Samstag, April 26

Vor weniger als 200 Jahren versuchte man mit klugen Erweiterungsplänen das unerhörte Wachstum der europäischen Metropolen in den Griff zu bekommen. Diese Kultur brach Mitte des 20. Jahrhunderts ab – paradoxerweise genau dann, als die Herausforderungen an die Städte noch grösser wurden.

Im vergangenen Dezember ist das Raumkonzept Schweiz 2025 als Konsultationsentwurf vorgestellt worden: ein planerisches Leitbild für das gesamte Land. Es stellt die wichtigen Fragen zur mittelfristigen räumlichen Entwicklung der unterschiedlichen Städte und Landschaften der Schweiz. Allerdings scheint der eigene Anspruch dem Leitbild Angst eingeflösst zu haben: Die Antworten bewegen sich auf einem Abstraktionsgrad, der weder die unvermeidlichen Konflikte aufzeigt noch Vorstellungen möglicher Lösungen vermittelt.

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Das Dokument, in seinem Anspruch zwar beispielhaft, ist für das Befinden der zeitgenössischen Planung symptomatisch. Diese bemüht sich, grosse und komplexe Zusammenhänge abzubilden, bleibt aber – nicht nur in der Schweiz – bei den abzuleitenden Strategien vage und versagt sich deren räumliche Darstellung. Das trifft für den nationalen, regionalen sowie städtischen Massstab zu. Nur für kleinere und kleinste Areale traut man sich an konkrete Projekte. Diese wiederum gehen kaum auf die Zusammenhänge ein: Die selbstbezogenen Fragmente bleiben wenig oder gar nicht koordiniert. Entsprechend zusammengewürfelt sehen unsere Siedlungslandschaften, Agglomerationen und Stadterweiterungen aus.

Fragmentierte Abstraktion

Das sah einmal ganz anders aus. 1852, kurz nach dem Staatsstreich, der Louis-Napoléon den Weg zur kaiserlichen Macht ebnen sollte, zeichnete dieser einen Plan von Paris als ein Netz von Boulevards, die zwischen neuen und alten Monumenten gespannt waren. Von seinem Präfekten Georges-Eugène Haussmann wurde er in den folgenden knapp siebzehn Jahren umgesetzt. 1855 legte der Ingenieur Ildefons Cerdà einen regelmässigen quadratischen Rasterplan für die Erweiterung von Barcelona vor, den er mehrfach überarbeitete und auf dem das heutige Eixample basiert.

1859 wurde als Synthese der drei Gewinner einer Architektenkonkurrenz das Bebauungsmuster für das Gelände der abgebrochenen Stadtbefestigung von Wien festgesetzt und anschliessend mit der spektakulären Ringstrasse umgesetzt. Über dreissig Jahre später gewann Otto Wagner den Wettbewerb für den Generalregulierungsplan der gesamten Stadt. 1862 legte der Bau- und Wasseringenieur James Hobrecht einen Plan für Berlin vor, auf dem die weitere Entwicklung der Stadt gründen sollte. 1910 folgte der Wettbewerb Gross-Berlin, der der dynamischen Metropolregion eine zusammenhängende städtebauliche Form geben sollte.

Fünf Jahre später kam die legendäre Initiative Gross-Zürich, deren Aufgabe ein städtebaulicher Plan war, der die rasante Entwicklung der Stadt an der Limmat im Sinn des Gemeinnutzens steuern sollte: Angestrebt war eine moderne Metropole, die effiziente Transportstrukturen, monumentale Stadträume und bezahlbare Wohnanlagen in sich vereinen sollte.

Das beengte Montmartre-Quartier in Paris, Aufnahme um 1910 (links); Eine Malerin in einer alten Pariser Strasse, Foto undatiert.

Wachstum der Metropolen

Es ist kein Zufall, dass das späte 19. Jahrhundert derlei umfangreich angelegte Stadtentwürfe hervorbrachte. Das allgemeine Bevölkerungswachstum, verbunden mit der Ablösung der Agrargesellschaft durch die Industriegesellschaft, liess die europäischen Städte enorm anwachsen.

Paris, nach London die zweitgrösste Stadt Europas, die Anfang des Jahrhunderts etwas über 500 000 Einwohner zählte, wuchs bis Mitte des Jahrhunderts auf 1,3 Millionen und überschritt bis zum Jahrhundertende die Zwei-Millionen-Grenze; ein Drittel der Menschen, die im Stadtbereich lebten, waren Industriearbeiter. Sie überfüllten die heruntergekommenen alten Wohnhäuser der Innenstadt oder belegten Barackensiedlungen am Stadtrand.

