Freitag, April 25

Demografie-Forscher sehen die Gefahr, dass wir nicht mehr genügend Arbeitskräfte finden. Diese werden in ganz Europa knapp. Zahlt die Schweiz anderen Ländern bald Ablösegelder, um Migranten anwerben zu können?

Die Stimmung ist gekippt: In der Schweiz beurteilen mittlerweile breite Bevölkerungsschichten die Zuwanderung kritisch. Das ist selbst dem führenden Wirtschaftsdachverband aufgefallen, der nicht im Ruf steht, ein grosses Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen zu haben.

Economiesuisse hat sich jetzt offensichtlich vorgenommen, entsprechende Ängste anzusprechen. «Wenn 100 000 Personen pro Jahr in die Schweiz ziehen, übersteigt das über die Zeit die Akzeptanz in der Bevölkerung und die Integrationsfähigkeit des Landes», sagte diese Woche Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder im Interview mit den Tamedia-Zeitungen. Es gebe einen Konsens im Land, «dass wir einen Schutz gegen eine zu hohe Zuwanderung brauchen».

Auch in der Wissenschaft ist es nicht länger verpönt, Flagge zu zeigen. In einer neuen Übersichtsstudie zur Arbeitsmigration des Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik der Universität Luzern (IWP) schwingt viel Skepsis mit. Zweifel daran, ob die Nettozuwanderung von 1,2 Millionen Menschen seit Einführung der Personenfreizügigkeit unter dem Strich wirklich ein Segen ist. «Es versteht sich von selbst, dass der Nutzen der Zuwanderung für rekrutierende Firmen und rekrutierte Zuwanderer die Kosten überwiegt. Ob dies für den Staat und die Gesellschaft insgesamt ebenfalls zutrifft, ist dagegen offen», so die Studienautoren.

Kurz: Wenn es derzeit ein politisches Unwort gibt, dann heisst es 10-Millionen-Schweiz. Ein Ausdruck, der sich auf Wohnungsnot, zubetonierte Wiesen und Dichtestress reimt.

Es ist allerdings möglich, dass die 10-Millionen-Schweiz bereits in wenigen Jahren ein erstrebenswertes, aber unerreichbares Ziel sein wird. Diese Ansicht vertritt zumindest Hendrik Budliger, Chef der Firma Demografik. Sie führt Studien für öffentliche und private Auftraggeber zum Thema Alterung durch.

Bald zu wenig Migranten

«Die heutigen Diskussionen über die 10-Millionen-Schweiz greifen aus meiner Sicht zu kurz und werden zu einseitig geführt», sagt Budliger. «Ich sehe es im Gegenteil als grosses Risiko an, dass die Schweiz in Zukunft nicht genügend Migranten anziehen kann.» Es dürfte sehr schwierig werden, in den Nachbarländern Arbeitskräfte zu finden, weil dort die Bevölkerung im erwerbstätigen Alter stark rückläufig ist.

Gemäss dem mittleren Szenario der Uno wird die Zahl der Menschen im Alter, in dem man für gewöhnlich arbeitet, bedrohlich zurückgehen. Bis 2050 sollen allein in den Nachbarländern Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich 21 Millionen Menschen weniger leben, die anpacken können.

Europa sieht alt aus

Entwicklung der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 2023 bis 2050 in Millionen

Besonders düster ist die Lage in Deutschland und Italien, in denen Schweizer Arbeitgeber traditionell viele Arbeitskräfte anwerben. Derweil bleibt der Nachschub an eigenen Babys bekanntlich aus: Wie alle reichen Länder hat die Schweiz das Kinderkriegen outgesourct. Schweizerinnen gebären im Schnitt noch 1,29 Kinder, Ausländerinnen, die hier wohnen, immerhin 1,69 Kinder. Um die Bevölkerung konstant zu halten, braucht es 2,1 Kinder pro Frau.

«Wenn wir nicht zur 10-Millionen-Schweiz werden, schrumpft bei uns die Arbeitsbevölkerung ebenfalls, und wir müssen ausgerechnet in einer Zeit von sinkenden Steuereinnahmen erhebliche Mehrausgaben für die Alterung schultern», sagt Budliger. Das mittlere Szenario der Bevölkerungsentwicklung sagt zwar ein Wachstum der Gesamtbevölkerung bis 2040 um 12 Prozent auf 10 Millionen voraus. Doch die Bevölkerung im erwerbstätigen Alter würde bei diesem Szenario nur um 4 Prozent zunehmen. Und es sind vor allem diese Menschen, die für AHV, Infrastruktur oder Pflegeheime aufkommen.

