Donnerstag, Oktober 3

Joe Biden will keine Eskalation in Nahost. Trotzdem lässt er sich von Netanyahu immer mehr in einen grösseren Krieg hineinziehen. Warum ist der US-Präsident so machtlos?

Im Nahen Osten werden die Karten gerade neu gemischt. Die gezielte Tötung des mächtigen Hizbullah-Führers Hassan Nasrallah durch Israel war ein historischer und schmerzhafter Nackenschlag für Iran. Auch die USA hatten mit ihm offene Rechnungen. Ein mit Sprengstoff gefüllter Lieferwagen tötete 1983 in Beirut 241 amerikanische Soldaten. Iran und der Hizbullah sollen daran beteiligt gewesen sein. Trotzdem begnügte sich Präsident Joe Biden mit einer kurzen Presseerklärung. Nasrallahs Tod sei eine «Massnahme der Gerechtigkeit» für dessen Opfer. Das oberste Ziel seiner Regierung sei es indes, die Konflikte in Libanon und im Gazastreifen durch Diplomatie zu deeskalieren.

Auch nach dem iranischen Angriff mit 180 ballistischen Raketen auf Israel am Dienstag trat der amerikanische Präsident nicht selbst vor die Kameras. Biden schickte seinen Sicherheitsberater Jake Sullivan vor. Dieser sprach von einer «signifikanten Eskalation» und drohte Iran mit «schweren Konsequenzen». Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanyahu scheint zu einem heftigen Gegenschlag auf Ziele in Iran entschlossen, gleichzeitig treibt er den Einmarsch in Südlibanon voran. Biden sprach sich am Mittwoch gegen einen Angriff auf iranische Atomanlagen aus, verlangte eine verhältnismässige Reaktion und stellte neue Wirtschaftssanktionen gegen Iran in Aussicht. Ganz offensichtlich ist mit der gegenwärtigen Eskalation ein Szenario eingetreten, das Biden unbedingt verhindern wollte – besonders so kurz vor der Präsidentschaftswahl im November.

Eine tiefe «special relationship»

Über Monate versuchte Biden den israelischen Regierungschef vergeblich zu einem Waffenstillstand mit der Hamas im Gazastreifen zu drängen. Er warf Netanyahu gar vor, eine Einigung zu sabotieren, um sich durch den anhaltenden Krieg an der Macht zu halten. Der amerikanische Präsident kritisierte ihn zudem für die vielen zivilen Opfer durch die heftigen Bombardements im Gazastreifen. Netanyahu schade seinem Land dadurch mehr, als dass er ihm helfe, meinte Biden. Mit der Tötung des Hamas-Führers Ismail Haniya in Teheran im Juli liess Netanyahu praktisch seinen Verhandlungspartner umbringen. Trotzdem halten Biden und seine Regierung weiterhin die schützende Hand über Israel. Amerikanische Kriegsschiffe fingen einen Teil der iranischen Raketen am Dienstag ab. «Wir sind stolz auf die Massnahmen, die wir zu Israels Schutz unternommen haben», erklärte Sullivan am Dienstag.

Warum aber kann der mächtigste Mann der Welt seinen Willen gegenüber seinem engsten Verbündeten im Nahen Osten nicht durchsetzen? Gegenüber einem kleinen Staat mit knapp zehn Millionen Einwohnern. Wie lässt sich das erklären?

Zunächst ist Biden im Grunde keine grosse Ausnahme unter den amerikanischen Präsidenten. Bereits John F. Kennedy sprach von einer «special relationship» zwischen den USA und Israel. Diese Beziehung beruhe nicht primär auf strategischen Interessen, schrieb der amerikanische Sicherheitsexperte Anthony Cordesman 2010 in einer Analyse. Die wahren Motive seien moralisch und ethisch. Zum einen handle es sich um eine Reaktion auf den Holocaust. Andrerseits teile Israel als Demokratie praktisch die gleichen Werte wie die USA.

Biden ist stark in dieser Tradition verankert. «Ohne Israel kann sich kein Jude auf der Welt sicher fühlen», sagte der amerikanische Präsident im vergangenen Dezember. Gleichzeitig beruht die Unterstützung für Israel aber auch auf einem breiten Konsens im amerikanischen Kongress. Ein Gesetz aus dem Jahr 2008 schreibt vor, dass die USA bei ihren Waffenverkäufen in den Nahen Osten sicherstellen müssen, dass Israel stets einen militärischen Vorteil behält.

Wachsende Kluft zwischen Republikanern und Demokraten

Über viele Jahre bestand in der amerikanischen Aussenpolitik jedoch auch ein Konsens, dass der Konflikt im Heiligen Land durch eine Zweistaatenlösung beigelegt werden muss. Demokratische und republikanische Präsidenten (Clinton, Bush und Obama) drängten zumindest vordergründig darauf. «Israels Regierung muss verstehen, dass die strategische Beziehung mit den USA davon abhängt, wie aktiv sie einen Frieden mit den Palästinensern sucht», schrieb Cordesman.

Unter Donald Trump verabschiedeten sich die Republikaner indes weitgehend von dieser Forderung. Ohne israelische Gegenleistungen verlegte er die amerikanische Botschaft nach Jerusalem, anerkannte die israelische Annexion der Golanhöhen und sandte einen Fürsprecher der jüdischen Siedlerbewegung als Botschafter nach Israel. Netanyahu nutzt die zunehmende Kluft zwischen den Republikanern und den Demokraten in der Aussenpolitik aus, um die eine Partei gegen die andere auszuspielen.

So bewegt sich Biden in der Nahostpolitik in einem Minenfeld. Wohin er sich auch bewegt, es droht Ungemach. Um Netanyahu zur Deeskalation zu zwingen, müsste er die militärische Unterstützung für Israel ernsthaft infrage stellen. Ohne einen parteiübergreifenden Konsens wäre dies jedoch ein politisches Himmelfahrtskommando. Im Mai setzte Biden eine Lieferung schwerer Bomben an Israel aus. Sofort sprachen die Republikaner von einem Waffenembargo und einem Betrug an Israel, der die Existenz und Sicherheit des Landes gefährde.

Die Aggressionen und der Terror der Hamas, des Hizbullah, der Huthi-Miliz in Jemen und Irans verleihen den republikanischen Vorwürfen eine Berechtigung. Auch sie wollen wie Netanyahu keine Zweistaatenlösung. Teherans «Achse des Widerstands» führt einen Zermürbungskrieg gegen Israel. Und je bedrohlicher die Feinde Israels auftreten, desto weniger dürften die USA zur israelischen Regierung auf Distanz gehen. Vielleicht müsste Biden deshalb am besten eine Doppelstrategie anwenden, wie sie der Journalist und Nahostexperte Thomas Friedman im Januar in der «New York Times» skizzierte. Einerseits gilt es gegenüber Iran und seinen Milizen ein klares Zeichen der Abschreckung zu setzen, um dann anderseits gegenüber Israel wieder auf eine Friedenslösung mit den Palästinensern drängen zu können. Aber so kurz vor der Präsidentschaftswahl und dem Ende seiner Amtszeit ist fraglich, ob Biden das Risiko einer solchen Strategie eingehen will.

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