In der Welt von Internet und Social Media wird für das Fernsehen der sichtbare Kontakt mit der eigenen Klientel immer wichtiger. Doch die technischen Möglichkeiten sind limitiert.
TV-Leute setzen sehr gerne ihre eigenen Kunden in Fernsehstudios. Diese Zuschauer haben für sie vielfältige Funktionen zu erfüllen. So müssen sie für Stimmung während der Sendung sorgen. Zudem sollen sie die grosse Publikumsnähe dieses übermächtigen Mediums belegen. Und dann dienen sie auch noch dazu, den Kameraleuten möglichst viele interessante Reaktionen zu liefern, um bilderarme Sendungen optisch aufzuwerten.
Doch allzu oft wird das Element «Studiogast» auf patzige Weise eingesetzt. Und hie und da ist es sogar kontraproduktiv.
«Warmupper» und «Anklatscher»
Es ist kompliziert. Traditionelle Talkshows setzen sehr oft auf ein Studiopublikum, das sich durch eifriges Klatschen bemerkbar machen soll, wenn es dem Votum eines Gesprächsteilnehmers zustimmt. Diese akustische Reaktion erhält damit beinahe den Wert einer repräsentativen öffentlichen Meinungsumfrage – vor allem in Wahlkampfzeiten wie zurzeit in Deutschland. Deshalb ist die politisch austarierte Zusammensetzung des Studiopublikums ein besonders delikates Unterfangen.
Vor jeder Sendung wird das Publikum instruiert. Ein «Warmupper» erklärt die Regeln. Bei Unterhaltungssendungen heizt er zudem die Stimmung auf. Während in amerikanischen Sendestudios jeweils ein rotes «Applause»-Zeichen gut sichtbar und wiederholt aufblinkt, sind es bei uns oft Leute aus der Produktionsabteilung, die die Aufgabe als «Anklatscher» übernehmen.
Keine blosse Einwegkommunikation
Ein Studiopublikum soll suggerieren, dass ein TV-Programm keine blosse Einwegkommunikation ist, bei der die Inhalte immer vom Sender zum Empfänger fliessen, wie es im Fernseh-Gesamtangebot üblich ist. In der heute alle Bereiche durchdringenden Welt des Internets und der sozialen Netzwerke wirkt dieser Mechanismus aber zunehmend statisch. Die Anwesenheit eines Studiopublikums signalisiert eine für alle sichtbare Zweiwegkommunikation. Der passive Empfänger soll zu einem integralen Teil des Angebots gemacht werden und es damit veredeln.
In einem weiteren Sinn werden die im Studio anwesenden Zuschauer als Vertreter des Gesamtpublikums präsentiert, das sich dadurch aufgewertet fühlen soll. Aus einem meist kalt servierten TV-Angebot soll ein menschelndes, ja geradezu demokratisches werden – hofft man jedenfalls.
Dieses Ziel kann aber auch anders erreicht werden. Bei Frank Plasbergs «Hart, aber fair» wurden von einer Redakteurin jeweils Mails von Zuschauern vorgelesen, die sich zu den in der Sendung vorgebrachten Meinungen äusserten. Die Auswahl dieser Mails wirkte sehr zufällig und liess keine Schlüsse über die Mehrheitsreaktionen der Zuschauer zu.
Plasbergs Nachfolger Louis Klamroth strich diese Form der Interaktion aus seinem Programm. In der CNN-Sendung «Smerconish» arbeitet man hingegen weiterhin mit Zuschauermails, auf die der Moderator aber jeweils direkt reagiert, indem er seine persönliche Zustimmung oder Ablehnung begründet. Er führt also eine Art Ferngespräch mit einzelnen Zuschauern. Zudem lässt er sein Publikum im Internet immer über eine aktuelle Frage abstimmen und präsentiert das Resultat am Ende der Sendung.
Die Platzierung des Publikums
Einen anderen Ansatz wählt die «Arena» bei SRF. Dort verwendet man seit Jahren ein Studiodesign, bei dem ein Teil des Publikums in eine obere Etage strafversetzt – und damit als reines Dekorationsmaterial missbraucht – wird, während auf den unteren Rängen gern Schulklassen als meist gelangweilte Versatzstücke hinter den geladenen Polit-Protagonisten platziert werden.
Die wenigen vom Moderator bei diesen Statisten eingeholten Statements wirken meist ungelenk. Sie strahlen einen zwanghaften «Wir geben auch unserem Jungvolk eine Stimme»-Groove aus. Damit vermindert dieser Bildfüller, der dem Programm einen jugendlichen Look verpassen sollte, oft die Wertigkeit der Sendung.
Bei «Caren Miosga» in der ARD und «Maybrit Illner» im ZDF hat das Publikum weiterhin seine traditionelle Funktion: Besonders bei prominenten Teilnehmern erstarrt es oft in Ehrfurcht. Nur hie und da macht es sich durch diskretes Klatschen bemerkbar. Durch seine Platzierung im Rücken der Diskussionsplattform wird seine Präsenz auch optisch massiv eingeschränkt.
Nur wenn ein knallhartes Interview angeboten wird – wie kürzlich beim Gespräch von Caren Miosga mit dem FDP-Spitzenmann Christian Lindner –, ist es manchmal anders. Da buhlte der politisch stark lädierte Lindner ganz offen um die Gunst des Studiopublikums.
