Vor vierzig Jahren liess ein Psychologe Paare im Labor streiten und revolutionierte damit die Eheforschung. Die Erkenntnisse aus dem Fachgebiet könnten seither die Liebe retten – wenn wir sie denn nutzen würden.
1. Der Abwasch – welche Probleme ewig sind
Brooke und Gary haben ihre Gäste verabschiedet, nun sitzt Gary auf dem Sofa und spielt ein Videospiel. Brooke steht in der Küchentür: «Ich wasche jetzt ab.» Gary: «Cool.» Brooke: «Es wäre nett, wenn du mir helfen würdest.» Gary: «Kein Problem, vielleicht etwas später. Ich will nur noch ein bisschen . . .» Brooke: «Komm schon, ich will nicht später noch abwaschen.» Gary (spielt weiter): «Ich bin so erschöpft, ich möchte einfach ein wenig entspannen . . . Machen wir den Abwasch doch morgen.» Brooke: «Du weisst, ich wache nicht gern mit einer dreckigen Küche auf.» Gary: «Wen stört das schon?» Brooke: «Mich stört das, okay? Ich habe den ganzen Tag gearbeitet, geputzt, gekocht, es wäre nett, wenn du dich bedanken würdest. Und mir beim Abwaschen helfen.» Gary verdreht die Augen und steht auf: «Gut, ich helfe dir bei dem verdammten Abwasch.» Brooke: «Weisst du was? Das ist nicht das, was ich will.» Gary: «Du sagtest gerade, du willst, dass ich beim Abwaschen helfe.» Brooke: «Ich will, dass du abwaschen willst!» Gary: «Warum sollte ich abwaschen wollen?» Brooke: «Siehst du, genau das meine ich!»
Kommt Ihnen diese Szene bekannt vor? Der Dialog ist so bezeichnend, dass er auf Youtube und Tiktok millionenfach angeklickt wurde. Er stammt aus «The Break-Up», und obwohl der Film zwanzig Jahre alt ist, streiten sich die Leute in den Kommentarspalten noch immer, wer von den beiden recht hat. Ist Gary faul oder Brooke eine notorische Nörglerin? Müsste er endlich den Hintern hochkriegen oder sie einfach etwas lockerer werden? Und: Wann soll der verdammte Abwasch denn nun erledigt werden?
Die Antwort aus der Paarforschung lautet: Es gibt keine. Brooke und Gary werden sich über dieses Problem streiten, bis ein Gericht sie scheidet. Das hat nichts mit dem Abwasch zu tun, der Streit könnte sich ebenso gut an etwas anderem entzünden. Denn egal, ob Sie dreckige Teller oder liegengelassene Socken in den Wahnsinn treiben oder ob Sie sich nerven, dass Ihr Partner die Angewohnheit hat, zu trödeln oder zu hetzen, die Eltern zu häufig oder zu selten einzuladen, zu knausrig oder zu verschwenderisch zu sein – die Chance ist gross, dass dieser Streit Sie immer wieder heimsuchen wird.
Das sagt John Gottman, der berühmteste Paarforscher der Welt. Und weil er nicht nur Psychologe, sondern auch Mathematiker ist, liefert er eine Zahl mit: 69 Prozent aller Konflikte in Liebesbeziehungen drehen sich um sogenannte «ewig andauernde Probleme», die eigentlich unlösbar sind.
John Gottman, 82, hat in den vergangenen Jahrzehnten die Paarforschung revolutioniert. Natürlich interessierte sich die Wissenschaft bereits zuvor für Ehekonflikte. Die Forschung dazu erlebte einen ersten Boom, als in den 1960er Jahren die Scheidungszahlen anstiegen. Um die Gründe dafür zu finden, legten die Psychologinnen und Psychologen den Leuten oft Fragebögen vor und liessen sie Auskunft geben über die Probleme, Konflikte oder unerfüllten Wünsche, die zum Scheitern der Ehe geführt hatten.
Gottman, der neben Psychologie und Mathematik auch Physik studiert hatte, wählte einen radikal anderen Weg. Er beobachtete Ehepaare, lange bevor ein Ende ihrer Ehe in Sicht war. Denn ihn interessierte nicht nur, warum manche Paare auseinandergingen. Er wollte auch wissen, wie die anderen es schafften, zusammenzubleiben.
Als Naturwissenschafter betrachtete Gottman die Liebe wie ein Meteorologe das Wetter und Trennungen wie Hurrikane oder Hochwasser. Statt nach einer Katastrophe über die Ursachen zu mutmassen, wollte er wissen, was davor passiert war. Seine Idee: Würde man die Stimmungen während der Beziehungen aufzeichnen, könnte man in diesen Daten rückblickend Muster erkennen, die zum Gelingen oder Scheitern einer Liebe geführt hatten.