Kostenschub durch die Alterung

Die demografischen Kosten steigen in den kommenden Jahrzehnten stark an. Das kann man im gerade veröffentlichten Bericht «Langfristperspektiven der öffentlichen Finanzen der Schweiz» nachlesen. Dort fallen zwei Dinge auf: Erstens nimmt es das Departement von Finanzministerin Karin Keller-Sutter als gegeben an, dass die Erwerbsbevölkerung in der Schweiz weiter wachsen wird – während sich Demografie-Experten fragen, wo genau diese Arbeitskräfte herkommen sollen.

Zweitens geht der Bericht davon aus, dass die alterungsabhängigen Ausgaben erheblich steigen werden. Heutige Leistungsansprüche müssten künftig durch höhere Steuern, Sozialversicherungsbeträge oder Einsparungen finanziert werden. «Wird darauf verzichtet, das finanzielle Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben herzustellen, würden die Bruttoschulden des Staats gemessen am BIP zwischen 2021 und 2060 im Basisszenario von rund 27 Prozent auf 48 Prozent ansteigen.»

Wenn die Schweiz Glück hat, kann sie diese Mehrkosten auf gleich viele Schultern verteilen wie heute. Länder wie Deutschland, Italien oder Spanien hingegen steuern auf eine sehr ungewisse Zukunft zu: Dort drohen ganze Landstriche zu veröden, das Angebot an 1-Euro-Häusern, mit dem etwa Italien schon heute junge Immigranten in aussterbende Regionen zu locken versucht, dürfte rasch steigen.

Risiken sind kaum abschätzbar

«Wir haben in der Vergangenheit immer nur eine wachsende Bevölkerung gekannt, darum können wir die kommenden demografischen Risiken gar noch nicht richtig abschätzen», sagt Budliger. «Was zum Beispiel passiert, wenn die Steuererträge einbrechen, Immobilien ihren Wert verlieren, die Infrastruktur nicht mehr unterhalten werden kann oder die Anzahl von Pflegetagen massiv zunimmt.»

Gefährdet sehen Experten insbesondere den Wirtschaftsmotor Europas: «Deutschland ist in einer sehr schwierigen Lage», sagt Uwe Sunde, der am Institut für Volkswirtschaftslehre der Universität München lehrt: «Die Kohorte der Babyboomer ist besonders gross. Und der Anstieg im Bildungsniveau der Jungen, die im Arbeitsmarkt nachrücken, ist nicht so dramatisch, dass sie das wesentlich produktiver machen würde als jene, die nun nach und nach pensioniert werden.»

Bemerkenswert ist, wie wenig Beachtung diesen Entwicklungen geschenkt wird. Dabei gelten demografische Voraussagen im Gegensatz zu vielen anderen Langfristprognosen als sehr zuverlässig. «Kaum eine Entwicklung ist besser vorhersehbar als die Alterung unserer Gesellschaft. Gerade die demografischen Prognosen für Industrieländer sind ziemlich belastbar», sagt Sunde. Und wie beim Klimawandel werden die Konsequenzen für Gesellschaft und Wirtschaft sehr einschneidend sein.

Desinteressierte Politik

«Ich finde es daher äusserst frustrierend, dass die Politik das Thema Demografie fast komplett ausblendet», beklagt Sunde. «Während man bei der Klimapolitik den Schwarzen Peter anderen zuschieben kann, ist die Bewältigung des demografischen Wandels primär Sache des Nationalstaates. Und dieser schaut noch immer weg.»

Auch in der Schweiz gibt es vergleichsweise wenige, die sich von Berufes wegen mit dem Thema Alterung befassen: Das World Demographic & Ageing Forum an der Universität St. Gallen wirbt schon seit einigen Jahren für «ein weitsichtiges Risikomanagement» – ohne damit eine grosse Resonanz auszulösen.

Die fehlende öffentliche Diskussion führt zu einer bizarren Parallelität von Realitäten. Während Politiker ihre Wähler vor Immigration schützen wollen, beschäftigen sich Demografie-Experten mit dem gegenteiligen Szenario. Für sie ist klar, dass Europa, das in den kommenden Jahrzehnten 75 Millionen Arbeitskräfte verlieren wird, schon bald händeringend um junge Migranten werben muss. In Ländern wie Nigeria, Pakistan oder Indien.

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