Bei «Maischberger» dagegen wird das wenig zahlreiche Publikum ganz nahe bei ihrem Talk mit dem prominenten Gast platziert. Beim Start ihrer neuen Sendung wurde es jeweils mit der Floskel «. . . und ich begrüsse mein phantastisches Publikum» eingeführt, was dieses mit begeistertem, gut eingeübtem Applaus quittierte.
Das wirkte jedoch so aufgesetzt und anbiedernd, dass die Moderatorin ihre Formulierung in der Folge auf «mein tolles Publikum», später auf «mein Publikum» laufend weiter abschwächte. Seit sich die Sendung definitiv etabliert hat, wird es überhaupt nicht mehr namentlich erwähnt.
Das leere Pandemie-Studio
Dann kam Corona. Plötzlich waren die Zuschauer weg, die Studios leer. In dieser Ausnahmesituation erkannten einige Fernsehmacher auch positive Aspekte: Das Publikum verhindert vielfach, dass sich besonders intime Gesprächssituationen ergeben können. Wenn keiner der Teilnehmer pausenlos applauswürdige Aussagen raushauen muss, entstehen oft differenziertere und überraschende Sequenzen.
So hat sich Markus Lanz mit seiner dreimal wöchentlich ausgestrahlten Show im ZDF entschieden, nach Corona zwar aus dem bisherigen Studio weiterzusenden, dort aber die Zuschauerbänke leer zu lassen. Die Sendung hat in dieser Form einiges an Substanz und Renommee zugelegt und gilt zurzeit, trotz sehr spätem Ausstrahlungstermin, als politisch relevanteste Talkshow Deutschlands.
Pointen ohne Lacher sind tödlich
Für Comedysendungen ist hingegen ein Studiopublikum unerlässlich. Pointen ohne Lacher sind tödlich. Das hat man in den USA, im Mutterland des Fernsehens, schon vor Jahrzehnten erkannt. Darum gibt es dort Lachmaschinen, sogenannte «laff boxes», die Lachlücken übertönen.
Zudem wird das Publikum vom «Warmupper» aufgeputscht. Damit will man eine stimmungsmässig optimale Vorlage für den Star des Abends liefern. Und man filmt Bildsequenzen von besonders amüsierten, lachenden oder feixenden Menschen, die man anschliessend ins Programm hineinschneiden kann, falls solche Sequenzen später nicht in genügender Zahl eingefangen werden können. Denn jede Sendung hängt hie und da durch.
Bei den seit Jahren vom Publikum geliebten Comedians funktionieren die Monologe zum Sendungsbeginn fast von alleine. Die Fans sind bei ihren verehrten Stars bereit, beinahe auf Knopfdruck loszugrölen. So ist es bei allen amerikanischen Late-Night-Hosts, von Stephen Colbert über John Stewart bis zu Bill Maher oder Jimmy Fallon. Gleiches gilt für Oli Welke in der «Heute-Show», und so war es früher auch bei «Giacobbo/Müller» bei SRF.
Viel schwerer haben es junge oder gar unbekannte Comedians. Das erlebt zurzeit auf geradezu schmerzliche Weise Stefan Büsser mit «Late Night Switzerland» bei SRF. Wenn seine ersten drei Witze nicht zünden, scheint das Publikum zu erstarren. In der Folge wird es für den begabten Büsser hie und da zu einem Höllenritt, bis er die flaue Stimmung wieder hochkriegt.
Hungriges und durstiges Publikum
Auch grosse TV-Shows brauchen ein Studiopublikum. Je ambitiöser und aufwendiger eine Sendung ist, desto grandioser müssen die Lokalitäten sein, die man mit permanent begeisterten Zuschauern aufzufüllen hat. Das ist logistisch nicht immer leicht zu bewältigen. Darum setzt man auf Agenturen.
Viele Shows werden nicht am Stück aufgezeichnet, sondern Segment für Segment. Bis alles sitzt und später als scheinbar perfekt produzierte Live-Show durchgehen kann, dauert es schon einmal fünf oder sechs Stunden. In dieser Zeit muss das bald einmal unruhige, hungrige und durstige Klatschpersonal irgendwie bei Laune gehalten werden.
Ein weiterer Ansatz für Unterhaltungsprogramme besteht darin, dass man aus dem Studio heraus- und dort hingeht, wo sich die Zuschauer befinden. So ist SRF ständig «bi de Lüt»; auf dem Dorfplatz, in Berghütten, bei Auswanderern in fernen Ländern oder in den Küchen von trachtenbestückten Landfrauen. Dieser volkstümelnde Ansatz ist für den Schweizer Gebührensender so erfolgreich, dass er seit Jahren immer stärker ins Programm wuchert.
In der heute übermächtigen Welt von Internet und Social Media, in der alle mit allen permanent kommunizieren können, wird für das Fernsehen der sichtbare Kontakt mit der eigenen Klientel immer wichtiger. Doch die technischen Möglichkeiten, die diesem Medium aus der Mitte des letzten Jahrhunderts dazu zur Verfügung stehen, sind limitiert. Viele Versuche, diesen Nachteil aufzuholen, wirken deshalb unbeholfen. Andere führen in eine falsche Richtung.
Es würde dem Medium besser anstehen, den knallharten Wettbewerb mit der Herausforderung der digitalen Entwicklung unverkrampft aufzunehmen – indem man die immer noch vorhandenen beträchtlichen eigenen Stärken ausspielt. Dazu gehört etwa die Sicherheit über die Seriosität des Absenders, die im Internet zu oft nicht gegeben ist. Denn alle Prognosen über das baldige Ende des linearen Fernsehens sind nicht nur verfrüht, sondern werden sich noch sehr, sehr lange als falsch herausstellen.