Mitte der 1980er Jahre startete Gottman eine Langzeitbeobachtung. Gemeinsam mit seinem Kollegen Robert Levenson lud er 700 Paare in sein «Marriage Lab» in Seattle ein. Dort wurden die Liebenden verkabelt, um körperliche Reaktionen wie Herzfrequenz oder Blutdruck aufzuzeichnen. Dann mussten die beiden vor laufender Kamera streiten. Sie sollten über einen Konflikt sprechen, der sie gerade beschäftigte. Überraschenderweise hatten die Paare keinerlei Schwierigkeiten mit den Laborbedingungen: Nach spätestens zwei Minuten zofften sich die meisten ungeniert. Gottman und Levenson unterteilten die Videoaufnahmen danach in 10-Sekunden-Sequenzen, codierten jedes Wort, jede Stimmlage, jeden Gesichtsausdruck und jede Bewegung und fütterten den Computer mit den Daten.
Über die Jahre kamen die Paare immer wieder zum Streiten ins Labor. Manche blieben zufrieden, andere wurden unzufriedener, eine ganze Reihe trennte sich. Schliesslich hatte Gottman genügend Daten gesammelt, um darin nach den Mustern zu suchen: Was hatten die Paare, die immer noch glücklich waren, beim Streiten anders gemacht als jene, die unglücklich wurden oder sich getrennt hatten? Worin unterschieden sich die «Master», wie Gottman die zufriedenen Paare nannte, von den scheiternden «Desastern»? Einige der ersten Erkenntnisse überraschten die Forscher selbst:
Paare, die häufig zanken, sind nicht unglücklicher und trennen sich auch nicht öfter als Paare, die das selten tun. Entscheidend ist, wie ein Paar sich streitet.
Es gibt vier typische Verhaltensweisen, die Konflikte eskalieren lassen und die Beziehung gefährden (dazu später mehr).
Und: In 69 Prozent der Fälle streiten Paare über Probleme, die nicht lösbar sind und auch nie verschwinden werden. Das sei ernüchternd gewesen, sagte Gottman später: «Die Paare sitzen da, nach drei, sechs, zwölf Jahren, ihre Frisuren und Kleider haben sich verändert, vielleicht haben sie ein paar Kilo zugenommen, und sie streiten jedes Mal in der genau gleichen Art über das genau gleiche Thema.»
Es gibt kein Richtig oder Falsch
Ewige Probleme sind der Bumerang in einer Beziehung. Um sie zu erkennen, reicht eine einfache Frage: Ist das Problem in dieser speziellen Situation entstanden und auf diese begrenzt? Wenn Gary aus unserem Beispiel für gewöhnlich beim Abwasch hilft, aber ausnahmsweise zu müde ist, handelt es sich um ein vorübergehendes und lösbares Problem. Wenn Gary aber dazu neigt, Aufgaben zu verschieben, während Brooke gern alles sofort erledigt, ist es ein unlösbares ewiges Problem, das immer wieder und in unterschiedlichen Situationen auftauchen wird. Diese Probleme reichen tiefer: Sie gründen auf den verschiedenen Persönlichkeiten, Einstellungen und Bedürfnissen von zwei Menschen, die ihr Leben teilen.
Ewige Probleme sind unvermeidlich. Wer einen Partner wählt, entscheidet sich für ein ganzes Set davon. Vielleicht plant einer alles durch, während der andere lieber spontan handelt. Vielleicht ist der eine extrovertiert und der andere introvertiert. Vielleicht legt einer Wert auf eine saubere Wohnung, und der andere stört sich nicht an ein bisschen Schmutz. Bei den Problemen, die daraus entstehen, gibt es kein Richtig oder Falsch, nur unterschiedliche Vorstellungen und Vorlieben.
Jedes Paar kämpft mit seinen eigenen ewigen Problemen, und doch drehen sich die meisten um dieselben Themen. Man streitet darüber, wie man den Haushalt führt, die Kinder erzieht oder die Freizeit gestaltet. Oder darum, wofür das Geld ausgegeben wird, wie oft man die Schwiegereltern oder Freunde trifft, wie häufig man Sex hat und welche Lebensziele man anstrebt.