Da eine angemessene hygienische Infrastruktur fehlte, machten sich Elend und Krankheiten breit. Um die anderen grossen Städte war es ähnlich bestellt. Sie versuchten, sich zu modernisieren und das unerhörte Wachstum zu rationalisieren: mit entsprechenden Erweiterungsplänen.

Die Ideologien, die diesen Plänen zugrunde lagen, waren unterschiedlich. Sie reichten von den autokratischen Ambitionen des französischen Kaisers bis zur marxistischen Überzeugung des katalanischen Ingenieurs, von der grossbürgerlichen Selbstdarstellung der Wiener Elite bis zu den sozialen Harmonisierungsversuchen im turbulent durchmischten Berlin. Alle zeichneten sich jedoch durch weiträumige Ansätze aus und durch architektonische Konkretheit.

Haussmann legte für seine Boulevards einen weitgehend einheitlichen Wohnhaustyp mit Sandsteinfassaden und durchgängigen schmiedeeisernen Brüstungselementen fest, Cerdà für seine Blöcke schlichte viergeschossige Doppelzeilen mit abgeschnittenen Ecken und grosszügigen Gartenhöfen, Wagner und die Teilnehmer am Wettbewerb Gross-Berlin zeichneten präzise, wunderbare Architekturperspektiven ihrer neuen Stadtteile.

Diese Kultur des grossen städtebaulichen Entwurfs brach Mitte des 20. Jahrhunderts ab – paradoxerweise genau dann, als die Herausforderungen an die Städte noch grösser wurden. Denn nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam zum Wiederaufbau eine zweite, gewaltige Wachstumswelle hinzu. Doch anstatt sie stadtplanerisch aufzufangen, zog sich der Städtebau zurück. Er gab den umfassenden Blick ebenso auf wie den Anspruch der räumlichen und architektonischen Definition.

Der Rückzug war institutionell vorbereitet worden. Auf dem 4. Kongress der modernen Architektur (CIAM), der 1933 mit dem Thema der «funktionellen Stadt» auf einer Kreuzfahrt von Marseille nach Athen abgehalten wurde, wurden die Entwicklungskonzepte von 34 Städten diskutiert und miteinander verglichen. Dafür wurden die Planzeichnungen weitgehend vereinheitlicht, vereinfacht und abstrahiert.

Absichtlich zeigten sie keine räumlichen Stadtelemente, sondern zweidimensionale farbige Raster. Den Rückgriff auf symbolische Zeichen begründete man mit der Notwendigkeit, Stadtplanung wissenschaftlich zu betreiben und auf gesicherte demografische Daten zu stützen. Nicht nur funktionale, sondern auch ökonomische, administrative und soziale Dimensionen sollten berücksichtigt werden. Doch eine Neuigkeit war das nicht. Bereits Cerdà hatte die eigene Arbeit als Begründung einer neuen Wissenschaft präsentiert, und im ersten Heft der Fachzeitschrift «Der Städtebau», das 1904 erschienen war, war die junge Disziplin als grosses und komplexes technisches, ökonomisches und künstlerisches Feld definiert worden.

Die dürftigen Abstraktionen kamen der Stadtplanung der europäischen Nachkriegszeit und ihren Anliegen entgegen. Sie leiteten ihre Prinzipien aus systematischen Analysen der Funktionen und Bedürfnisse ab, die als objektiv dargestellt wurden und daher in der öffentlichen Debatte kaum Angriffsflächen boten. Sie lieferten soziale und wirtschaftliche Informationen zu den Parzellen und machten so ihr ökonomisches Potenzial transparent. Sie liessen breiten Raum für verschiedenste Architekturen, die sie möglichst wenig reglementierten, um den Primat des einzelnen Wohngrundrisses und des individuellen Formpluralismus zu bestärken.

Sie boten auch grosse Flexibilität für zukünftige Veränderungen, die neue, unvorhergesehene Bedürfnisse erfüllen sollten. Und da Fragen der Typologie und der Dichte zu diesen Veränderungen gehörten, öffneten sie den kühnsten Strategien der Bodenverwertung Tür und Tor. Fast überall konnte man fast alles bauen. Der Spielraum wurde genutzt: 80 Prozent unseres gegenwärtigen europäischen Baubestands entstand nach 1945, und diese unerhörte Baumasse ergoss sich in die schier endlosen und formlosen urbanen Peripherien oder in die unkontrolliert zersiedelte Landschaft.

