Am Sicherheitsforum Raisina Dialogue in Delhi zeigt sich, dass viele Schwellenländer die gegenwärtigen Umwälzungen als Chance sehen. Denn die «guten alten Zeiten» waren nicht für alle gleich gut.
«Wir neigen dazu, ein romantisiertes Bild von der sogenannten regelbasierten Ordnung zu haben, wie wir sie in den letzten fünfzig Jahren gekannt haben», sagt Karim El Aynaoui, der Präsident des Policy Center for the New South, einer Denkfabrik in Marokko. «Je nachdem, ob jemand in Japan oder Marokko, in Kongo oder Italien gelebt hat – er hat diese Zeit völlig anders erlebt.» Der Marokkaner bringt auf den Punkt, dass die bisherige Weltordnung vor allem für die westlichen Länder Stabilität und Sicherheit brachte, viele nichtwestliche Länder hingegen von Krisen und Instabilität geprägt waren.
Der indische Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar bringt das Argument von El Aynaoui aufs politische Parkett. «Die alte Ordnung war ein Produkt ihrer Zeit. Ihre Vorzüge werden übertrieben dargestellt – jene, die Regeln gemacht haben, und jene, die sich den Regeln zu unterwerfen hatten, haben eine ganz andere Perspektive der ‹regelbasierten› Ordnung.»
Nur wer sich anstrengt, kann mitdiskutieren
Jaishankar sagt das auf der Bühne des Raisina Dialogue in Delhi. Das zum zehnten Mal stattfindende Forum ist Indiens Antwort auf die Münchner Sicherheitskonferenz oder den Shangri-La Dialoge in Singapur, wo jährlich Politiker, Militärs und Sicherheitsexperten über die strategische Lage in Asien diskutieren.
Raisina ist inhaltlich breiter, organisatorisch etwas chaotischer als die beiden bekannteren Konferenzen. Die grossen Säle im Hotel Taj Palace, wo die Podien stattfinden, sind häufig überfüllt. Bei Einlass wird gedrängelt, nicht jeder schafft es in den Raum. Ein Teilnehmer meint augenzwinkernd, dass Raisina fast schon symbolisch sei für den Zustand der aktuellen Weltpolitik: «Es braucht einige Kraftanstrengung, um nur schon in den Saal zu gelangen, wo die entscheidenden Fragen diskutiert werden.»
Dafür bildet Raisina die Welt breiter ab: Afrikanische, arabische und lateinamerikanische Sprecher und Delegierte sind gut vertreten. Russen und Iraner sind ebenso eingeladen wie Europäer und US-Amerikaner. Pakistaner hingegen nicht – beim Erzfeind hört die indische Toleranz auf. Auch Chinesen erhalten nur selten eine Einladung. Das Misstrauen Delhis gegenüber Peking ist gross. Das Aussenministerium ist Mitorganisator von Raisina und hat ein Wort mitzureden, wer kommen darf.
Nun wirft der amerikanische Präsident Donald Trump eine Gewissheit in der internationalen Politik nach der anderen über Bord. «Die Welt bewegt sich von einer unipolaren zu einer multipolaren Ordnung, vom Freihandel hin zum Protektionismus, vom Multilateralismus hin zum Unilateralismus», stellte der neuseeländische Premierminister Christopher Luxon bei seiner Rede zur Eröffnung des Raisina Dialogue fest: «Optimismus weicht der Angst.»
Nichtwestliche Länder sehen Chancen
Bei Vertretern nichtwestlicher Länder ist hingegen mehr Zuversicht als Angst zu verspüren. Dino Patti Djalal von der indonesischen Denkfabrik Foreign Policy Community of Indonesia formuliert es so: «Der Rückzug der USA und die Tatsache, dass Europa mit sich selbst beschäftigt ist, bieten für regionale Mächte grosse Chancen.» Er meint damit Länder wie Saudiarabien, Iran oder auch sein Heimatland Indonesien. All diese Länder hätten durchaus Ambitionen, eine aktivere Rolle zu spielen, so Djalal.