Doch nicht jede Verschiedenheit führt zu Krach. In vielen Bereichen gelingt es, die ewigen Probleme humorvoll und freundlich zu umschiffen. Wer sich immer wieder darüber aufrege, dass der Partner anders ticke, sagt Gottman, «der kann sich genauso gut darüber nerven, dass sein Partner Linkshänder oder Brillenträger ist». Das klassische Rezept fürs Desaster ist: Wir verlieben uns in einen Menschen, weil er anders ist als wir, spontaner vielleicht oder organisierter oder weniger perfektionistisch. Dann versuchen wir über Jahre, ihn dazu zu bringen, mehr so zu sein wie wir. Und werden schliesslich bitter, weil das nicht klappt.
2. Pünktlichkeit – wie Streit eskaliert
Sie steht angezogen im Gang, er ist noch im Bad. Sie ruft: «Musst du schon wieder trödeln? Nie kannst du pünktlich sein. Das ist so typisch!» Er ruft zurück: «Willst du wieder eine Viertelstunde auf dem Bahnhof frieren, so wie letztes Mal? Ich hab ja gesagt, dass es knapp wird, wenn ich vorher Blumen besorgen muss. Und überhaupt: Wieso besuchen wir eigentlich immer deine Freunde und nie meine?» Sie verdreht die Augen und sagt: «Klar, der Herr kann natürlich nichts dafür. Er kann halt einfach die Uhr nicht lesen!» Bis die beiden losgehen, sagt er kein einziges Wort mehr.
Der unterschiedliche Umgang mit Zeit ist ein klassisches ewiges Problem. Aber hier geht es nicht darum, worüber das Paar sich streitet, sondern wie. Denn Konfliktgespräche verraten, ob eine Beziehung hält.
Das zumindest sagt John Gottman. Der Forscher interessierte sich ab den 1990er Jahren nicht mehr nur dafür, was in der Gegenwart eines Paares passiert. Er wollte auch in dessen Zukunft blicken. Konnte man aus dem Konfliktverhalten herauslesen, wo sich ein Hurrikan zusammenbraut? Um diese Frage zu beantworten, liess Gottman erneut Paare in seinem Labor streiten, in einer Studie waren es 130 frisch verheiratete. Bei 15 von ihnen erkannte Gottman die typischen Muster, die er in seinen früheren Untersuchungen bei den «Desastern» identifiziert hatte. Er vermutete deshalb, dass diese Ehen nicht lange überleben würden.
Das Liebesorakel funktionierte: Sieben Jahre nach dem Besuch im Labor waren 17 der 130 jungen Ehepaare nicht mehr zusammen – unter ihnen jene 15, bei denen Gottman das prophezeit hatte. Über die Jahre beobachtete Gottman viele hundert Paare; er bezog auch verschiedene Ethnien und homosexuelle Beziehungen in seine Forschung ein. Schliesslich war er sich sicher: Aus 15 Minuten Streit lässt sich herauslesen, ob ein Paar sich trennen wird, und das mit einer Genauigkeit von 91 Prozent.
John Gottman und seine Frau Julie bauten auf solchen Aussagen ein ganzes Imperium auf, mit Therapiekonzepten, Ratgebern und Workshops. Inzwischen sind manche seiner Zahlen umstritten, weil andere Forscher die Ergebnisse nicht replizieren konnten. Unbestritten aber ist, dass Gottman in seinem Labor die Mechanismen entdeckte, die einen Streit zu einem Trennungsrisiko machen.
Ein Faktor ist, wie er beginnt. Gemäss Gottmans Statistik lässt sich in 96 Prozent der Fälle aus den ersten drei der fünfzehn Minuten herauslesen, in welcher Stimmung das Gespräch enden wird. Trägt einer der Partner sein Anliegen mit einem harschen Einstieg vor, also mit einer scharfen Kritik oder einem heftigen Vorwurf («Musst du schon wieder trödeln?»), wird der Konflikt beinahe zwingend eskalieren.
Der zweite Faktor sind die negativen Interaktionen, die während des Streits vorkommen. In Gottmans Codierungssystem wurde jede Bemerkung, jede Geste, jeder Gesichtsausdruck als positiv, neutral oder negativ eingestuft und dann in Kategorien eingeteilt. Vier davon erwiesen sich als so zerstörerisch, dass der Forscher sie nach den biblischen Vorboten des Weltuntergangs benannte: «Die vier Reiter der Apokalypse».
Das gefährlichste Gefühl ist Verachtung
Der erste Reiter ist destruktive Kritik. Natürlich nerven wir uns alle hin und wieder über etwas, das unser Partner tut, und wir sollten das auch ansprechen. Aber es macht einen Unterschied, ob wir uns über die Situation beschweren («Es stresst mich, wenn wir zu spät dran sind») oder ob wir auf den Charakter zielen («Nie kannst du pünktlich sein!»). Wörter wie «immer» und «nie» sind typisch für destruktive Kritik, ebenso negative Zuschreibungen wie «egoistisch», «gedankenlos», «faul», «verschwenderisch», «toxisch» oder eben: «Typisch für dich!»
