Menschen vor Ort berichten von Massenexekutionen. Der Gewaltausbruch bedroht die Stabilität des neuen syrischen Regimes.

Es war offenbar eines der blutigsten Wochenenden seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs vor vierzehn Jahren: Über tausend Menschen wurden bei Zusammenstössen zwischen Asad-Loyalisten und Sicherheitskräften des neuen syrischen Regimes getötet. Das berichtete am Samstag die in Grossbritannien ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte.

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Unter den Toten sollen sich 745 Zivilisten befinden – mehrheitlich Mitglieder der religiösen Minderheit der Alawiten, aus der auch der gestürzte syrische Präsident Bashar al-Asad stammt. Sie wurden laut der Beobachtungsstelle in rund dreissig verschiedenen Massakern am Freitag und am Samstag getötet. Zudem sollen 148 Mitglieder von Asad-treuen Milizen sowie 125 Sicherheitsbeamte der neuen Regierung getötet worden sein. Laut offiziellen syrischen Quellen sollen die Truppen der Übergangsregierung sogar mindestens 200 Opfer zu beklagen haben, wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtet.

Der Gewaltausbruch ist die bisher grösste Bedrohung für die Stabilität des neuen Regimes unter Präsident Ahmed al-Sharaa, dessen islamistische Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) Anfang Dezember in Damaskus die Macht übernommen hat.

Menschen vor Ort berichten von Massenexekutionen

Auslöser der Kämpfe war ein Einsatz der syrischen Sicherheitskräfte am Donnerstag in der Nähe der Küstenstadt Latakia – eines Gebiets, das mehrheitlich von Alawiten bewohnt wird. Als die Vertreter des neuen Regimes in das Dorf Beit Ana einrückten, gerieten sie mit einem Mal unter Feuer. Hinter den koordinierten Angriffen sollen Loyalisten des Asad-Regimes gesteckt haben, die kurz darauf in der gesamten Küstenregion Checkpoints und Polizeiposten überfielen.

Die syrische Übergangsregierung unter Ahmed al-Sharaa schickte daraufhin Verstärkung an die Westküste Syriens. Offenbar sollen sunnitische Kämpfer, die loyal gegenüber dem neuen syrischen Regime sind, schon am Freitag mit Racheakten gegen die Zivilbevölkerung begonnen haben. Laut Bewohnern vor Ort, die mit der Nachrichtenagentur Associated Press und dem britischen Fernsehsender Sky News sprachen, haben die bewaffneten Männer Alawiten auf die Strassen getrieben und massenhaft erschossen. Zudem sollen mehrere Häuser geplündert und angezündet worden sein.

Gemäss der Denkfabrik Institute for the Study of War handelt es sich bei einigen der regierungstreuen Kämpfer wohl auch um bewaffnete Kämpfer der von der Türkei unterstützten Syrischen Nationalen Armee (SNA), die noch nicht vollständig in die offizielle, neu gegründete syrische Armee integriert sind. Laut dem Islamwissenschafter Reinhard Schulze werden unter anderem ausländische, ultrareligiöse Milizionäre aus den Rängen der SNA verdächtigt, an den Massakern beteiligt gewesen zu sein. Dies schreibt der emeritierte Professor der Universität Bern auf X.

Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte hörten die Rachemorde am Samstag auf. «Dies war eines der grössten Massaker seit Beginn des Konflikts in Syrien», sagte Rami Abdelrahman, der Gründer der Beobachtungsstelle, die den Konflikt in Syrien durch ein Netzwerk von Informanten vor Ort verfolgt.

Neue Machthaber sind unter Druck

Für Syriens neuen Präsidenten Ahmad al-Sharaa ist der Gewaltausbruch eine Machtprobe. «Wir müssen die nationale Einheit und den inneren Frieden bewahren», sagte Sharaa am Sonntag in einer Videobotschaft, die in einer Moschee in Damaskus aufgenommen wurde. Gleichzeitig spielte der neue Machthaber die Tragweite der Ereignisse herunter: «Was derzeit in Syrien geschieht, liegt im Rahmen der erwarteten Herausforderungen.»

Noch wird in der Küstenregion gekämpft. So sollen die Truppen der Übergangsregierung zwar die grossen Städte im Westen des Landes unter Kontrolle haben, doch offenbar kam es in der Nacht auf Sonntag zu weiteren Gefechten in dem Gebiet. So sollen Asad-Loyalisten ihre Angriffe auf die öffentliche Infrastruktur verlagert haben. Laut der Nachrichtenagentur Reuters haben die Aufständischen ein grosses Elektrizitäts- und Wasserwerk sowie mehrere Treibstofflager beschädigt. In Teilen der Küstenregion fiel der Strom aus. Am Sonntag berichtete die staatliche syrische Nachrichtenagentur zudem von Kämpfen um das Gaskraftwerk Banias in der Nähe von Tartus.

Viel wichtiger als der Verlust von Wasser und Strom wird allerdings der Verlust an Vertrauen sein. Nach den Massenmorden am Freitag und am Samstag könnten sich die ohnehin schon skeptischen Alawiten den übrig gebliebenen Asad-Loyalisten zuwenden. Viele Alawiten waren nach Jahren der Korruption und des Bürgerkriegs zwar ebenfalls von Asad enttäuscht, doch wenn es um Leben und Tod geht, könnten sie ihren ehemaligen Schutzpatronen in die Arme getrieben werden.

Die Kämpfe kommen für Syriens Präsidenten Sharaa zur Unzeit. Nicht nur zeigen sie, dass er bei weitem nicht ganz Syrien kontrolliert. Sein Land ächzt zudem immer noch unter harten Sanktionen, die einst gegen das Asad-Regime verhängt worden waren und bisher nur teilweise gelockert wurden. Sollte sich die wirtschaftliche Lage verschlechtern, könnte sich auch in anderen Regionen des Landes die Bevölkerung gegen Sharaa wenden. Eines ist nach den Massakern am Wochenende klar: Weitere Lockerungen der Sanktionen stehen wohl erst einmal nicht auf der Agenda westlicher Hauptstädte.

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