur Gestrüpp, Schlangen und wilde Tiere. Den Heiligen beeindruckte das nicht. «Die Erde ist überall des Herrn», antwortete er und fuhr mit seinen Getreuen zur Insel. An der Stelle, wo sie landeten, entsprang eine Quelle. Die Schlangen stürzten sich vor Pirmin ins Wasser. Dann rodeten die Mönche die Insel, bauten ein Kloster und lebten dort nach der Ordensregel des heiligen Benedikt.

Ganz so, wie die Legende will, war es freilich nicht. Archäologische Grabungen haben gezeigt, dass die Reichenau schon vor dem 8. Jahrhundert besiedelt war. Mit der Gründung des Klosters begann allerdings ein unerhörter Aufschwung. Die Insel wurde zu einem der bedeutendsten Orte der europäischen Geschichte. Wenige Jahrzehnte nach dem Bau des Klosters entstanden weitere Kirchen. Zuerst St. Peter und Paul im Nordwesten der Insel. Im 9. Jahrhundert dann die Kirche St. Georg, deren karolingische Fresken noch heute erhalten sind.

Die Schule der Fälscher

Am 25. April 724, vor 1300 Jahren, wurde die Gründung des Klosters vom fränkischen Hausmeier Karl Martell bestätigt. So steht es jedenfalls in der Urkunde, die als offizielle Gründungsakte der Reichenau gelten soll. Nur, die stammt nicht von Karl Martell, sondern entstand erst rund vierhundert Jahre später. Und sie wurde gefälscht. Auf der Reichenau, im Kloster, das über eine berühmte Schreibwerkstatt verfügte.

Die als Schreiber ausgebildeten Mönche verstanden sich bestens auf den Umgang mit Pergament, Tinte und Siegel. Und hatten offenbar wenig Skrupel, ihre Kunst einzusetzen, um Verträge, Privilegien oder Beglaubigungen nachträglich abzuändern oder neu zu schreiben. Nicht nur für den Eigenbedarf. Reichenauer Fälscher versorgten eine ganze Reihe von Klöstern mit Dokumenten, die im Sinn der jeweiligen Auftraggeber korrigiert waren.

Historiker sprechen von einer «Reichenauer Fälscherschule». Einzelne Fälscher sind namentlich bekannt. Sie leisteten zuverlässige Arbeit, ihre Produkte waren gefragt. Die Urkunde, die sie in eigener Sache gefälscht hatten, ist nicht besonders gut gemacht. Aber sie genügte offenbar, um den Anspruch der Mönche auf die Insel zu bestätigen. Und, Fake hin oder her: Dass das Kloster im Jahr 724 gegründet wurde, ist aufgrund von anderen Quellen durchaus plausibel.

In der grossen Ausstellung im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz, die sich der Geschichte der Klosterinsel Reichenau widmet, gehört die gefälschte Gründungsurkunde zu den unscheinbareren Stücken: Von den zehn Büchern aus der Schreibwerkstatt des Klosters, die 2003 ins Unesco-Weltdokumentenerbe aufgenommen wurden, sind in der Ausstellung fünf zu sehen. Darunter so prachtvolle wie der Egbert-Kodex mit dem ältesten erhaltenen Bilderzyklus zum Leben Christi, das Evangelistar von Poussay mit seinen wunderbaren Engelsdarstellungen.

Geiseln im Kloster

Das Kloster Reichenau war ein Zentrum der hochmittelalterlichen Buchmalerei. Und nicht nur das, es gehörte zu den bedeutendsten Abteien im ganzen Reich. Karl der Grosse besuchte sie im Jahr 780, zusammen mit seiner Frau und seinem Schwager. Er erhob das Kloster zur Königsabtei und stellte es unter seinen persönlichen Schutz. Der damalige Abt Waldo wurde zum Erzieher des Prinzen Pippin ernannt und scheint auch sonst ein Mann für besondere Aufgaben gewesen zu sein: Ein paar Jahre später musste er im Kloster Geiseln unterbringen, die Karl von den unterworfenen Sachsen gefordert hatte.

Reichenau war eng ins Frankenreich eingebunden und politisch bedeutend. Wenn es wirklich der heilige Pirmin war, der das Kloster gründete, dann dürfte er das im Auftrag der Karolinger getan haben. Ihnen diente die Reichenau als Brückenkopf, um die heidnischen Alemannen ins Reich einzugliedern. Dem Kloster bescherte das eine Blütezeit. Schon kurz nach der Gründung lebten im Konvent mehr als hundert Mönche. Die Reichenau befand sich zwar am Rand des Reichs, aber profitierte von der guten Lage in der Nähe von wichtigen Verkehrswegen.

Das Kloster wurde wohlhabend. Bereits am Anfang des 9. Jahrhunderts listet der Bibliothekskatalog über vierhundert Bände auf. Und in der Schreibwerkstatt entstanden die ersten illustrierten Handschriften. Auf den Handelsrouten zwischen dem Rhein und den wichtigen Alpenübergängen wurde vieles transportiert. Es gab alles zu kaufen, was es braucht, um kostbar geschmückte Bücher herzustellen: gegerbte Häute von Kälbern und Schafen, Pigmente zum Anmischen von Farben, Gold und Edelsteine für die Herstellung der Einbände.