Wer jetzt seine eigenen Worte wiedererkennt, muss nicht gleich den Scheidungsanwalt anrufen. Viele Paare streiten so. Aber destruktive Kritik bringt nichts, niemand wird darauf antworten: Ja, Schatz, entschuldige, du hast recht, ich bin ein trödelnder Egoist, der die Uhr nicht lesen kann. Im Gegenteil: Diese Art der Kritik zieht fast automatisch weitere negative Verhaltensweisen nach sich. Der erste der vier apokalyptischen Reiter ist sozusagen die Vorhut, die die anderen drei aufs Schlachtfeld ruft. Und die sind weitaus gefährlicher.
Der zweite Reiter heisst Abwehr. Statt sich mit dem Problem auseinanderzusetzen und vielleicht sogar Verantwortung dafür zu übernehmen, weist der Angegriffene sofort jede Schuld von sich. Er spielt das unschuldige Opfer («Ich musste noch Blumen besorgen»), reagiert mit einer Gegenbeschuldigung («Willst du wieder auf dem Bahnhof frieren?») oder wechselt das Schlachtfeld, indem er alte Geschichten aufwärmt («Wieso besuchen wir immer deine Freunde und nie meine?»). Der Streit wird so schärfer oder lauter, jeder Kompromiss rückt in weite Ferne.
Bei manchen Paaren kommt nun der verheerendste der vier Reiter angaloppiert: Verachtung, ein Verhalten, mit dem der Partner abgewertet und erniedrigt wird. Das kann mit sarkastischen Bemerkungen oder feindseligem Humor geschehen («Der Herr kann ja die Uhr nicht lesen»), aber auch durch hämisches Lachen, Nachäffen oder Augenrollen. Verachtung ist so gefährlich, weil sie bei einem Paar das Gefühl von Vertrauen, Respekt und Nähe untergräbt. Interessanterweise kommt dieser Reiter bei Frischverliebten kaum vor. Es braucht eine ganze Reihe von Frustrationen, unerfüllten Bedürfnissen und Missverständnissen, bis das Gefühl in Geringschätzung umschlagen kann.
Auch der vierte Reiter ist in neuen Beziehungen kaum zu finden: das «Mauern», bei dem ein Partner versteinert, nicht mehr antwortet oder den Raum verlässt. In heterosexuellen Beziehungen ist es in 85 Prozent der Fälle der Mann, der so reagiert. Frauen neigen dafür stärker zu destruktiver Kritik.
Gottman hat in seinen Daten aber auch eine Wunderwaffe gefunden, um Konflikte zu entschärfen: Die sogenannte Gottman-Konstante. Paare, die glücklich blieben, glichen jede negative Interaktion mit fünf positiven aus, wobei schon ein Lächeln, ein verständnisvolles Nicken, eine Berührung oder der Satz «Das verstehe ich» zählt. Unglückliche Paare erreichten statt der Rate 5:1 oft nur 0,8:1, sie verhalten sich also häufiger negativ als positiv. Wichtig dabei ist: Es geht bei der Gottman-Konstante nicht darum, nach einem Streit fünfmal nett zu sein. Der Ausgleich muss innerhalb des Gesprächs stattfinden, damit es funktioniert.
3. Bei Ikea – warum Stress alles verschärft
Das Paar hat sich bereits während des Einkaufs bei Ikea gezankt. Brauchen wir wirklich noch mehr Teller? Wie kommt man auf direktem Weg zur Bettwäsche? Passt das dunkelgraue oder das beige Sideboard besser zu unseren Möbeln? Nun versuchen die beiden seit einer Stunde, das Sideboard (hellgrau, ein Kompromiss) zusammenzubauen. Die Stimmung ist angespannt, der Boden mit Brettern, Schrauben und Leisten übersät. Irgendwann eskaliert der Konflikt. Sie sagt, er solle doch endlich die Anleitung wirklich lesen. Er antwortet, sie könne ja nicht einmal eine Schraube richtig eindrehen. Als das Regal eine Stunde später endlich steht, ist jede Freude darüber verflogen; die beiden schweigen sich wütend an.
Die amerikanische Komikerin Amy Poehler scherzte einmal, Ikea sei das schwedische Wort für Streit. Häufig beginnt er schon beim Einkauf. Der Rundgang im Möbelhaus führt ein Paar nicht nur an Sofas, Salatschüsseln und Servietten vorbei, sondern auch an ewigen Problemen. Überall kann sich zeigen, wie verschieden man tickt: Soll man schlendern oder gezielt suchen? Sparsam sein oder sich etwas gönnen? Und wer hat eigentlich den besseren Geschmack?
