Donnerstag, Januar 16

Hindu-Nationalisten provozieren mit archäologischen Untersuchungen den Religionsfrieden.

Indien ist voll von Moscheen, die während der Zeit der islamischen Eroberung und Herrschaft vom 11. bis ins 18. Jahrhundert über weite Teile des Subkontinents hinweg errichtet worden sind. Im Volksglauben hat sich in den Jahrhunderten die Ansicht durchgesetzt, viele dieser Moscheen seien von muslimischen Herrschern absichtlich auf die Fundamente hinduistischer Tempel und Schreine gebaut worden.

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Diese Geschichtsklitterung ist in der indischen Politik ein Reizthema und Ursache zahlreicher religiöser Konflikte zwischen Hindus und Muslimen. Zudem werden die Auseinandersetzungen von nationalistischen Hindus bewusst geschürt und politisch instrumentalisiert.

Die jüngst aufgeflammten Streitigkeiten sind nicht neu, wurden aber in den ersten vier Jahrzehnten nach der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 weitgehend in den Hintergrund gedrängt. In den 1980er Jahren kam es jedoch zu einem massiven Volksaufstand mit dem Ziel, den Geburtsort der Hindu-Gottheit Rama in Ayodhya zurückzuerobern. An seiner Stelle stand eine Moschee, die schliesslich im Dezember 1992 von einem wütenden Mob von Hindu-Fanatikern zerstört wurde.

Nach einem langwierigen Gerichtsverfahren wurde den Hindu-Nationalisten gestattet, an der heiligen Stätte einen Tempel zu errichten, der vor einem Jahr eingeweiht worden ist. Den Muslimen wurden als Entschädigung fünf Hektaren Land an anderer Stelle für den Bau einer neuen Moschee zugesprochen.

Erhalt des religiösen Friedens

Bereits vor dem Sturm auf die Babri-Moschee in Ayodhya war 1991 das Gesetz über Kultstätten verabschiedet worden. Mit diesem Gesetz sollte gerade ein solcher Vorfall verhindert werden. Es sollte garantieren, dass der religiöse Charakter aller Gotteshäuser in Indien so erhalten wird, wie er zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit im August 1947 bestand.

Das Gesetz verbietet die Umwandlung von Gebetsstätten und untersagt alle Gerichtsverfahren, die darauf hinwirken sollen, den religiösen Charakter solcher Stätten zu verändern. Die Bestimmung diente damit ganz ausdrücklich dem Erhalt des religiösen Friedens in Indien.

Doch trotz klaren Bestimmungen des Gesetzes ist seine Umsetzung mit Schwierigkeiten verbunden. Radikale Hindus versuchen immer wieder, per Gerichtsbeschluss archäologische Untersuchungen zu erzwingen, um die Rechtmässigkeit von Moscheen anzufechten. Ende des vergangenen Jahres kam es in Sambhal zu schweren Ausschreitungen, bei denen mehrere Muslime getötet wurden. Auch in Varanasi bestanden Hindu-Nationalisten auf einer Untersuchung der dortigen Moschee, da man vermutet, sie sei auf einem Hindu-Heiligtum errichtet worden.

Indiens Oberstes Gericht hat nun die Weisung erlassen, dass keine weiteren Klagen eingereicht werden dürfen und die hängigen Verfahren zusammenzuführen seien. Man hofft, mit dieser vorsichtigen Herangehensweise weitere religiöse Konflikte abwenden zu können.

Historisches Phantombild

Die heftigen Auseinandersetzungen erinnern daran, wie aggressiv in Indien Debatten über die Deutung der Geschichte politisch instrumentalisiert und für einen Umbau der Gegenwart missbraucht werden. Während konservative Denker den Lauf der Zeit gerne aufhalten möchten, so bestehen Hindu-Nationalisten auf archäologischen Untersuchungen, um einen vermeintlichen oder tatsächlichen historischen Zustand wiederherstellen zu können. Ihre Neuerfindung der Geschichte ist nicht in der Ehrfurcht vor der Vergangenheit verankert, sondern in ihrem radikalen Verlangen, die Gegenwart nach einem historischen Phantombild neu zu gestalten.

Geschichte war in Indien oft ein umstrittenes Terrain, aber die Wiederbelebung dieser Konflikte zur Befeuerung politischer Kämpfe im 21. Jahrhundert ist ein ernüchterndes Zeichen für die Zukunft. Die Dämonisierung des muslimischen Mogulreichs zielt darauf ab, die indischen Muslime der Gegenwart zu delegitimieren. Sie werden denn auch als «Babur ke aulad», als Söhne des Invasors Babur und nicht des indischen Bodens, stigmatisiert.