An Reaktionen auf die unübersehbaren städtebaulichen Desaster fehlte es nicht. Die urbanistischen Studien, die in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Architekten wie Aldo Rossi und Carlo Aymonino, von Oswald Mathias Ungers, Rob und Léon Krier und Colin Rowe unternommen wurden, zielten auf die Wiederentdeckung jenes Stadtraums, den die Spätmoderne weggewischt hatte.

Dem grossen Blick versagten sie sich weiterhin: Der einzige Stadtplan, der in Rossis Büro gezeichnet wurde, war «La città analoga» von 1976, eine beunruhigende Collage, die die Unmöglichkeit einer umfassenden Stadtplanung zu zelebrieren scheint. Ungers lancierte ein Jahr darauf mit Blick auf das schrumpfende geteilte Berlin die Vorstellung der Stadt als Archipel, als Addition unterschiedlicher Viertel im Grünen.

Rückkehr der grossen Pläne?

Eine umfassende Betrachtung des Territoriums erwies sich gleichwohl als unumgänglich. Der Versuch, die sozialen, wirtschaftlichen, verkehrstechnischen, rechtlichen und ökologischen Anforderungen an das Territorium miteinander in Einklang zu bringen, wurde allerdings nicht vom Städtebau, sondern zunehmend von der Stadtplanung und dann noch stärker von der Raumplanung übernommen. Doch je umfassender deren Blick wurde, umso abstrakter gerieten und geraten ihre Aussagen – bis hin zur Belanglosigkeit.

Wie im 19. Jahrhundert, vielleicht sogar mehr als damals, stehen heute unsere Städte unter starkem Entwicklungsdruck. Dieser ist eine Bedrohung, aber birgt auch Potenzial. Unkontrolliert gelassen, wird er die Agglomeration weiter ausfransen lassen und die Städte überfüllen und überteuern. Klug kanalisiert, kann er zum Vorteil der gesamten urbanen Gemeinschaft gereichen. Das dafür kongeniale Instrument ist der grosse Stadtplan, der sowohl ökonomischen als auch sozialen Mehrwert zu schaffen vermag.

Eine präzise und umfassende Planung ist heute noch dringlicher als in der Vergangenheit. Denn unsere Städte müssen nicht nur die Zunahme der Bevölkerung aufnehmen, sondern auch deren erhöhte Bedürfnisse: an Wohnraum, an Freiraum, an sozialer Infrastruktur, an Mobilität, an ökologischen Ausgleichsflächen. Diese können nicht auf jedem Areal vollständig erfüllt werden. Es gilt, die für die spezifischen Anforderungen kongenialen Orte zu finden und Synergien zu schaffen zwischen den einzelnen Grundstücken und Quartieren.

Besonders wichtig sind dabei die öffentlichen Räume, die Plätze, die Strassen und Alleen, die Parkanlagen. Sie können die einzelnen Stadtteile miteinander verknüpfen, räumlich und sozial, müssen allerdings entsprechend grenzübergreifend angelegt werden. Um sie herum können die Wohnquartiere besonders hohe Dichten aufweisen, zumal ihre Versorgung mit Freiraum sichergestellt ist. Das entlastet wiederum andere Viertel, die sich vielleicht für Verdichtung weniger eignen.

Das Gleiche gilt für Bahnhöfe, die vor allem Büros und Gewerbe gut anbinden. Für eine effiziente und lebenswerte Stadt müssen Wohn- und Arbeitsviertel, Freizeit-, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Sportkomplexe, Produktionsstätten, Verkehrsstrukturen, Parkanlagen und Naturschutzflächen optimal und synergetisch über das gesamte Stadtgebiet verteilt werden. Je grösser der Planungsrahmen gesteckt ist, desto besser kann die Verteilung vorgenommen werden.

In einer Zeit, in der die Schonung unserer Ressourcen oberste Priorität haben muss, erhält die umfassende Planung eine noch bedeutsamere Rolle. Der Klimawandel trifft die urbanen Ballungsgebiete besonders hart. Sie müssen mit natürlicher Kühlung, Retensionsflächen und Versickerungsfähigkeit reagieren. Nachhaltigkeit und Resilienz vermögen allerdings nicht auf der Ebene des einzelnen Hauses oder der Strasse oder des Parks umgesetzt zu werden, nicht einmal auf jener des Quartiers. Auch gibt es bereits gebaute urbane Bereiche, die wenig ökologische Qualitäten aufweisen, deswegen aber nicht kurzerhand ersetzt werden können und dürfen: Das Defizit muss andernorts ausgeglichen werden. Die Stadt muss solidarisch und als Ganzes mit ihren Ressourcen haushälterisch umgehen.