Beim Zusammenbauen verschärft ein weiterer Faktor den Konflikt: Stress. Was wir schon immer wussten, hat kürzlich ein Experiment in Grossbritannien bewiesen: 50 Zweierteams mussten dort je 20 beliebte Ikea-Möbel aufstellen. Die Probanden bekamen dafür ein Zeitlimit, gleichzeitig wurden ihr Puls und ihre Herzfrequenzvarianz gemessen. Obwohl der Versuch nicht ganz ernst gemeint war, zeigten die physiologischen Daten, dass jedes Zusammenschrauben an den Nerven zerrt, wenn auch nicht bei allen Möbeln gleich stark.
Streit und Stress sind eng verbunden, und zwar in beide Richtungen. Einerseits kann ein Konflikt Stress auslösen, wie John Gottman bei seinen verkabelten Paaren entdeckte: Während des Streitens steigt bei manchen Menschen der Blutdruck, das Herz rast, sie beginnen zu schwitzen, und Stresshormone fluten den Körper.
Das ist ein evolutionäres Überlebensprogramm: Wenn wir eine Situation als sehr bedrohlich erleben, bereitet sich unser Körper mit der Fight-or-flight-Reaktion auf Höchstleistungen vor. Wir bekommen einen Tunnelblick, was für einen Kampf oder eine Flucht von Vorteil ist, nicht aber für eine Auseinandersetzung mit dem Menschen, den wir lieben. Denn in diesem Zustand, den Gottman «Überflutung» nannte, ist es fast unmöglich, zuzuhören oder klar zu denken. Stattdessen kann sich die körperliche Anspannung in Wutausbrüchen entladen oder uns versteinern lassen. Das «Mauern», dieser gefährliche Reiter der Apokalypse, ist im Grunde nichts anderes als eine Fluchtreaktion. Wir versuchen, einer Gefahr zu entkommen, indem wir in uns selbst flüchten.
Gottman empfiehlt, einen Streit zu unterbrechen, sobald der Puls eines Partners über 100 steigt. Erst wenn die Überflutung abgeklungen ist, kann man weiterreden. Wie lange das dauert, ist von Mensch zu Mensch verschieden; im Minimum sind es 20 bis 30 Minuten.
Stress demaskiert
Guy Bodenmann hat seine Karriere mit der Untersuchung von Stress begonnen; heute gilt der Zürcher Psychologieprofessor als einer der weltweit einflussreichsten Paarforscher. Er gehört zu der Generation von Wissenschaftern, die durch Gottmans Pionierarbeit inspiriert worden sind; sein Fokus auf den Einfluss von Stress auf die Kommunikation von Paaren war revolutionär. Bodenmann forschte in den 1990er Jahren ein Jahr lang in Gottmans «Love Lab» und baute später an der Universität Zürich sein eigenes auf. Auch Bodenmann verkabelte und filmte Paare; mehr als 2000 hat er bis heute untersucht. Bodenmann ging in seiner Pionierarbeit noch einen Schritt weiter: Er versetzte seine Probanden absichtlich in einen Stresszustand.
Dafür benutzte er unter anderem eine Methode, die weit ausgeklügelter ist als das Zusammenbauen eines Ikea-Möbels: den Trier-Social-Stress-Test. Der Versuchsteilnehmer bereitet zunächst eine kurze Rede vor, mit der er in einem fiktiven Bewerbungsgespräch von sich überzeugen soll. Was er nicht weiss: Sein Gegenüber in diesem Gespräch ist angehalten, während der Rede keine bestätigenden Reaktionen zu zeigen, also weder zu nicken noch zu lächeln, sondern ernst zu blicken.
Das allein erzeugt bei den Probanden Stress. Im Anschluss an diesen entmutigenden Auftritt lässt man sie dann noch beim Vorrechnen scheitern. Sie sollen von 2023 immer wieder 17 abziehen, eine besonders fehleranfällige Aufgabe. Kurzum: Kamen diese Teilnehmer danach zurück zu ihrem Partner, waren sie garantiert frustriert und angespannt.
Bodenmann interessierte sich dafür, wie Paare miteinander umgehen, wenn nur die Frau, nur der Mann oder beide gestresst sind – in der realen Welt zum Beispiel, weil der Chef an diesem Tag ungerecht war oder das Kind besonders nervig. Es zeigte sich: Selbst wenn ein Paar im Normalfall konstruktiv miteinander umgeht – kommt der externe Faktor Stress dazu, bricht die Kommunikation dramatisch ein. Sind beide Partner aufgebracht – so wie beim Ikea-Möbel-Aufbauen –, ist der Austausch um 40 Prozent schlechter.
