Der Kriegspremierminister könnte heute seinen 150. Geburtstag feiern. Eine Führung durch die Keller unter dem Londoner Regierungsviertel verrät einiges über ihn – und über die britische Mentalität.
Winston Churchill gilt bis heute als beliebtester britischer Premierminister aller Zeiten. Kein Wunder, berufen sich heutige Politiker wie Boris Johnson gerne auf Churchill. Auch Kulturinstitutionen lassen sich nicht zweimal bitten, um den Kriegspremierminister mit allerhand Events zu feiern. So organisierte das Imperial War Museum im Vorfeld seines 150. Geburtstags diesen Samstag eine Sonderführung für Journalisten durch die ehemals geheime Kommandozentrale der britischen Kriegsführung während des Zweiten Weltkriegs.
In diese Keller-Räumlichkeiten in der Nähe der Downing Street hatten die Briten nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wichtige Regierungsgeschäfte verlegt. Wie der Kurator des Museums, Nigel Steel, erklärt, war dies freilich nicht das Resultat einer sorgfältigen Planung, sondern von «typisch britischer Improvisationskunst» gewesen.
Hals über Kopf verlassen
Winston Churchills Vorgänger Neville Chamberlain hatte gegenüber Hitler eine Politik des Appeasements verfolgt und keinen Regierungsbunker ausheben lassen. Erst als der Krieg unausweichlich wurde, beschloss man in London kurzerhand, die bestehenden Keller unter einem relativ neuen Verwaltungsgebäude zu nutzen.
Während der Führerbunker in Berlin 8,5 Meter unter dem Boden lag, befanden sich die Cabinet War Rooms bloss 3 Meter unter der Erdoberfläche. Laut Steel wurden die Keller zum Schutz vor deutschen Luftangriffen seitlich mit Stahl verstärkt, zudem wurde ein Zwischengeschoss mit Beton aufgefüllt. «Am Ende schufen wir einen tauglichen Bombenschutz aus dem Nichts, weil wir keine andere Wahl mehr hatten», sagt der Kurator.
Nach dem Kriegsende 1945 verliessen die Beamten die Kommandozentrale Hals über Kopf. Die Cabinet War Rooms gerieten ein paar Jahre lange in Vergessenheit, bis sich eine Nachfolgeregierung an den Keller erinnerte und beschloss, die Räume exakt so für die Nachwelt zu bewahren, wie sie hinterlassen worden waren.
Im Rahmen der Spezialführung ist es möglich, die Räume der Kommandozentrale zu betreten, anstatt sie bloss durch eine Glasscheibe zu betrachten. Im Map Room liegen bis heute Originalakten, -massstäbe und -bleistifte auf den Tischen – selbst Zuckerwürfel, mit denen ein Beamter seinen Tee süsste.
In der Mitte des Raums befindet sich ein Tisch mit Telefonen, über welche die Offiziere der Armee, der Marine und der Luftwaffe Informationen entgegennahmen. Diese bildeten sie mit Zetteln und Stecknadeln auf riesigen Landkarten an der Wand ab, die den Kriegsverlauf in den Meeren, in Europa und in Asien zeigten. «Hier konnte man den Stand des Krieges mit zwölfstündiger Verspätung nachvollziehen», sagt Steel. «Angesichts der analogen Informationstechnologie war das ein atemberaubendes Tempo.»
Ideen und Wutausbrüche
Gleich neben dem Map Room befindet sich Churchills Schlafzimmer. An einem massiven Pult nahm er hier am 11. September 1940 eine berühmte Radioansprache für die BBC auf, in der er der britischen Bevölkerung versicherte, der deutsche Bombenhagel im Blitzkrieg bewege sich im Rahmen des Erwartbaren.
Allerdings schlief der Premierminister nur ungern im kargen Keller. Viel lieber beobachtete er den Bombenhagel vom Dach aus oder suchte die stillgelegte Tube-Station Down Street auf, wo die Chefs der nationalen Eisenbahn guten Wein und Brandy auf Lager hatten.
Ohnehin hatte der Lebemann einen aussergewöhnlichen Tagesablauf, wie Steel ausführt. Am Morgen arbeitete Churchill im Bett, frühstückte, rauchte Zigarren, badete und liess sich von einem Diener für den Lunch ankleiden. Nach dem Mittagessen, zu dem eine Flasche Wein gehörte, arbeitete er bis zu einer Siesta, von der er sich erst für das Abendessen wieder erhob. Nach viel Speis und Trank folgten weitere Arbeitsstunden und mitunter ein Spielfilm, bis Churchill um zwei Uhr morgens mit den Morgenausgaben der Zeitungen ins Bett ging.
Der politisch wichtigste Raum war das Kabinettzimmer, wo Churchill und seine Regierung in Zeiten intensiver Bombenangriffe tagten. Auf der Landkarte hinter dem Stuhl des Premierministers ist Grossbritannien überproportional gross abgebildet. Laut Steel steht dieses Zerrbild für die imperiale britische Geisteshaltung, die Churchills Zuversicht im Krieg nährte.
Laut Steel sprudelte Churchill vor Ideen, erlitt aber auch Wutausbrüche. An seinem Stuhl sind tiefe Kratzer vom Siegelring an seiner Hand zu sehen, mit dem er immer wieder auf die Lehne schlug. Churchill gegenüber sassen die Stabschefs der Landstreitkräfte, der Luftwaffe und der Marine. Sie widersprachen Churchill mitunter und stellten die Praktikabilität seiner Ideen infrage. «Darum hat sich die Demokratie durchgesetzt», meint Steel. «In einer Autokratie fordert der Führer absolute Loyalität und duldet keinen Widerspruch, was zu Fehlentscheiden führt.»