Hinweise zu einer sinnvollen Verteilung der Nutzungen auf dem Stadtterrain vermitteln freilich schon die zeitgenössischen Flächennutzungs- und Bebauungspläne, aber eben überwiegend pauschal und undifferenziert. Etwas genauer werden die kommunalen Richtpläne. Doch alle geben sie das Was vor und nicht das Wie. Die konkreten räumlichen Konsequenzen und die möglichen Ausgestaltungen der Nutzungsverteilungen und -verknüpfungen zeigen sie nicht auf. Eine Strasse, ein Platz, ein Haus kann die unterschiedlichsten Formen annehmen; und entsprechend auch die unterschiedlichsten Funktionen erfüllen. Das muss ein Stadtbauplan abbilden.

Stadt braucht Planung

Man kann sich allerdings fragen, ob ein derart detaillierter Stadtentwurf nicht zu weit geht und an der Komplexität, auch an der Unberechenbarkeit des vielschichtigen und sich rasch wandelnden Gebildes Stadt vorbei. Kann er das Gewirr von Baugesetzen, Ausnahmeregelungen, Dienstbarkeiten, Einsprüchen und Übergriffen überhaupt noch abbilden? Oder setzt man sich damit nicht naiv über existierende Bedingungen hinweg, etwa die Eigentumsverhältnisse oder die Tatsache, dass unsere Städte in weiten Teilen schon gebaut sind? Nicht zu denken an die vielen, teilweise widersprüchlichen Ansprüche, die an ein zeitgenössisches urbanes Gebilde gestellt werden.

Nicht von ungefähr blieb das Paris von Haussmann unvollendet, zumal der Präfekt angefeindet und schliesslich unlauterer finanzieller Praktiken überführt wurde. Cerdás Barcelona war als grüne Gartenstadt vorgesehen und wurde als hoch verdichtete steinerne Stadt realisiert. Der Hobrecht-Plan, als Instrument der sozialen Durchmischung konzipiert, förderte die berüchtigte Mietskasernenstadt und geriet zum Emblem der Segregation. Von seinem Generalbebauungsplan realisierte Wagner in Wien nur die Stadtbahn.

Die moderne Stadt lässt sich in der Tat nicht vollständig planen und auch nicht wie geplant realisieren. Gleichwohl braucht sie Planung. Und sie profitiert selbst dann davon, wenn diese versagt. Immerhin sind Paris, Barcelona und Wien wunderschöne Städte geworden. Selbst vermeintliche Debakel wie Gross-Berlin oder Gross-Zürich, von denen rein gar nichts umgesetzt wurde, haben den jeweiligen urbanen Entwicklungen wichtige Impulse verliehen.

Unter anderem haben sie die kompetentesten Architekten auf die Bühne gebracht. So Konrad Hippenmeier und Hermann Herter, der als Stadtbaumeister das Baugeschehen Zürichs über zwanzig Jahre lang massgeblich prägte.

An den Bildern der Städte, wie sie als Ganzes erscheinen könnten, lassen sich die verschiedenen Standpunkte und Begehrlichkeiten handfest gegeneinander abwägen, was am ehesten zu einer Vermittlung führt. Es lassen sich die Konsequenzen bestimmter Programmentscheidungen nachvollziehbar veranschaulichen. Und ebenso die verzwickten Zusammenhänge begreifen und ausschöpfen.

Doch die vielleicht wichtigste Aufgabe der grossen urbanen Entwürfe bestand und besteht darin, ihren Städten ein ganzheitliches Selbstverständnis einzuflössen. Die glanzvollen Visionen lassen Zuversicht, Unternehmungslust und auch Stolz aufkommen. Und werfen Fragen auf, an die zuvor möglicherweise gar nicht gedacht wurden: nach dem übergreifenden räumlichen Gefüge der Stadt, nach ihrem architektonischen Charakter, nach ihrer Atmosphäre, ihrer Mythologie und ihrer Identität.

Auch und vor allem im Dickicht der komplexen Aushandlungen und Prozesse, die der architektonischen Form der zeitgenössischen Stadt vorausgehen und vorausgehen müssen, sind Planvisionen notwendig, die sie umfassend, anschaulich und durchaus einnehmend beschwören. Nur so kann sie mehr werden als die Summe der einzelnen Ansprüche: ein Lebensort für eine vielfältige Gemeinschaft, die in den Strassen, Plätzen, Parkanlagen und öffentlichen Gebäuden sich selbst und die eigenen Wünsche, Ziele und Träume widergespiegelt findet.

Der Architekt Vittorio Magnago Lampugnani war von 1994 bis 2016 ordentlicher Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich.

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