«Stress demaskiert», sagt Bodenmann. «Wir zeigen dann all unsere negativen Seiten, die wir normalerweise kontrollieren können.» Wer gestresst ist, reagiert intoleranter oder aggressiver, aufbrausender, verschlossener oder egozentrischer als sonst.
Bodenmann hat auch untersucht, wie Paare gemeinsam mit Stress umgehen; zuvor betrachtete man Stress und seine Bewältigung nur als individuelles Phänomen. Interessanterweise zeigten die Stimmfrequenzanalysen aus dem Labor: Besonders ruhig sein hilft nicht. Bleibt die Stimme des nicht gestressten Partners ruhig, fühlt sich der gestresste unverstanden und nicht abgeholt.
Was besser wirkt: Wenn sich der ungestresste Partner zuerst auf das Gefühl des anderen einlässt, ohne sich zu sehr anstecken zu lassen. «Man muss in der Stimme hören: Puh, das ist wirklich schlimm, was du erlebt hast, das geht mir auch nahe», sagt Bodenmann. Erst danach gelingt es, gemeinsam herunterzufahren. Was der Forscher ebenfalls festgestellt hat: Frauen bleiben auch unter Stress hilfreich, gestresste Männer hingegen können ihre Frauen nur schlecht unterstützen.
4. Die Einladung – wie man Bedürfnisse erkennt
Er erzählt ihr freudig, dass er am Samstagabend ein befreundetes Paar eingeladen hat: «Das ist dir doch recht, oder?» Sie: «Wieso fragst du mich nie vorher? Du weisst doch, wie viel Stress ich gerade im Job habe.» Er: «Aber wir haben die beiden schon so lange nicht mehr gesehen. So macht das keinen Spass. Immer willst du allein zu Hause rumhocken.» Sie: «Ich will diesen Samstag keinen Besuch, und damit basta!» Er (äfft sie nach): «Und damit basta, und damit basta! Tolles Argument! Ich soll am Sonntag ja auch zu deinen Eltern mitkommen, obwohl mich das anscheisst.» Sie: «War ja klar, dass das jetzt kommt.» Er: «Wenn ich unseren Freunden absagen muss, lass ich deine Eltern ausfallen. Deine Entscheidung!» Sie: «Mehr als Erpressung fällt dir nicht ein, oder? Hauptsache, du hast gewonnen, es geht ja sowieso immer nur nach dir.» Beim Hinausgehen knallt sie die Tür hinter sich zu.
Warum eskaliert eine Auseinandersetzung zu einem Krach? Weil wir einen Konflikt oft als Kampf betrachten, den es zu gewinnen gilt, und den Partner darin als Gegner. Doch eine Beziehung ist kein Wettstreit, bei dem als Sieger hervorgeht, wer die meisten Runden für sich entscheidet. Wenn einer zu oft gewinnt, verlieren am Schluss beide.
Bei Auseinandersetzungen gehe es in aller Regel um Bedürfnisse, sagt Guy Bodenmann. «Um Grundbedürfnisse nach Zugehörigkeit, Sicherheit, Kontrolle, Anerkennung, Unlustvermeidung – die Liste ist lang.» Es beginnt harmlos: Wir äussern gegenüber dem Partner ein Bedürfnis, hier zum Beispiel den Wunsch, mit Freunden zu sein. Ginge die Partnerin auf die anfangs freundliche Anfrage ein («Ist dir das recht?»), wäre die Situation schon gelöst. Sie aber reagiert widerspenstig, weil sie ein anderes Bedürfnis hat, nämlich jenes nach Erholung.
Jetzt setzt der Mechanismus hinter negativen Konfliktmustern ein: Eigentlich sind die beiden Bedürfnisse ja gleichwertig. Aber statt nach einem Kompromiss zu suchen, baut der Partner Druck auf. Er will sie weichklopfen, um sein Anliegen durchzusetzen, wogegen sie sich wehrt. Im Verlauf des Gesprächs wenden beide dann zunehmend negative Verhaltensweisen an, um den Konflikt zu gewinnen. Er kritisiert sie destruktiv («Immer willst du zu Hause rumhocken»), sie benutzt einen dominanten Befehlston («Ich will keinen Besuch, und damit basta!»), worauf er verächtlich reagiert («Und damit basta, und damit basta!»).