Hindu-Fanatiker lassen sich in ihrem Eifer, die bekanntesten der angeblich von den Moguln zerstörten Hindu-Tempel wiederaufzubauen, auch nicht von dem Gesetz von 1991 abhalten. Der Sieg in Ayodhya reichte den nationalistischen Hindus nicht, sie dürsten nach mehr. Sie führen sich als Rächer der Geschichte auf, indem sie die angebliche Schande von vor fast einem halben Jahrtausend ungeschehen machen möchten. Doch wann wird das aufhören?

Indien ist ein Land, in dem sich Geschichte, Mythos, Religion und Legende oft überschneiden; manchmal können selbst wir Inder den Unterschied nicht mehr erkennen. Das Urteil des Obersten Gerichts zu Ayodhya besagt, dass ein Ram-Tempel gebaut werden dürfe und dass die religiösen Gefühle der Hindus respektiert werden müssten. Das bedeutet zugleich, dass solche Gefühle mehr Gewicht haben als die gesetzlichen Bestimmungen von 1991. Und es besagt auch, dass die religiösen Gefühle der Minderheiten geringer zu gewichten sind als die der Mehrheit, obwohl die Zerstörung der Babri-Moschee ein illegaler Akt war.

Damit wurde ein Landstreit, bei dem es um die kriminelle Zerstörung von Eigentum ging, zugunsten der Zerstörer entschieden. Aber es spricht wiederum für die Einsicht in die fundamentale Bedeutung des Streits, dass die Verlierer im Rechtsstreit – die dortigen Muslime – ihre Ruhe bewahrten.

Verdrängung der Muslime

Für die meisten indischen Muslime geht es bei solchen Auseinandersetzungen nicht um bestimmte Moscheen. Das eigentliche Thema ist vielmehr ihr Platz in der indischen Gesellschaft. Die Zerstörung der Ayodhya-Moschee wurde als Verrat an dem Vertrag empfunden, der mit der muslimischen Gemeinschaft als einem wichtigen Teil der pluralistischen Demokratie Indiens geschlossen worden war.

Die meisten stimmten darin überein, dass die Wiederherstellung des der Gottheit Ram gewidmeten Hindu-Tempels der Gemeinschaft Frieden bringen und ein Thema vom Tisch nehmen würde, das die Beziehungen zwischen Hindus und Muslimen in ganz Nordindien vergiftet hatte. Die wieder aufgeflammten Streitigkeiten um andere Stätten deuten nun darauf hin, dass diese Hoffnung vergeblich war.

Tatsächlich deuteten die Eiferer den Erfolg in Ayodhya als Triumph einer hinduistischen Neuinterpretation der indischen Nationalidee. Ein harmonisches Nebeneinander der Religionen ist dadurch gefährdet, und die Verdrängung der Muslime aus der nationalen Erzählung schreitet voran.

Nehmen wir einmal an, dass sämtliche umstrittenen Moscheen tatsächlich an den Stätten zerstörter Tempel gebaut worden waren. Bedeutet das, dass wir jetzt, so viele Jahrhunderte später, eine alte Wunde wieder aufreissen und Bürgerkriege provozieren sollten, um die Vergangenheit zu rächen? Gibt es nicht viel bessere Gründe, längst verheilte Wunden ungestört zu lassen? Neue Moscheen zu zerstören und sie durch Tempel zu ersetzen, würde nicht altes Unrecht wiedergutmachen, sondern neues begehen.

Wenn der Gerichtshof diesen Streitigkeiten nicht energisch Einhalt gebietet, könnte die Gewalt wieder aufflammen, neue Geiseln der Geschichte hervorbringen und dafür sorgen, dass künftigen Generationen neues Unrecht beigebracht wird, das sie wiedergutmachen müssen. Die Hindu-Bewegung nutzt die Geschichte gerne als ideologische Munition, aber in ihrer Besessenheit, die Vergangenheit ungeschehen zu machen, gefährdet sie unsere Zukunft.

Shashi Tharoor ist Schriftsteller und Jurist. Er ist seit 2009 Mitglied des indischen Unterhauses und wurde bei den jüngsten Wahlen als Mitglied der Opposition wiedergewählt. – Aus dem Englischen übersetzt.

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