Die Mönche, die in der Schreibwerkstatt arbeiteten, waren hochqualifizierte Spezialisten. Sie wussten, was ihre Arbeit wert ist. Auf einer Illustration des Egbert-Kodex stellten zwei Schreibermönche von Reichenau sich selbst dar, wie sie dem Bischof das Buch überreichen, das sie für ihn gemacht haben. Sogar ihre Namen setzten sie daneben. Und in einer Gebetssammlung des 10. Jahrhunderts zeigt eine Bildserie, wie der Schreiber sein Buch dem Abt in die Hand gibt, dieser es an den Gründer des Klosters weiterreicht, bis es über den heiligen Pirmin und den Apostel Petrus schliesslich an Christus selbst übergeht.

Die Schreibwerkstatt des Klosters Reichenau gehörte zu den wichtigsten des Hochmittelalters: Links der Gero-Kodex: Der Mönch Anno übergibt dem Kölner Domherrn Gero den Kodex Kloster Reichenau (vor 969 entstanden); rechts eine Seite aus dem Petershausener Sakramentar: Ecclesia, die Personifikation der Kirche, thront über der Erde.

Bücher für die Könige

Die Schreiber arbeiteten nur zum kleinen Teil für den Bedarf des Klosters. Die meisten Bücher entstanden auf Bestellung von Fürsten und Königen. Die Pracht der Bände und die Art, in der sich die Herrscher darin bildlich darstellen liessen, waren Teil ihrer Repräsentation und Ausdruck ihres Selbstverständnisses: als weltliche Herren und Stellvertreter Christi auf Erden. In der Messfeier waren die in Gold und Edelsteinen eingefassten Prunkbücher zu sehen und demonstrierten den Machtanspruch ihrer Besitzer.

Buchherstellung war ein einträgliches Geschäft. Die Reichenauer Bibliothek gehörte zu den grössten im Reich, die Schreibwerkstatt war so berühmt wie die Klosterschule. Das zog die besten Köpfe an. Walahfrid Strabo, der im 9. Jahrhundert als Novize auf die Reichenau kam, später Mönch und Abt des Klosters wurde, war einer der bedeutendsten Dichter des Mittelalters. Im 11. Jahrhundert machte der Universalgelehrte Hermann der Lahme auf der Reichenau das auf Arabisch überlieferte Wissen über Mathematik und Astronomie für den Westen zugänglich, verfasste historische Werke und vertonte Marienhymnen.

Über Jahrhunderte war die Reichenau ein Zentrum des Wissens, bevor es Universitäten gab. Die Ausstellung in Konstanz zeichnet die Geschichte von Kloster und Insel von der Gründung bis zur Auflösung im 18. Jahrhundert nach, anhand von herausragenden Kunstwerken, die man kaum je wieder so versammelt sehen wird: Handschriften, Skulpturen, Altären und Reliquienschreinen, aber auch Alltagsgegenständen – Schreibwerkzeugen zum Beispiel, Schulheften mit Vokabellisten, Würfeln oder Spielsteinen.

Sie geben Einblick ins Klosterleben und zeigen zugleich, wie gut vernetzt die Reichenauer Mönche waren, zu einer Zeit, als die Welt gross und Reisen gefährlich war. Weil die Fürbitte für das Seelenheil von so entscheidender Bedeutung war, führte man ein Buch, in dem alle Lebenden und Verstorbenen verzeichnet waren, für die im Kloster gebetet wurde. Neben den Mitgliedern der karolingischen Herrscherfamilie vor allem Mönche aus anderen Klöstern, die wiederum die Reichenauer Mönche in ihr Gebet einschlossen.

Das Facebook des Mittelalters

Seit Anfang des 9. Jahrhunderts wurde das Reichenauer Verbrüderungsbuch geführt. Schon zu Beginn schloss es mehr als fünfzig Klöster ein. Im Lauf der Jahrhunderte wurden die Listen immer länger und umfassten schliesslich 38 000 Namen von Mönchen, die quer über Europa verstreut waren.

Eine Art Facebook des Mittelalters also. Und ein Beweis dafür, dass die Welt der Mönche nicht an den Klostermauern zu Ende war. Auch wenn sich das Kloster auf einer Insel befand, die erst im 19. Jahrhundert durch einen Damm mit dem Festland verbunden wurde. Über den Damm erreicht man die Reichenau von Konstanz aus übrigens in einer guten halben Stunde. Die Reise lohnt sich. Im Jahr 2000 wurde die Klosterinsel ins Weltkulturerbe der Unesco aufgenommen. Man kann sehr gut verstehen, dass Pirmin gerade hier ein Kloster bauen wollte.

Die Ausstellung «Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Kloster Reichenau» im Archäologischen Landesmuseum Konstanz ist bis zum 20. Oktober zu sehen. Informationen zur Ausstellung und zu Veranstaltungen unter www.ausstellung-reichenau.de.

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