Mit der Dauer der Beziehung schwindet die Motivation
Frischverliebte streiten nicht so. Am Anfang einer Beziehung bezeichnen sich 95 Prozent aller Paare als glücklich. Und solange sich die Partner bei aller Verschiedenheit grossartig finden, gehen sie liebevoll mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Einstellungen um. Schliesslich will jeder, dass es dem anderen gut geht. Noch versteht man sich nicht als Gegner, wenn ein Problem auftaucht. Sondern als Verbündete, die gemeinsam gegen das Problem antreten.
Mit der Zeit schwindet diese Motivation. Man sieht den anderen nun kritischer, und das Ego drängt wieder stärker in den Vordergrund. Schleicht sich nun das Gefühl ein, die eigenen Bedürfnisse kämen zu kurz, beginnen die Machtkämpfe. Man nörgelt, drängt, wird rechthaberisch und versucht, den eigenen Willen durchzusetzen. Das Problem: Negative Konfliktmuster schleifen sich rasch ein. Und je öfter Konflikte entgleist sind, desto stärker erwarten die Partner, dass auch der nächste wieder so verläuft. Ist die Stimmung so negativ aufgeladen, reicht schon ein falsches Wort, damit eine Situation eskaliert.
Oft verschlechtert sich das Streitverhalten aber auch aus einem paradoxen Grund: weil man Streit vermeiden will. Man ärgert sich, schweigt aber, um keine Spannungen aufkommen zu lassen. «Aber der Ärger verschwindet dadurch ja nicht», sagt Bodenmann. «Er staut sich einfach auf.» Nicht zu streiten, ist deshalb ebenso gefährlich wie schlecht zu streiten. Denn je überschaubarer ein Problem ist, desto leichter fällt es, freundlich und humorvoll damit umzugehen. Wartet man aber zu lange, verwandeln sich die kleinen Rinnsale des Ärgers irgendwann in einen reissenden Fluss.
Bodenmanns neues Buch heisst deshalb «Streitet euch!». Müsste er den Inhalt auf drei Botschaften kürzen, dann diese: 1. Störendes soll angesprochen werden. 2. Dies muss frühzeitig geschehen. 3. Es kommt auf die Art und Weise an, wie man dies tut.
Was hätte unser Paar anders machen sollen bei seinem Streit um die Einladung? Ein Trick ist die emotionale Selbstöffnung: herausfinden, warum man in dieser Situation so emotional reagiert – und das auch aussprechen. Statt dem Partner vorzuwerfen, was er falsch macht, sollte man ihm mitteilen, was man fühlt.
In unserem Beispiel könnte er ihr sagen, dass es ihn traurig stimmt, wenn er seine Freunde so lange nicht sieht. Und sie könnte ihm sagen, dass sie erschöpft ist und sich einsam fühlt mit ihrem Stress im Job. Emotionale Selbstöffnung sei oft der Kipppunkt in einem Streit, weil dabei etwas aufbreche, sagt Bodenmann. «Öffnet sich ein Partner und wird er damit weicher, reagiert der andere meist darauf, indem er ebenfalls weicher wird.»
Die Fronten werden dadurch wortwörtlich aufgeweicht. Aus dem Machtkampf, bei dem es nur ums Gewinnen geht, kann so wieder ein Austausch über die Bedürfnisse dahinter werden: Vielleicht kann er die Freunde im Restaurant treffen? Vielleicht verschieben sie die Einladung um eine Woche? Vielleicht stimmt sie der Einladung zu, wenn sie tagsüber genug Zeit für sich hat? Welchen Kompromiss das Paar auch findet: Entscheidend ist, dass sie gemeinsam nach einem suchen, bei dem keiner das Gefühl hat, Verlierer zu sein.
5. Im Alltag – vom Geheimnis der Annäherung
Beide sind im Wohnzimmer am Lesen, er in einem Buch, sie in der NZZ. Sie: «Oh, Peter Bichsel ist gestorben.» Er: «Hab ich gehört, ja.» Sie, zwei Minuten später: «Krass, jetzt streicht die UBS wegen Trump ihr Diversity-Programm.» Er: «Mhmmm, krass.» Sie, zwei Minuten später: «Im Engadin ist ein Flugzeug abgestürzt.» Er: «Mhm!» Sie, zwei Minuten später: «Schau mal, draussen sitzt wieder das Rotkehlchen auf dem Baum.» Er: «Kann ich jetzt endlich eine Seite in Ruhe lesen, wenigstens eine einzige?» Sie schweigt und schmollt.
Auch wenn es in diesem Artikel bisher um Streit ging: Es sind nicht die Konflikte, die das Leben eines Paares prägen. Es ist die Zeit dazwischen. Ob sich ein Paar nahe bleibt, entscheidet sich im Alltag. Zum Beispiel mit der Reaktion auf winzige Annäherungsversuche, die der Paarforscher John Gottman «Bitten um Verbindung» nannte. Ob man dem Partner etwas aus der Zeitung vorliest, ihn auf einen Vogel aufmerksam macht oder ihm ein Bild auf dem Handy zeigen will: Das Ziel ist immer, Nähe herzustellen.