Symbolisch zeigt sich diese Verschiebung von westlichen zu nichtwestlichen Akteuren darin, dass die Verhandlungen über einen Waffenstillstand in der Ukraine nicht in Genf, Wien oder New York, sondern in der saudiarabischen Stadt Jidda stattfinden. Dass ein arabischer Golfstaat den Frieden zwischen zwei europäischen Staaten vermittelt, ist aus westlicher Sicht gewöhnungsbedürftig.
Generell zeige sich, dass die nichtwestlichen Länder nicht mehr länger einfach nur Regeln übernähmen, die der Westen für sie mache, sagt Manjeet Kripalani, die Direktorin der indischen Denkfabrik Gateway House: «Wir gestalten nun die neuen Regeln selbst. Der Westen hat erkannt, dass er gewisse Grenzen hat, da sich die Welt verändert hat.»
Mit Bezug auf die Schweiz meint sie, dass neue Organisationen, die unter der Initiative nichtwestlicher Länder entstünden, ihren Sitz sicher nicht in Genf haben werden. Die Zeiten, in denen es für Europa selbstverständlich war, viele Chancen und globale Aufmerksamkeit zu bekommen, sind wohl vorbei. Künftig müsse man dafür arbeiten und sich die Aufmerksamkeit und das Vertrauen anderer Weltregionen verdienen, sagt eine deutsche Vertreterin.
Russland stösst auf viel Zustimmung
In Indien runzelt auch niemand die Stirn, weil Trump Russland und seinen Präsidenten Wladimir Putin wieder salonfähig macht. Selbst russische Duma-Abgeordnete nehmen am Dialog teil. Bei der letztjährigen Ausgabe drängte ein ganzer Reigen vor allem baltischer und skandinavischer Politiker Indien dazu, sich von Moskau zu distanzieren. Aussenminister Jaishankar und andere indische Vertreter lehnten dies freundlich, aber kategorisch ab.
Indien will nicht, dass sich Russland zu eng an China anlehnt, von dem es sich bedrängt fühlt. Und auch das günstige, weil anderswo sanktionierte, russische Rohöl ist in Indien willkommen. Und, so heisst es in Indien immer wieder, seit der Staatsgründung habe Indien in schwierigen Situationen immer auf Russland zählen können. Die Beziehungen Delhis mit westlichen Staaten sind da deutlich wechselhafter.
Heute fühlt sich Indien in seiner Haltung bestätigt, in den letzten Jahren zu Russland gehalten zu haben. Als der ungarische Aussen- und Handelsminister Peter Szijjarto auf der Bühne kritisiert, dass es in der Ukraine schon lange hätte Frieden geben können, wenn Europa der Regierung Orban gefolgt und auf Moskau zugegangen wäre, gibt es aus dem mehrheitlich indischen Publikum spontanen Applaus. Wenn der ehemalige schwedische Aussenminister Carl Bildt hingegen erklärt, dass die russische Aggression die Grundfesten des internationalen Rechts erschüttere, löst das keine Reaktionen aus.
Amerikanische Charmeoffensive
Die Amerikaner haben offensichtlich geahnt, dass sie in Delhi ein Publikum vorfinden, das sie von sich überzeugen können. An der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar kritisierte Vizepräsident J. D. Vance die transatlantischen Verbündeten scharf. Nach Delhi entsandte Washington hingegen Tulsi Gabbard, die Chefin der Geheimdienste. Sie trat charmant auf, umwarb Indien. Als bekennende Hindu erntete sie zusätzliche Sympathien. Gabbard sprach breit lächelnd von den «zwei guten Freunden» Trump und Modi. «America first» bedeute keinesfalls «America alone», so Gabbard.
Dass ein Regierungschef die Interessen seines eigenen Landes bedingungslos über alles andere stellt, klingt in indischen Ohren kaum verwerflich – Premierminister Narendra Modi argumentiert ganz ähnlich. Da sich Indien im Gegensatz zu den Europäern nie einseitig an eine Grossmacht angelehnt hat, steht es auch weniger schutzlos da. In der neuen, multipolaren Welt sieht sich Indien mit seiner langjährigen Politik bestätigt, keinen Allianzen beizutreten und sich mit möglichst vielen Ländern gut zu stellen.