Nun gibt es drei Möglichkeiten, auf eine solche Bitte um Verbindung zu reagieren. Man kann sich dem Partner zuwenden und den Moment teilen. Man kann sich abwenden und ihn ignorieren («Mhmmm»). Oder man kann sich gegen ihn wenden und ihn anklagen («Kann ich nicht mal in Ruhe eine Seite lesen!»). Wie ein Paar mit diesen vielen flüchtigen Momenten umgeht, sagt laut Gottman ebenso viel über seine Zukunft aus wie das Streitverhalten.
Gottman entdeckte die winzigen Annäherungsversuche nicht in seinem Streitlabor, dafür waren die 15 Minuten viel zu kurz. Um Paare länger und unter weniger aussergewöhnlichen Bedingungen zu beobachten, richtete er in Seattle eine Wohnung als eine Art Langzeitlabor ein. Dort verbrachten die Liebenden 24 Stunden Zweisamkeit, ganz so, als wären sie in einem netten Bed and Breakfast.
Es gab allerdings einen entscheidenden Unterschied: In diesem Bed and Breakfast waren Mikrofone und Kameras angebracht, die Liebenden trugen Sensoren an der Brust, und man untersuchte ihren Urin auf Stresshormone. Und was auch immer die beiden in diesen 24 Stunden taten: Es wurde von Gottman und seinen Mitarbeitern aufgezeichnet und codiert.
Wieder suchte Gottman in den Daten nach Mustern, und sechs Jahre später zeigte sich: Die Paare, die glücklich geblieben waren, hatten in den 24 Stunden Zweisamkeit viel häufiger mit Zuwendung auf Annäherungsversuche des Partners reagiert; im Schnitt bei 86 Prozent. Die Paare, die sich trennten, wiesen zwei von drei Annäherungsversuchen ab.
Um zu erklären, warum die Reaktion auf Annäherungsversuche so entscheidend ist, benutzte Gottman das Bild einer Bank. Jedes Mal, wenn einer der beiden Partner mit Zuwendung reagiert, zahlt er damit auf eine Art emotionales Beziehungskonto ein. Ist dieses Konto gut gefüllt, rutscht es auch durch einen Konflikt nicht ins Minus. Beide Partner wissen: Es ist genug Liebe da, um diesen Streit zu verkraften. Ist das Konto hingegen leer oder gar in den roten Zahlen, kann sich die kleinste Meinungsverschiedenheit zu einem hässlichen Kampf auswachsen, aus dem die Partner erschöpft und resigniert hervorgehen.
Die unspektakuläre Paarzeit
Auch der Zürcher Paarforscher Guy Bodenmann widmet sich gerade dem vermeintlich Unspektakulären. Was sagt ein Paar morgens beim Aufstehen zueinander, worüber spricht es beim Frühstück, auf welche Weise verabschiedet es sich, wie begrüsst es sich am Abend: Solche Alltagsgespräche seien kaum erforscht, sagt er. Dabei nehmen sie 80 Prozent der Zeit ein, in der Paare miteinander reden. Konflikt- und Coping-Gespräche, also solche, bei denen der eine Partner den anderen unterstützt, kommen nur auf je 10 Prozent.
Bodenmann hat an der Universität Zürich ein wissenschaftliches Programm namens Paarlife entwickelt, mit dem man Paare in Workshops oder Trainings stärken will. Sie sollen lernen, Konflikte konstruktiv anzugehen, Probleme gemeinsam zu lösen und Stress besser als Team zu bewältigen. Aber es gibt noch einen weiteren Bereich, in den das Paar investieren kann: in die Positivität im Alltag, wie es im Jargon heisst. Man übt, netter zueinander zu sein. Das bedeutet Interesse zeigen, zuhören, nachfragen, dem anderen eine Freude machen und ihn einfach wieder mehr so zu betrachten, wie man ihn zu Beginn der Beziehung gesehen hat: als Geschenk und nicht als Selbstverständlichkeit.
Natürlich sei es ideal, wenn ein Paar in allen Bereichen Fortschritte mache, sagt Bodenmann. Allerdings gibt es auch Paare, die richtig schlimm streiten und das einfach nicht besser hinkriegen. Dafür fühlen sie sich in den restlichen 90 Prozent ihrer Zeit miteinander wohl. Auch das kann reichen, um nicht eines Tages zu scheitern, am Abwasch oder am Aufbau eines Ikea-Möbels.